Von Alexander Wallasch
Ist das ein Witz? Der Musiker Gil Ofarim steht jetzt unter Beschuss, weil seine Kette mit dem jüdischen religiösen Bekenntnis doch nicht sichtbar gewesen sei?
Ganz gleich, ob der Davidstern nun offen am Hals des Künstlers hing oder sich ein Judenfeind daran erinnerte, dass Ofarim den Schmuck in den Medien gern und selbstbewusst trägt – was bedeutet eigentlich ein solcher Umgang mit den Sorgen und Nöten eines Mitbürgers mit jüdischem Hintergrund mitten in Deutschland?
Ja, jetzt gibt es für bestimmte Leute und Medien Ungereimtheiten darüber, ob Gil Ofarim aufgefordert worden sei, seine Kette einzupacken oder das Hotel zu verlassen. Videoaufnahmen ohne Ton sollen mutmaßlich zeigen, dass er die Kette gar nicht sichtbar trug.
Aber was sind das eigentlich für kontaminierte Debatten? Um was geht es hier denn eigentlich? Um Antisemitismus mitten in Deutschland! In einem Land, in dem unter der Naziherrschaft Millionen Juden fabrikmäßig ermordet wurden.
„Davon haben wir nichts gewusst“ – das war nämlich eine der Standardantworten der Kriegsgeneration, wenn sie in der Nachkriegszeit nach dem Holocaust gefragt wurden. Aber die Fotoalben der Wehrmachtsoldaten erzählten mitunter eine ganz andere Geschichte.
Auch der Autor hier hat in alten Kartons voller Schwarzweißfotos das eines Uronkels gefunden, der an der Ostfront gekämpft hat. Es zeigt kahlrasierte Männer, die sich um einen Eimer versammeln, der wohl irgendetwas wie Nahrung enthält. Auf der Rückseite hatte irgendwann jemand in feiner Frauenhandschrift „Juden in Polen“ geschrieben. Wohl, damit die Nachwelt weiß, was für Fotoerinnerungen der Onkel aus dem Ostfeldzug mitgebracht hat.
Aber so weit müssen wir gar nicht zurückgehen. Eine Schande der Gegenwart ist diese geradezu zwanghafte Verleumdung eines importierten muslimischen Antisemitismus mitten in Deutschland. Judenhass soll fast ausschließlich rechtsradikal sein, aber Juden, die ihn am eigenen Leib erleben, berichten etwas anders: In Erinnerung geblieben sind hier beispielsweise die Gürtel-Übergriffe eines muslimischen Migranten gegen einen Juden mitten in Berlin.
Wer sich in bestimmten Migrantenvierteln in Deutschland mit der Kippa auf die Straße wagt, riskiert, geschlagen, beschimpft und bespuckt zu werden. Nein, Deutschland ist kein sicherer Platz für Juden – die Synagogen müssen bewacht werden – ebenso wie die Schulen.
Ja, Rechtsextremisten mischen mit bei Übergriffen gegen Juden. Der Anschlag von Halle war auch hier ein Weckruf. Aber der muslimische Antisemitismus wird nach wie vor wie eine unbewiesene Legende behandelt, es wird vertuscht, verdreht und antisemitische Übergriffe, die man keiner Person zuordnen konnte, wurden in der Vergangenheit schon mal dem Rechtsextremismus zugeordnet.
Was auch nicht verschwiegen werden darf: Auch unter den Corona-Maßnahmen-Kritikern gibt es antisemitische Tendenzen. Zwar zeigen das offen nur sehr wenige, aber eine behauptete Weltverschwörung gegen die gesamte Menschheit mit Killer-Impfungen wird hier schnell zur Brunnenvergifterthese der Gegenwart umgesponnen – hier wurde das Mittelalter mit der Antisemitismus-Zeitmaschine ins Jahr 2021 transportiert.
