Ein Gastbeitrag von Christian Osthold
Dass sich Staaten mit Großmachtsambitionen zur Erreichung ihrer Ziele grundsätzlich auch unredlicher Mittel bedienen, dürfte eine Binsenweisheit sein. Insofern ist wenig überraschend, dass dieser Grundsatz gleichermaßen auf alle Protagonisten der Weltpolitik zutrifft. Warum aber reagiert die internationale Öffentlichkeit besonders empört, wenn es um Moskau geht? Waren es nicht die USA, die ihre Invasion(en) des Irak auf erfundene Beweise stützten und damit eine ganze Weltregion in Brand steckten? Die Antwort liegt weniger in der Unschuld anderer Länder als vielmehr in der genuinen Perfidie russischer Fake News.
Der 12. August 2000 ist ein Datum, das als Katastrophe in die russische Geschichte eingegangen ist. An jenem Tag kam es auf dem Atom-U-Boot „Kursk“ während eines Manövers in der Barentssee zu einer Explosion. Während 95 Matrosen sofort tot waren, hatten sich 23 von ihnen zunächst in einen unbeschädigten Teil des havarierten Unterseeschiffs zurückziehen können. Wenige Stunden später notierte der überlebende Seemann Kolesnikow in völliger Dunkelheit, man werde trotz der Aussichtslosigkeit nicht verzweifeln. Als wenig später ein Feuer an Bord ausbrach, starben Kolesnikow und seine Kameraden. Der Tod dieser Männer, die auf Rettung hoffend erstickten, ist zum Sinnbild eines Systems geworden, deren Eliten das Leben der eigenen Leute nichts bedeutet. Die Versuche des Kremls, die Tragödie zu vertuschen, lösten einen Skandal aus (Anm. d. Red.: Einer wütenden Mutter eines verunglückten Matrosen setzte man ungefragt vor laufender Kamera eine Beruhigungsspritze).
Stolz und Lüge
Nach der Explosion versuchte die russische Marine zunächst, die „Kursk“ zu bergen. In Ermangelung der hierfür notwendigen technischen Ausrüstung schlug dies jedoch fehl. Als Norwegen sodann seine Hilfe anbot, lehnte Moskau ab und spielte den Vorfall herunter. Ein Unfall wurde kategorisch geleugnet. Stattdessen behauptete man, ein amerikanisches U-Boot habe die Kursk gerammt. Als eine Nachrichtensprecherin den damaligen Flottensprecher Igor Dygalo in einer Live-Sendung fragte, wie lange der Sauerstoff an Bord für die Besatzung noch reiche, hielt dieser eine Ikone in die Kamera und forderte die Zuschauer zum Beten auf.
Am 23. August 2000 erklärte Präsident Putin in einem TV-Interview, man habe zunächst nichts von einem Unfall mitbekommen, sondern lediglich die Verbindung zur „Kursk“ verloren. Darüber sei er vom Verteidigungsminister informiert worden. Diese Version wurde am 2. September 2000 vom Fernsehjournalisten Sergej Dorenko öffentlich als Lüge entlarvt. In seiner Sendung auf dem Kanal ORT wies Dorenko nach, dass das Verteidigungsministerium umgehend zwei Explosionen auf der „Kursk“ registriert hatte. Die Erschütterungen seien ferner auch von Messstationen auf Alaska registriert worden. Damit war zweierlei klar: Das Prestige der Marine hatte für die Regierung einen höheren Stellenwert als das Leben der Besatzung und Präsident Putin hatte öffentlich gelogen.
Russland lässt seine Patrioten zurück
Dass ein Journalist die Lügen der Regierung damals öffentlich kritisierte, lag daran, dass die russischen Medien im ersten Jahr von Putins Präsidentschaft noch frei berichten konnten. Der Einfluss des Kremls auf die bedeutenden Fernsehsender des Landes war allerdings bereits spürbar geworden. Erst am 14. April 2000 hatte Gazprom 49 Prozent von NTW übernommen und damit einen der einflussreichsten TV-Sender unter seine Kontrolle gebracht. Tatsächlich wurde Dorenkos Sendung nach dem 2. September 2000 abgesetzt. Diese Maßnahme war damit ein Vorbote jener späteren Gleichschaltung der Medien, deren Auswirkungen wir heute am Beispiel des Ukraine-Krieges sehen.
