Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen
Wie üblich lasse ich mir die Live-Streams von Boris Reitschuster auch an diesem Samstag, den 28. August, nicht entgehen. Sie sind informativ und haben Unterhaltungswert, den man woanders kaum noch findet.
Vielleicht fand man ihn bei den „Gelbwesten“ in Frankreich, die sich von der französischen Corona-Diktatur in Verbindung mit exzessiven Polizeieinsätzen noch nicht wieder erholt haben. Einer ihrer prominentesten Berichterstatter ist Jerome Rodriguez, welcher, bei einer Demonstration, von einer Schockgranate der Polizei getroffen wurde und dabei ein Auge verlor. Zum Glück ist Reitschuster das nicht passiert und überhaupt hatte er heute nur einen Rollerunfall, nach dem er noch weiter filmen konnte.
Jerome Rodriguez jedenfalls war als Auge der „Gilets Jaunes“ nicht minder bekannt und beliebt als Boris Reitschuster, der darüber hinaus noch ziemlich gut reden kann, sogar bei Rollerfahrten durch Berlin. Er wird mindestens genauso häufig angesprochen wie sein französisches Pendant, wenn man es einfach mal so darstellen darf, und vergisst darüber auch mal den Straßenverkehr.
Nicht ganz ungefährlich.
Eine Frau ruft ihm zu: „Danke, dass es Sie gibt. Sie sind mein Schatz, aber das wissen Sie ja!“ Man fragt sich natürlich, woher der Journalist das wissen soll.
Aber Schwamm drüber.
Die Gemeinschaft der Demonstranten, auch das darf man so nennen und eine Anspielung auf die Gelbwesten in Frankreich damit verbinden, diese Gemeinschaft wirkt familiär und gewaltlos.
Regenbogenfarben und eine Deutschlandfahne, ab und zu mal ein paar Friedenstauben. Entweder unser Journalist, der auch schon eine Symbolfigur geworden ist, zeigt sich völlig untalentiert, Neonazis zu treffen, oder es gibt eben keine auf dieser Demonstration. Ich tippe auf Letzteres.
Das passt abermals nicht in das Bild, das Politik und Medien von den Corona-Maßnahmen-Kritikern zeichnen möchten. Die Demonstranten, die heute, verbotenerweise, zu Tausenden in Berlin unterwegs waren, lassen sich verhältnismäßig leicht identifizieren. Es sind eher gebildete, eher ältere und eher unabhängige Menschen, die keiner Ideologie anhängen.
Ideologiefreier Nonkonformismus als Tatbestand der Staatszersetzung?
Das ist allerdings ein Knackpunkt, mit dem sich die Demonstranten in Deutschland 2021 verdächtig machen. Die Republik ist nämlich vermachtet und die Lager, die die Politiker unter sich aufgeteilt haben, einschließlich ihrer Medien, sind ideologisch extrem aufgeladen.
In Deutschland soll es wohl keine ideologiefreien Räume mehr geben, womit die Menschen heute, die ich eher als Selbstdenker denn als Querdenker bezeichnen würde, zwischen allen Stühlen gelandet sind. Zumindest medial, denn vermutlich stellen sie die Mehrheit in der Bevölkerung dar.
Wer Ideologien ablehnt, will sich nicht einsortieren lassen, ist nicht bereit, sich in den Dienst einer gesellschaftlichen Macht zu stellen, und macht sich dadurch verdächtig. Denn jede Ideologie hat als Leitsatz: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Ideologien dulden keine unabhängigen Meinungen.
Die Nonkonformisten waren schon immer die ersten Opfer jeder Diktatur, natürlich auch der Corona-Diktatur, die mit der Verlängerung der „Notlage nationaler Tragweite“ in dieser Woche im Bundestag in die nächste Runde geht. Diesmal gegen alle Stimmen der Opposition, die sich irgendwie nicht geweigert hat, mit der AfD zu stimmen, was ideologisch nicht durchdacht wirkt. Vermutlich gilt die parlamentarische Ausgrenzung der AfD nur, wenn man mit ihr für etwas stimmt, was als Hochverrat gilt, aber nicht, wenn man, gemeinsam mit ihr, gegen etwas stimmt.
Man erkennt hier deutlich die formal-logischen Grenzen ideologischen Machtdenkens.
Zurück zu den Selbstdenkern
Wer also ideologiefrei und nonkonformistisch durch die Berliner Straßen zieht, kein einziges Mal „Nieder mit dem Kapital!“ ruft oder „Deutschland den Deutschen!“, kann nur etwas sehr Böses im Sinn haben, nämlich die Auflösung der ideologischen Blöcke in unserem Land.
Damit wird versucht, die Politik auf breiter Ebene zu „de-legitimieren“ und den Staat gleich mit.
Dies führt unweigerlich zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Der Begriff der Delegitimierung des Staates, den auch der Verfassungsschutz jetzt benutzt, ist dabei so neu, dass mein Office-Programm ihn als Schreibfehler rot unterstreicht. Delegitimierung kennt mein „Word“ noch nicht. Das Wort muss gerade erst erfunden worden sein.
Ein recht absurder Begriff, weil die Politik und der Staat sich in jeder Demokratie legitimieren müssen und es eine De-Legitimierung eigentlich nicht geben kann. Entweder sie sind legitimiert oder nicht. Genau das ist aber bei den massiven Grundrechtsverstößen, die wir in den letzten zwei Jahren gesehen haben, der Kern des Problems. Die Regierungen in Deutschland haben ihren legitimen Handlungsrahmen verlassen und das Grundgesetz exzessiv gebeugt und sie tun das noch.