Der Musiker Gil Ofarim sagt, er sei in einem Hotel in Leipzig verbal antisemitisch angegriffen worden. Und er sagt es offen und geht damit an die Medien – gut so! Wer Ofarim hier reflexartig Werbung in eigener Sache unterstellt, dessen Geschichtsbewusstsein ist ebenso nur rudimentär, wie hier jedwede Empathie beerdigt wurde: Ja, Jude sein in Deutschland ist für Nichtjuden schwer vorstellbar, aber es gibt genug Berichte, die sehr anschaulich machen, was das noch heute bedeuten kann.
Gil Ofarim sagte zur Bild-Zeitung und zu den neuerlichen Unterstellungen:
„Der Satz, der fiel, kam von hinten. Das heißt, jemand hat mich erkannt. Es geht hier nicht um die Kette. Es geht eigentlich um was viel Größeres. Da ich oft mit dem Davidstern im Fernsehen zu sehen bin, wurde ich aufgrund dessen beleidigt.“
Mehr ist dazu zunächst nicht zu sagen, die Polizei muss jetzt ermitteln, wer da zur Rechenschaft gezogen werden muss. Und Politik und Gesellschaft müssen endlich anfangen, Juden in Deutschland nicht nur zu schützen, sondern sie in diesem Land zu echten Wunschnachbarn zu machen. Wir müssen uns bemühen um jeden Juden im Ausland, der überraschenderweise noch den Wunsch hegt, als Jude wieder in Deutschland ansässig zu werden.
Es gibt heute Hunderttausende von Nachfahren von Juden, die aus Deutschland fliehen mussten oder die als Überlebende nach dem Krieg das Land der Täter verlassen haben – um diese Juden sollten wir werben und ihnen alle Möglichkeiten eröffnen, sich mit dem Deutschland ihrer Vorfahren zu versöhnen oder sogar anzufreunden, shalom aleichem!
Es darf nicht sein, dass Juden dieses Land wieder verlassen, weil sie sich hier bedroht fühlen. Unabdingbar ist es, Antisemitismus beim Namen zu nennen. So wie es jetzt der Musiker Gil Ofarim in Leipzig gemacht hat.
Uwe Becker, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sagte gegenüber der Zeit: „Ein Angriff auf jüdisches Leben in Deutschland ist immer auch ein Angriff auf die gesamte deutsche Gesellschaft.“
Anna Staroselski, die Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion, sagte gegenüber der Rheinischen Post, jüdische Studenten erleben Judenhass in der Schule, Uni, U-Bahn oder auf der Straße. Und es scheint bereits vergessen oder muss groteskerweise immer wieder neu verhandelt werden, was Armin Laschet (CDU) angesichts von antisemitischen Übergriffen am Rande propalästinensischer Kundgebungen noch im Mai 2021 beim Namen nannte, nämlich einen „eingewanderten Antisemitismus“.
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak ging sogar noch weiter und sagte, dass Antisemitismus in diesen Tagen vor allem von jungen Männern käme, die von muslimischen Extremisten „angeheizt“ würden. Auch Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) deutete an, Judenhass sei vor allem ein importiertes Problem: „Zu unseren Werten gehört der Schutz jüdischen Lebens. Wer das nicht beachtet, hat sein Gastrecht hier verwirkt.“
Gil Ofarim hätte seine Kette mit Davidstern vielleicht doch nicht offen, sondern unter dem Hemd getragen? Entzündet sich hier eine Diskussion um die Existenz oder Nichtexistenz von Antisemitismus in Deutschland?
Wäre es nicht vollkommen dämlich, man wäre fast geneigt, von Antisemitismus-Leugnung zu sprechen und möchte jedem, der da mitmacht, einmal empfehlen, eine Kippa zu tragen und so bedeckt bestimmte Viertel in seiner Stadt aufzusuchen – die Erfahrung könnte tatsächlich eine schmerzhafte wie heilsame sein.
Die Corona-Maßnahmen haben unzählige Menschen extrem hart getroffen. Sie haben viele Existenzen gefährdet und vernichtet. Ich möchte Menschen, die betroffen sind, helfen – und veröffentliche deshalb auf meiner Seite Reklame von ihnen. Mit der Bitte an meine Leser, sie wohlwollend zu betrachten.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Roman Yanushevsky, ShutterstockText: wal