Der Untergang der „Kursk“ und die frappierende Gleichgültigkeit, die ihm die russische Regierung entgegenbrachte, sind im Westen unvorstellbar. Während die Amerikaner versuchen, grundsätzlich niemanden zurückzulassen, ist das Leben der eigenen Leute in Russland traditionsgemäß wenig wert. Als Wladimir Putin am 8. September 2000 bei Larry King im Studio von CNN zu den Hintergründen des Untergangs befragt wurde, entgegnete er zynisch grinsend: „Sie [die Kursk] ist untergegangen.“ Da Putin zu diesem Zeitpunkt gerade einmal ein halbes Jahr russischer Präsident war, maß man diesen Worten nicht jene Bedeutung bei, die sie tatsächlich hatten. Aus heutiger Perspektive hingegen lässt sich sagen, dass Putin damals zum ersten Mal sein wahres Gesicht zeigte – das Antlitz eines kühl berechnenden Intellekts, den das Schicksal anderer Menschen völlig kalt lässt.
Tschetschenien-Krieg
Der Untergang der „Kursk“ war allerdings nicht der einzige tödliche Vorfall, bei dem die Darstellung der russischen Regierung Fragen aufwarf. Die Sprengungen mehrerer Wohnhäuser, die sich im August 1999 in Moskau, Buinaksk und Wolgodonsk ereigneten, wurden nie unabhängig untersucht, wohl aber umgehend tschetschenischen Terroristen angelastet – und zum Anlass für eine erneute Militärintervention herangezogen. Die russische Öffentlichkeit begrüßte diesen Schritt, weil es 367 Todesopfer und mehr als 1.000 Verletzte gegeben hatte.
Der im Londoner Exil lebende ehemalige FSB-Offizier Alexander Litwinenko bezeichnete die Anschläge später als Komplott des Geheimdienstes und veröffentlichte seine Erkenntnisse 2002 in dem Buch „Blowing up Russia – The Secret FSB Plot, that delivered Russia to Putin“. Vier Jahre später wurde er mit Polonium 210 vergiftet und starb. Der Kreml hingegen bezeichnete Litwinenko als unbedeutenden Wicht. Bis heute gibt es in Russland Analysten, die die offizielle Lesart der Regierung in Zweifel ziehen. Äußern können sie ihre Bedenken allerdings nur noch hinter vorgehaltener Hand. Zu groß ist die Sorge, ins Fadenkreuz der Behörden zu geraten.
Diffamierung ganzer Völker
Welche Mittel der Kreml seit August 1999 zur Durchsetzung seiner Ziele im Nordkaukasus einsetzte, ist im Westen kaum bekannt. Die als „Zweiter Tschetschenienkrieg“ bezeichneten Operationen waren Ausdruck derselben Haltung, die auch heute in der Ukraine aufscheint. Und sie trugen bereits die unverkennbare Handschrift Wladimir Putins, der bis zum 9. August 1999 Chef des FSB gewesen war. Ihre Logik basierte darauf, die Bevölkerung mit Einheiten von Geheimdienst und Sonderpolizei zu terrorisieren. Entführungen und Morde waren an der Tagesordnung. Das dadurch geschürte Klima der Angst wirkte erstickend.
Schließlich wurde die gesamte wehrfähige Bevölkerung als Partisanen betrachtet, ganze Dörfer wie der Ort „Komsomol’skoje“ vernichtetet. Jene, die nicht bei den Kämpfen starben, wurden in Lagern gehalten und kehrten teilweise nie zurück. Im Rückblick auf die Tschetschenienkriege, die letztlich zur Errichtung einer von kooptierten Eliten getragenen Gewaltherrschaft führten, drängen sich frappierende Parallelen zum Krieg in der Ukraine auf. Auch ihre Bevölkerung ist pauschal diffamiert worden: Und zwar als Nazis, die Russland zerstören wollen. Und wie in Tschetschenien lässt die staatliche Propaganda unermüdlich neue Trommelfeuer auf die Menschen herabregnen, die die zynische Erzählung von einer „Militäroperation“ vielfach kritiklos übernommen haben.