Der Bundesverfassungsschutz beobachtet nun nicht die Verfassungsbrecher, sondern diejenigen, die sich darüber beschweren und heute auf den Berliner Straßen unterwegs waren.
Der verbotene Demonstrationszug, an dem mehrere tausend Teilnehmer teilnahmen, allein zehntausend Zuschauer in Boris Reitschusters Live-Stream, mich eingeschlossen, wurde über längere Zeit von der Polizei nicht einmal entdeckt. Aber er war nicht nur virtuell, sondern ganz real und massenhaft in Berlin unterwegs.
Nur zehn versprengte Polizisten begleiteten anfangs den Zug. Was Reitschuster natürlich kommentierte. „Man will wie in einem autoritären Staat agieren, aber man ist offensichtlich nicht dazu in der Lage.“ Über längere Zeit sind auch keine anderen Journalisten zu sehen.
An der Lessingbrücke eine Polizeisperre mit zwei Dutzend Polizisten. Es wird nicht deeskaliert, es gibt Widerstand und Pfefferspray, als die Demonstranten durchwollen.
Die Demonstranten rufen: „Die Mauer muss weg!“ Das klingt irgendwie rührend und ist tatsächlich vollkommen ideologiefrei, denn gemeint ist die Polizei-Mauer, die ziemlich dünn ist.
Eine amerikanische Demonstrantin spricht Boris Reitschuster an und bekräftigt, dass er auch in Amerika gelesen wird.
Ältere Polizisten beklagen sich, laut Reitschuster, darüber, dass der Nachwuchs stark gegen die Demonstranten aufgehetzt und ideologisch eingeschworen wird. Entsprechend regierungshörig sind diese jungen Beamten der Generation Z, bei der bisher nicht viel politische Eigenständigkeit zu entdecken war (Ergänzung des Autors). Die Generation Z braucht wie keine andere Generation vor ihr Führung, lernt man in Managerseminaren, an denen ich teilnehmen durfte, sie ist stark auf Lob und Anerkennung angewiesen.
Na dann
Vielleicht sind deshalb heute ältere Leute auf der Straße, außerdem auffällig viele jüngere Blondinen, die vielleicht noch nicht gemerkt haben, dass sie zur Generation Z gehören.
Polizeisirenen im Live-Stream und draußen auf der Straße. Eigentlich bin ich wirklich dabei, obwohl ich mir das Knie verdreht habe und nicht dabei sein kann. Das Fenster ist jedenfalls offen. Ich kann kaum unterscheiden, ob die Sirenen gerade virtuell oder real vorbeifahren.
Erneut eine Polizeikette an der Verlängerung Alt-Moabit vor dem Tiergarten. Sprechchöre und kleine La-Ola-Wellen, die „Boris, Boris“ rufen. Dem Star-Reporter ist das erkennbar peinlich, er versucht das Ereignis nicht zu erwähnen, nur sein Handy hält es zwangsläufig fest.
Am Potsdamer Platz ein paar Typen mit Glatze, vermutlich von einem türkischen Kampfsportklub. Sie tragen, in der locker gestrickten Menge, schwarze FFP2-Masken, schreien „Masken auf!“ und „Nazis raus!“. Vermutlich hoffen sie auf ein kleines Handgemenge, bei dem sie ihren Kampfsport-Stil zeigen können. Wahrscheinlich aber Provokateure des „Geisel-Regimes“, das man inzwischen wohl so nennen kann.
Denn der Innensenator spielt Diktatur und verbietet Demos im großen Stil, seitdem er letztes Mal vor Gericht Recht bekam. Vor einem Jahr war das noch nicht der Fall und seine Verbote wurden gerichtlich wieder aufgehoben. Jetzt sieht er sich im Recht und errichtet sein Regime gegen die Nonkonformisten und Selbstdenker in Polizeistaats-Manier. Das zeigt, wie gering die Demokratie-Adhärenz mancher Politiker und der rot-rot-grünen Regierung in Berlin ist.
Oh, war das jetzt eine „Delegitimierung“ der Berliner Regierung?
„Hier bin ich, Verfassungsschutz! Beobachte mich. Ich möchte auch dabei sein!“
Der Bericht endete übrigens mit einem längeren Tonausfall. Man konnte so die Rollerfahrt von Boris Reitschuster durch Berlin-Mitte in Ruhe genießen. An den Ampeln gab es jeweils freundliche Begrüßungen durch Passanten, die wohl alle Demonstranten waren, jedenfalls kannten sie ihn. Ansonsten passierte nichts Dramatisches. Erst am Potsdamer Platz dann dieser Zwischenfall mit den Provokateuren, die sich wohl gern geprügelt hätten. Aber es fand sich niemand für sie.
Die Selbstdenkerbewegung ist einfach zu friedlich und die Blondinen tun das ihre, um die Lage zu beruhigen. Sie lächeln freundlich oder sehen gequält aus. Beides nicht sehr aggressionsträchtig.
Bleibt als Letztes die Frage, die ich mir seitdem stelle, ob man einen „gereizten Staat“ durch Lächeln beruhigen kann?
Vielleicht.
Aber auch einen ideologisch-autoritären Staat?
Vermutlich nicht, wie wir aus Erfahrung wissen.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: privatText: Gast
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