Von Vera Lengsfeld
Dreißig Jahre nach der »Friedlichen Revolution« und der folgenden Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten beginnt die von der ehemaligen IM Victoria (Inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit der DDR) geleitete Amadeu Antonio Stiftung mit der Umschreibung der Geschichte.
Den Startschuss dazu gab IM Victoria, die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, anlässlich des diesjährigen Jahrestages der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Die reichlich fließenden staatlichen Subventionen werden dazu benutzt, eine neue Geschichtslegende aufzubauen. Die Friedliche Revolution soll nicht so friedlich gewesen sein, sondern im Keim Rassismus und Gewalt gegen Vertragsarbeiter der DDR in sich getragen haben:
Kahane in einem Editorial: „Diese Gewalt kam aus dem Bauch der DDR-Gesellschaft, aus der in den 1980er Jahren auch ein veritabler Rechtsextremismus entstanden war. Die DDR hatte sich nicht dem Erbe des Nationalsozialismus gestellt. Und so überwinterten Rassismus und Antisemitismus. Der Bodensatz blieb trotz des erklärten Antifaschismus unangetastet. Und als die Mauer weg war und die staatliche Kontrolle über die öffentliche Meinung verschwunden, brach sich die rassistische Gewalt Bahn. Nazis und einfache Bürger feierten die Einheit – auch verbunden mit Parolen und Gewalt gegen Vertragsarbeiter*innen, schwarze Menschen und BPOCs. Dieses Jahr wird zum ersten Mal öffentlich daran erinnert.“
Sekundiert wird diese Geschichtsfälschung von der TAZ. Ihr Autor Patrice Poutrus, Historiker, nach eigenen Angaben aktiv in der DDR-Opposition, schreibt:
„Auf manchen Montagsdemos kam es schon sehr früh zu ausländerfeindlichen Forderungen, insbesondere an Orten, wo Vertragsarbeiter*innen beschäftigt waren. Später, und keineswegs erst auf Forderung der Treuhand, wurden deren Wohnheime geschlossen, Arbeitsverträge aufgelöst, Kopfprämien für Rückreisen gezahlt. Das alles war begleitet von einem zusehends offen feindseligen bis gewalttätigen Klima gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Das Ergebnis war, dass im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit 1990 befürchtet wurde, dass es zu schweren Ausschreitungen gegenüber Ausländer*innen kommen würde.“
Diese Geschichtsklitterung ist infam.
Was Kahane betrifft, könnte sie wissen, dass DDR-Neonazis oft in enger Verbindung mit der Staatssicherheit standen. Besonders nach deren Überfall auf ein Punk-Konzert in der Zionskirche 1987 wurden evangelische Gemeinden gern von staatlicher Seite gewarnt, man könne sie nicht vor einem neonazistischen Überfall schützen, wenn in ihren Räumen eine Veranstaltung der Bürgerrechtsbewegung stattfände. Es gibt zahllose Berichte, dass die Volkspolizei und die Stasi, die rings um die Zionskirche standen, als der Überfall stattfand, den Angreifern freie Hand ließen.
Besonders geschichtsfälschend ist Kahanes indirekte Behauptung, der angebliche Rassismus und Antisemitismus der Bevölkerung hätte nur mühsam durch „Kontrolle über die öffentliche Meinung“ in Zaum gehalten werden können. Das Gegenteil war der Fall. Antisemitismus in Form von Israelhass wurde von der SED-Propaganda geschürt. Nicht nur das: Das Politbüro hatte vor, die „Protokollstrecke“, das heißt die Verbindung vom Regierungsstädtchen Wandlitz zum ZK-Gebäude, durch den Jüdischen Friedhof Weißensee zu führen. Erst durch die von der Bürgerrechtsbewegung angestoßenen Proteste, die ein internationales Echo fanden, wurde dieses Vorhaben gestoppt.
Was den angeblichen Rassismus betraf, so muss Kahane in einer anderen DDR gelebt haben als ich. Ausländer waren rar und bewundert. Auch der hässlichste Schweizer wurde sehnsüchtig auf Heiratschancen abgecheckt. Aber nicht nur Schweizer. Eine Freundin meiner Schwägerin, Medizinstudentin, hatte das große Los gezogen und einen Thailänder geheiratet. Sie wurde vielfach beneidet. Erst in Westberlin wurde sie gefragt, wieso ein hübsches und begabtes Mädchen wie sie so einen Ausländer, es fiel manchmal auch ein abwertenderer Ausdruck, geheiratet hätte. Sie hat im Westen den Rassismus kennengelernt, den es in der DDR so nicht gab.
Was die Vertragsarbeiter betraf, so wurden die von der Bevölkerung isoliert, selbst die aus den sozialistischen Bruderländern. Das erlebte ich in Leipzig als Studentin der ML-Geschichte. Ich war auf Besuch in einem Heim in der Gerberstraße, wo junge Ungarn, die hier ihren Facharbeiter machten, wohnten. Obwohl ich in der Küche „aufgegriffen“ wurde, wo eine Freundin dabei war, mich in die Geheimnisse des in Schmalz eingelegten Paprikahuhns einzuweihen, wurde ich von den Polizisten wie eine Nutte behandelt, der Sektion gemeldet und mit Exmatrikulation bedroht, sollte ich noch einmal bei den Ungarn „erwischt“ werden.
