Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber war Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009.
„Jedes Land entscheidet selbst, welchen Weg es gehen will“
Michail Gorbatschow am 7. Dezember 1988 vor der UN-Generalversammlung:
„[…] dass jedes Volk selbst das Schicksal seines Landes bestimmt und das Recht hat, selbst das gesellschaftspolitische und ökonomische System, die staatliche Ordnung, die es für sich als geeignet betrachtet, zu wählen. Für die Gestaltung der Gesellschaft gibt es nicht nur einen Standard […] Kein Land darf den Verlauf der Ereignisse innerhalb eines anderen Landes diktieren, keiner darf sich die Rolle eines Richters oder Schiedsrichters anmaßen.“
Am 26. Oktober 1989 berichtete die „New York Times“ über die Aussage Gennadi Gerassimows, dem Sprecher des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse, mit folgenden Worten:
„Der Weg zur „Sinatra-Doktrin“
Erst mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU im Jahr 1985 fand die Breschnew-Doktrin ein Ende. Die sowjetischen Truppen zogen aus Afghanistan ab. Und am 25. Oktober 1989 erklärte Gorbatschow bei einem Staatsbesuch in Finnland den Verzicht auf den Einsatz von Gewalt gegen Staaten des eigenen Bündnisses.
Der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, fasste die neue Linie bei einem Auftritt beim amerikanischen Fernsehsender ABC am gleichen Tag wie folgt zusammen:
„Wir haben jetzt die Frank-Sinatra-Doktrin. Er hat ein Lied, ‚I Did It My Way‘. So entscheidet nun jedes Land selbst, welchen Weg es gehen will.“ In einem weiteren Journalistengespräch sagte Gerassimow: „Ungarn und Polen gehen ihren eigenen Weg. Ich denke, die Breschnew-Doktrin ist tot.“
Es war die sowjetische Regierung, die jedem Staat weltöffentlich den eigenen Weg zusicherte. Diese sowjetische Regierung sagte nicht, dass diese Freiheit nicht für die Sicherheitsbelange der Staaten gelten soll.
Die Sowjetunion mit Gorbatschow an der Spitze machte den Weg für alle Bündnisse frei, die jeder Staat für sich selbst suchen kann. Weder „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft/heute Europäische Union“ noch NATO wurden dabei von der Sowjetunion ausgeklammert. Sie hätten sonst beide offizielle Erwähnung gefunden.
Offiziell und völkerrechtlich gilt der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ vom 12. September 1990. In diesem Vertrag wurde abgehandelt und beschlossen:
1. Die endgültigen mitteleuropäischen Grenzen und damit das Staatsgebiet des vereinten Deutschlands mit der Erklärung, dass Deutschland keine Gebietsansprüche an andere Staaten stellt.
2. Die Personalstärke der deutschen Streitkräfte auf 370.000 Personen mit der Erklärung, dass Deutschland auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen verzichtet.
3. Eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland bis 1994 und das Recht, Bündnissen anzugehören.
Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ behandelte nicht die zukünftige und zu dem Zeitpunkt nicht absehbare Entwicklung in der Sowjetunion/Russland mit den beiden Putschen 1991 (Sowjetunion) und 1993 (Russland) und der Selbstauflösung des Warschauer Paktes im Dezember 1991.
1990 war nicht absehbar, dass der NATO der Warschauer Pakt abhandenkommen würde.
Zusammen mit der sowjetischen Festlegung von 1988 über die Freiheit des Weges aller Staaten und dem Nichtvorhandensein völkerrechtlicher Verträge über einen Ausschluss der NATO als möglichem Bündnis war der Weg frei für alle Staaten, auch in der NATO ihr Sicherheitsbedürfnis abzusichern.
Last but not least, Russland ist nicht die Sowjetunion und nicht Testamentsvollstrecker oder Interessenwahrer dieses untergegangenen Staates.
Statt Russland könnte auch ein anderer der zwölf ehemaligen GUS-Staaten Ansprüche auf die Sowjetunion und auf angebliche manifeste NATO-Ausschlusskonditionen im Zuge der deutschen Einigungsverträge erheben. Russland ist eine von zwölf ehemaligen Sowjetrepubliken. Nicht mehr, nicht weniger.
„Zuletzt, 1993, wurde Georgien aufgenommen. Mit Ausnahme der baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) umfasste die GUS damit alle ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken. Die gegenseitige Achtung staatlicher Souveränität ist als ein wesentlicher Kooperationsgrundsatz festgelegt worden.“
Kaum war dieser Text fertig, kamen die ersten brutalen Kriegsnachrichten und -bilder aus der Ukraine auf den PC-Schirm. Unter der Latrinenparole „Putin beginnt militärische Sonderoperation zum Schutz des Donbass und Entnazifizierung der Ukraine“ (RT) läßt er „zurückschiessen“ wie weiland der GröFaz. Wladimir Putin geht es um „Curzon-Linie“. Er betätigt sich als Großverweser des „Hitler-Stalin-Paktes“.
Auch 1989 waren für ihn die Demonstranten von Leipzig und in der gesamten DDR „Konterrevolutionäre und Faschisten“.
Die „Putin-Doktrin“ löst die „Sinatra-Doktrin“ blutig ab.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.
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