Ein Gastbeitrag von Markus Lesweng
Viel wurde 2020 über Schweden geschrieben, häufig mit einem entsprechenden Framing. Sah die Lage schlecht aus, war dies selbstverständlich darauf zurückzuführen, dass die leichtsinnigen Schweden „zu wenig Maßnahmen“ ergriffen hätten, anders als die cleveren Deutschen. Sah die Lage vergleichsweise gut aus, hieß es, faktisch seien im Norden schließlich auch ganz viele Maßnahmen möglich, so eine Art Lockdown. Beides ist schlicht falsch.
Es geht auch anders
Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist mittlerweile weltberühmt – und hundertfach interviewt worden. Gemessen daran ist die Berichterstattung erstaunlich, man hat den Eindruck, niemand höre ihm so recht zu. Er betont stets, dass man in Schweden ebenfalls versucht habe, die Zahl an Neuinfektionen in Schach zu halten – nur mit Augenmaß, eben mit Blick auf Kollateralschäden.
Ebenso nutzt er jede Gelegenheit, auf das bisher größte Versagen hinzuweisen. Der Schutz der Altenheime wurde zwar zügig gefordert, aber nicht umgesetzt, mit bekanntem Ergebnis – „eine Katastrophe“, wie Tegnell es formuliert. Er kommuniziert ehrlich, ruhig, bedacht; Verharmlosung bietet er ebenso wenig wie die Infantilisierung seines Publikums. Man bewundert ihn für sein Rückgrat, trotz eines Tsunamis an Kritik zu seiner Strategie zu stehen.
Schwedens angeblicher „Sonderweg“ ist dabei kaum etwas anderes als die Richtlinien der WHO aus 2019 und die Pandemiepläne, wie sie in zahlreichen Ländern auch existierten, bevor man sie in einem Anflug der Panik aus dem Fenster geworfen hat.
Damit hat sich Tegnell – eine in Schweden nicht unumstrittene, aber durchaus angesehene Persönlichkeit – zum Feindbild diverser Qualitätsmedien gemausert. Er sei der Architekt des „gescheiterten“ schwedischen „Sonderwegs“. Warum man in Deutschland nicht die Expertise von ähnlich qualifizierten Epidemiologen sucht, sondern stattdessen weltfremd auf Physikerinnen vertraut, für die Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett sind, oder Virologinnen, die mit den Grundrechenarten fremdeln, fragt jedoch niemand. Entscheidend ist jedoch, dass die entsprechende schwedische Behörde (anders als das RKI) nicht weisungsgebunden ist, sie kann unabhängig und unpolitisch agieren. Seit Ende des vergangenen Jahres ist nämlich auch die Kommunikation der Regierung deutlich angstbetonter, als sie es noch im Frühjahr 2020 gewesen ist.
Eine kleine Stichprobe
Selbstverständlich wird jeder Schwede, der nicht rechtzeitig vortäuscht, kein Englisch zu können, von mir erst einmal ins Verhör genommen. Aus dieser vielseitigen, aber nicht repräsentativen Stichprobe zeigt sich: Auch die Schweden sind besorgt. Mehr Sorge als das Virus bereitet ihnen aber die Unwissenheit, ob es zusätzliche Einschränkungen geben wird bzw. wie lange die existierenden Regeln fortgeführt werden. Obwohl es im Vergleich zu Deutschland himmlisch ist, sind auch die Einheimischen langsam, aber sicher genervt und freuen sich auf das Frühjahr – für sie ist es klar, dass die Zahlen dann sinken und mit ihnen die Restriktionen fallen (Drosten-Szenarien mit 100.000 Ansteckungen im Sommer verstehen die Leute hier schlicht nicht).
Auch ist man sich bewusst, dass Schweden im Vergleich zu anderen Ländern einen sehr liberalen Weg verfolgt,flachen und ist dafür ausgesprochen dankbar. Wie extrem sich andere Länder aber radikalisieren, ist ihnen jedoch nicht bewusst. Erzählt man aus Deutschland, wo man überlegt, das Sprechen im ÖPNV zu verbieten, das Rodeln zu verbieten, das Fahrradfahren zu verbieten, das Reisen zu verbieten, ja, eigentlich alles zu verbieten außer dem flachen Atmen in den einsamen vier Wänden – ja, dann wird man mit dem konfrontiert, was ich höflich als „Stirnrunzeln“ umschreiben möchte. Es ist der Blick, den man bekommt, wenn jemand sich nicht sicher ist, ob etwas in der Übersetzung verloren gegangen ist oder ob der andere schlicht Blödsinn verzapft. Trotz zahlreicher Gespräche habe ich jedoch noch keinen Schweden gefunden, der neidisch auf die Deutschen wäre und ihre Kanzlerin, die die Wissenschaft so gut versteht. Fast ausnahmslos lautet ihr Fazit auf unsere Unterhaltung: „But… that’s crazy?!“
Es ist ein Marathon, kein Sprint
Nach der Pandemie im Frühjahr 2020 sah die schwedische Bilanz vergleichsweise schlecht aus; die Quote an mit Corona verstorbenen Menschen war vergleichsweise hoch; auf ein hervorragendes 2019 folgte ein mieses 2020. Zahlreiche Länder mit niedrigeren Fall- und Todeszahlen klopften sich in der Folge auf die Schulter – etwas zu voreilig. Auch wenn die Saison 20/21 noch nicht vorbei ist, ergibt sich aktuell ein anderes Bild – abgerechnet wird zum Schluss:
Natürlich ist jeder Vergleich mit Problemen behaftet. Dennoch sollte an dieser Stelle auf zwei aktuelle Statistiken hingewiesen werden, die gerne übersehen werden:
⦁ Es gibt nur eine Handvoll Länder in Europa, die weniger testen als Deutschland. Schweden testet über 40% häufiger, andere Länder gleich zehnmal mehr (ob sinnhaft oder nicht, sei dahingestellt).