Vietnamesinnen, die eine Beziehung zu einem Vietnamesen oder Deutschen eingingen und schwanger wurden, mussten sich einer Zwangsabtreibung unterwerfen oder wurden nach Vietnam abgeschoben. Es war die Bürgerrechtsbewegung, die ab Mitte der 80er Jahre immer wieder darauf aufmerksam machte, wie unmenschlich der SED-Staat seine Vertragsarbeiter behandelte.
Das müsste auch TAZ-Autor Poutrus wissen, der ja dabei gewesen sein will.
Stattdessen schreibt er gemäß dem Motto meines Lieblingssatirikers Stanisław Jerzy Lec: „Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht.“ Abgesehen davon, dass er keinen einzigen Beweis für seine Behauptung bringt, bei den Montagsdemonstrationen hätte es ausländerfeindliche Parolen gegeben, fährt er fort, man hätte „Wohnheime geschlossen, Arbeitsverträge aufgelöst, Kopfprämien für Rückreisen gezahlt. Das alles war begleitet von einem zusehends offen feindseligen bis gewalttätigen Klima gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Das Ergebnis war, dass im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit 1990 befürchtet wurde, dass es zu schweren Ausschreitungen gegenüber Ausländer*innen kommen würde“.
Es waren keineswegs die Montagsdemonstranten, die dies taten, sondern die DDR-Behörden, die Vertragsarbeiter gewaltsam zur Ausreise zwangen oder in die Illegalität trieben. Es waren die Bürgerrechtler, die dies anprangerten und sich für Bleiberechte der Vertragsarbeiter einsetzten.
Es kam zu keinerlei ausländerfeindlichen Demonstrationen im Vorfeld der Deutschen Einheit. Poutrus spricht von „Befürchtungen“, um den Giftpfeil dennoch zu setzen. Was spätere Ausschreitungen betraf, wie in Rostock-Lichtenhagen, wurde nie untersucht, wer die Hintermänner waren.
Zu befürchten ist, dass Anetta Kahane und ihre willigen Helfer in Zukunft verstärkt Steuergelder einsetzen werden, um die Friedliche Revolution zu verunglimpfen.
Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, muss man in die Zeit vor dem Mauerfall zurückgehen. Für große Teile der westdeutschen Linken war die DDR der bessere deutsche Staat, weil sie ihn nicht aushalten mussten. Aber bis hin zur CDU-Führung hatte die linke Sicht auf den SED-Staat Akzeptanz gewonnen. Auf dem Bremer Parteitag der CDU 1989 sollte den „Geraer Forderungen“ des Partei- und Staatschefs Erich Honecker entsprochen und die DDR als selbstständiger Staat anerkannt werden. Damals war die Parteibasis noch nicht links gewendet und der Antrag von Generalsekretär Heiner Geissler wurde vom Tisch gefegt.
Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte die Regierung Kohl im Sommer 1989 die DDR als souveränen Staat anerkannt.
Als die Friedliche Revolution Fahrt aufnahm und die Mauer fiel, gab es neben der SED zahllose Stimmen von westdeutschen Linken, die sich für die SED stark machten und vor der Vereinigung warnten. Es wurde bis in die CDU hinein das Gespenst eines neuen Nationalismus und Rechtsrucks in einem vereinten Deutschland an die Wand gemalt.
Wie wir wissen, wäre es nicht zur Vereinigung gekommen, wenn die Menschen auf den Straßen der DDR nicht einen unwiderstehlichen politischen Druck entfaltet hätten. Die große Mehrheit wollte keine Demokratisierung der DDR, sondern die Vereinigung ohne Wenn und Aber.
Bekanntlich haben die Vereinigungsgegner die Schlacht verloren. Sie haben aber nie aufgegeben. Wenn die DDR schon nicht zu retten war, sollte wenigstens die SED zur besseren linken Partei werden. Der Taschenspielertrick des letzten SED-Vorsitzenden Gysi, die Partei einfach umzubenennen, funktionierte. Heute gehört die SED-Linke zu den Demokraten. Ihre totalitäre Vergangenheit wird zunehmend vergessen.
Schon 1994, nur vier Jahre nach dem schmählichen Ende der DDR, saß die SED-PDS in Sachsen-Anhalt schon wieder am Katzentisch der Regierung. In diesem Jahr hat sie zwar nicht mehr die 5 %-Hürde bei der Bundestagswahl überwunden, bekam aber Schützenhilfe von der SPD, die mit der SED-Linken zwei Landesregierungen bildet, in Mecklenburg-Vorpommern sogar mit einem stärker stasibelasteten Koalitionspartner, als offiziell zugegeben wird. Das Ganze nennt sich dann auch noch „Aufbruch 2030“.
Wohin dieser Aufbruch gehen soll, kann man schon absehen. Nach dreißig Jahren soll endgültig mit dem Erbe der Friedlichen Revolution aufgeräumt werden.
Die Geschichte, sagt man, wird von den Siegern geschrieben. Es wird höchste Zeit, klarzustellen, dass es nicht die Kahanes waren, die 1989 gesiegt haben. Sie dürfen auch in der von ihnen angezettelten Konterrevolution nicht gewinnen.
Dieser Artikel ist zuerst auf Vera Lengsfelds Blog erschienen.
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Sie finden ihn hier.
Text: Gast