Verschwunden im Keller
Wenn russische Soldaten wie in Butscha auf offener Straße Zivilisten erschießen und in Kellern zu Tode foltern, dann agieren sie damit nach jenem verbrecherischen Drehbuch, das Moskau in Tschetschenien geschrieben hat (Anm. d. Red.: Berüchtigt waren auch die Keller des sowjetischen NKWD, wo z.B. während des Massakers von Katyn polnische Gefangene hingerichtet wurden). Und wenn der Kreml erklärt, die Ukrainer seien für diese Verbrechen verantwortlich, dann handelt er wie unter der Ägide des Massenmörders Stalin.
Auch dieser hatte sich zu keiner Zeit um das Leben der Menschen unter seiner Herrschaft geschert. Dies illustriert beispielweise der Stawka-Befehl Nr. 0428 vom 17. November 1941. Demnach sollten alle Ortschaften und Städte vernichtet werden, die im Umkreis von 60 Kilometern hinter der Hauptkampflinie sowie 30 Kilometer entlang der dortigen Straßen lagen. Während Artillerie und Luftwaffe den Auftrag hatten, diese Ziele durch forcierten Beschuss dem Erdboden gleichzumachen, sollten spezielle „Jagdkommandos“ den Rest erledigen. Da sich in den betreffenden Orten jedoch keineswegs nur deutsche Soldaten befanden, kamen bei den gegen sie gerichteten Angriffen tausende Sowjetbürger ums Leben. Für den Kreml waren diese Verluste genauso bedeutungslos wie jene heute in der Ukraine. Damals wie heute heiligte der Zweck jedes Mittel – auch wenn dies die Vertreibung ganzer Volksgruppen bedeutete.
Nach dem Ende des Kommunismus geht es weiter
Wladimir Putin hat mehrfach deutlich gemacht, dass der ukrainische Staat für ihn nichts anderes ist als eine lebensunwürdige Missgeburt. Und dass eine genuin ukrainische Nationalidentität das Werk von Nazis ist. Auch wenn manche der vorgenannten Beispiele weit in der Vergangenheit liegen mögen: Die Kontinuität der ihnen zugrunde liegenden Menschenverachtung setzt sich bis heute fort und kommt nun in der Ukraine zum Vorschein. So ist wenig überraschend, dass auch der Krieg gegen Kiew auf Lügen basiert. Und dass der russische Generalstab zur Durchsetzung seiner Ziele auf dieselben Methoden zurückgreift wie Stalin, zeigt, dass die Verachtung des menschlichen Lebens in Russland die Zeiten überdauert hat.
Entgegen der Hoffnung zahlreicher Beobachter ist sie dort mitnichten nur mit dem Sozialismus verknüpft. Stattdessen ist sie in Russland seit jeher ein integraler Bestandteil vom Herrschaftsverständnis der Machteliten. Eine Niederlage Kiews würde daher Millionen Menschen einem System ausliefern, das dazu fähig ist, die Erinnerungen an die dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts wieder aufleben zu lassen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf achgut.com. Ich danke den Kollegen um Henryk M. Broder und Dirk Maxeiner dort herzlich für die freundliche Freigabe – und ihren klaren Kompass in diesen wirren Zeiten.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Christian Osthold ist Historiker und hat in russischer Geschichte promoviert. Seit 2001 hat er Russland mehr als 30 Mal bereist sowie Archivaufenthalte in Moskau und Grosny absolviert. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten hat Osthold 2015 als einziger deutscher Historiker für mehrere Monate in einem tschetschenischen Dorf gelebt. Aus dieser Tätigkeit ist 2019 die erste vollumfängliche Gesamtdarstellung zum Tschetschenien-Konflikt hervorgegangen. Als intimer Russlandkenner schreibt Osthold für verschiedene Zeitungen und Journale, darunter Focus Online, NZZ, Cicero etc. Darüber hinaus ist er regelmäßig in Fernsehsendungen zu sehen, zuletzt bei der Deutschen Welle. Christian Osthold spricht fließend Russisch und ist mit einer Russin verheiratet.
Bild: Screenshot YoutubeText: Gast
Mehr zum Thema auf reitschuster.de