⦁ Bei der Todesrate steht Schweden aktuell hervorragend da, nur Norwegen und Finnland sind noch einmal deutlich besser, Deutschland liegt dagegen im höheren Mittelfeld.
Interessanterweise gibt es immer mehr Länder oder zumindest Regionen, die vom möglichst harten Lockdown als zentralem Mittel der Pandemiebekämpfung abweichen, siehe z.B. South Dakota, Florida, Weißrussland, Finnland oder Estland, um nur die prominentesten aufzuführen. Politisch sind sie ein sehr bunter Haufen. Genau wie Schweden liefern sie wichtige Hinweise darauf, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht – Hinweise von unschätzbarem Wert.
Das zentrale Problem läge ansonsten in der nicht falsifizierbaren Hypothese, dass die Maßnahmen gewirkt haben, weil sonst die Fall- oder Todeszahlen viel höher gewesen wären. Im Panikpapier des Frühjahrs war schließlich von über einer Million Toten die Rede. Ohne Länder wie Schweden, die in der Krise besonnen geblieben sind, gäbe es keinen Weg, derartige Aussagen zu widerlegen. So gibt es zumindest deutliche Beweise dafür, dass Lockdowns in ihrer Wirksamkeit massiv überschätzt werden, selbst wenn man von den astronomischen Kollateralschäden einmal absieht.
Warum man Nationen wie Schweden daher nicht einfach das Beste wünscht, sondern sie wahlweise niederschreibt oder ignoriert, bleibt eines der größten Rätsel im Medienversagen des vergangenen Jahres. Für einen guten Journalisten wäre das Thema doch ein gefundenes Fressen? Offenkundig ist die Aufrechterhaltung eines Narrativs wichtiger. Oder schlicht der infantile Wille, Recht behalten zu wollen.
Doch, wie gesagt: Abgerechnet wird zum Schluss. Keiner weiß, ob Schweden seinen Weg beibehalten wird. Ich vermute es aber und wage an dieser Stelle die kühne These, dass Schweden zuletzt mit am besten aus der Krise hervorgehen wird. Nicht wegen der absolut niedrigsten Inzidenz oder Mortalitätsrate – sondern weil es als eines von wenigen Ländern nicht seine Wirtschaft, die (psychische) Gesundheit seiner Bevölkerung, das Vertrauen in die Demokratie und die Chancen einer ganzen Generation mit Vollgas an die Wand gefahren hat.
Fazit eines Weggelaufenen
Selbst aus sicherer Distanz beobachtet, ist es erschreckend zu sehen, wie sich die eigene Heimat in rasantem Tempo in eine totalitäre Gesellschaft verwandelt, insbesondere wenn – noch immer – rund die Hälfte der Leute begeistert applaudiert. Es ist von hier aus aber wesentlich leichter zu ertragen, und die eine oder andere Entgleisung bringt einen dann auch zum Lachen.
An der Stelle sei noch ein Funken Optimismus erlaubt: Alle Länder und Regionen, die ihre Restriktionen aufgehoben haben, verzeichnen keine Explosion von Neuinfektionen, sondern bloß eine rasante Rückkehr zur alten Normalität (die neue ist nämlich schlicht beschissen). Und diese Entwicklungen lassen sich nicht ewig verheimlichen, egal wie selektiv „Wissenschaftler“ ausgewählt werden und wie viele „Faktenchecker“ man bemüht.
Auch wenn es dauern mag, am Ende gilt: Die Wahrheit ist stärker als die Angst.
Lesen Sie hier die beiden ersten Beiträge aus dieser Artikel-Serie:
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Markus Lesweng, Baujahr 1985, studierte in seiner Heimatstadt erfolgreich Volkswirtschaftslehre mit den nur scheinbar gegensätzlichen Schwerpunkten Statistik und Prostitution. Nach dem Abschluss verbrachte er den besseren Teil von zwei Jahren mit einer Rundreise durch Australien, Neuseeland und Polynesien. Während dieser Zeit verdiente er seine Brötchen unter anderem als Cowboy, als Ziehvater für verwaiste Kängurus und mit der Zucht australischer Salzwasserkrokodile.
Neben einer zehnjährigen Tätigkeit im Flughafenmanagement veröffentlicht er seit 2014 Reisebücher, darunter „How to Kill Yourself Abroad“, den ironischen Guide zu den gefährlichsten Zielen der Welt.
Bild: RolandL/Shutterstock
Text: Gast
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