Lesen Sie heute Teil 40 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden.
Göttlicher Zorn Gleich nach seiner Wiederwahl am 4. März 2012 beendet Putin die Spekulationen über seinen weiteren Kurs. Die Schonfrist für seine Gegner ist vorbei. Hatte sich die Polizei in den Monaten zuvor erstaunlich nachgiebig gegenüber den Demonstranten gezeigt, so nimmt sie einen Tag nach den ersten Protesten gegen die Wahl sofort 550 Menschen fest. Viele von ihnen kommen zwar am Tag darauf wieder auf freien Fuß, aber es ist ein deutlicher Warnschuss. An den Protestaktionen nehmen im Vergleich zu den Massenkundgebungen im Dezember deutlich weniger Menschen teil.
Einen Tag vor der erneuten Amtseinführung kommt die Protestbewegung noch einmal in Fahrt. Zehntausende gehen in Moskau auf die Straße und marschieren durch die Innenstadt zum Bolotnaya-Platz. Übersetzt heißt das »Sumpf-Platz«, und dieser Name ist wohl einer der Gründe, warum die Behörden Protestaktionen vorzugsweise dort genehmigen. Es kommt zu Handgemengen. Zahlreiche Kreml-Gegner und 80 Polizisten werden leicht verletzt; die Beamten nehmen 600 Menschen fest.
Prachtvoll wie ein Zar lässt sich Putin am nächsten Tag eine Stunde lang in sein Amt einführen und nimmt dann eine Parade des Präsidentenregiments ab. Beim anschließenden Festempfang werden für 25 Millionen Rubel – ca. sechs Millionen Euro – Speisen und Getränke serviert, vorzugsweise aus russischer Produktion. Kritiker und Bewunderer sprechen gleichermaßen von einer Krönung. Parallel zur Feier kommt es zu spontanen Protesten. Auf den Fernsehbildern ist zu sehen, wie Putin durch eine abgesperrte, völlig menschenleere Stadt in den Kreml gefahren wird.
Die Repressionen werden immer stärker. Da es in Putins Augen ums Vaterland, um alles oder nichts geht, sind ihm alle Mittel recht, und er greift tief in die Giftkiste des KGB: Einer der charismatischsten Anführer der Proteste im Winter, Wladimir Ryschkow, muss miterleben, wie ihn im Internet Videobilder bei einer Beschäftigung zeigen, die man gewöhnlich eher privat halten möchte – bei der Selbstbefriedigung auf der heimischen Couch.
Offenbar wurde eine Kamera in seiner Wohnung installiert. Der Angriff tief unter der Gürtellinie – Duftmarke KGB – bleibt nicht ohne Folgen: Eine schwere Nervenkrankheit setzt den Oppositionsführer monatelang außer Gefecht.
Die Polizei stellt die Wohnungen vieler Kreml-Kritiker auf den Kopf. Bei dem Oppositionellen Ilja Jaschin stürmen Polizisten nicht nur seine eigenen vier Wände – sie dringen auch noch in die Wohnung seiner Eltern ein und hinterlassen dort ein Chaos. Der 28-jährigen Maria Baranowa, einer der Organisatorinnen der Anti-Putin-Demonstrationen, droht das Jugendamt an, ihr den fünfjährigen Sohn wegzunehmen und in ein Kinderheim zu stecken. Sie selbst bleibt nur unter der Bedingung auf freiem Fuß, Moskau nicht zu verlassen.
Am 21. Februar 2014, im Windschatten der Olympischen Spiele in Sotschi, verurteilt eine Moskauer Richterin sieben Männer und eine Frau wegen der Proteste auf dem Bolotnaya-Platz zu Gefängnisstrafen zwischen zwei Jahren und drei Jahren und sieben Monaten; nur bei der weiblichen Angeklagten wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
Für kritische Journalisten gibt es ein Berufsverbot – sie stehen auf schwarzen Listen; selbst über nachrangige Fernsehprogramme entscheiden Beamte im Kreml. Wer sich öffentlich gegen Putin stellt, muss um seine Freiheit und seine Existenz zittern. Es kann aber auch unpolitische Menschen treffen, die einfach nur das Pech haben, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Höhepunkt der Repressionen ist der Prozess gegen drei junge Frauen – Mitglieder der Punkband Pussy Riot. Ihr Vergehen: Sie haben in der Moskauer Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet gegen den Präsidenten aufgeführt, in bunten Masken, Typ Banküberfall, auf dem Altar, der in der orthodoxen Kirche nur Männern zugänglich ist: »Gottesmutter, erlöse uns von Putin.« Nach eigenem Bekenntnis wollten sie damit dagegen protestieren, dass der Patriarch alle Gläubigen aufgefordert hatte, Putin zu wählen und nicht zu demonstrieren. Für den Auftritt – nach Ansicht unabhängiger Juristen schlimmstenfalls eine Ordnungswidrigkeit – werden die drei, von denen zwei Mütter kleiner Kinder sind, wie Schwerverbrecher behandelt. Die Bilder vom Prozess mit den drei jungen Frauen in einem Käfig gehen um die Welt und lösen einen Proteststurm aus. Putin selbst stecke hinter dem harten und in weiten Teilen absurden Vorgehen der Justiz, sagt eine junge Frau, selbst Mitglied von Pussy Riot, die sich auf der Flucht vor der Polizei befindet und deshalb hinter ihrer Maske anonym bleiben möchte. Und kaum einer, der Russland kennt, zweifelt daran: Selbst Putins jetziger Premierminister Medwedew beklagte in seiner Amtszeit, dass Urteile nicht von den Richtern gesprochen, sondern per Telefon von oben diktiert würden. Der Grund für Putins Zorn auf die drei jungen Frauen sei weniger ihre Aktion in der Kirche gewesen als ein Auftritt zu Jahresbeginn auf dem Roten Platz, glaubt das flüchtige Bandmitglied.
»Putin hat sich in die Hose gemacht«, haben die jungen Frauen dort gesungen. So sehr der Kreml-Chef, den Vertraute durchaus respektvoll »den Paten« nennen, seine Freunde schützt und fördert, so unbegrenzt ist seine Wut auf seine Gegner.
Dass der Prozess gegen die drei Mädchen weltweit so enormen Wirbel erzeugt, irritiert den Kreml-Chef offenbar. Nach einem Treffen mit David Cameron in London antwortet er auf Fragen von Journalisten, Pussy Riot sei bei dem Gespräch kein Thema gewesen. Cameron behauptet später genau das Gegenteil. Sodann erklärt Putin, er sei gegen ein hartes Urteil gegen die drei Mädchen. Im Westen fassen das viele als vorgezogenen Freispruch auf.
Dabei funktioniert das System Putin nach anderen Regeln: Die Anweisungen ans Gericht erfolgen nicht öffentlich auf Pressekonferenzen; was vor laufenden Kameras gesagt wird, ist eher ein Ablenkmanöver.
Was in Moskau geschehe, sei eine »Wende zu einem neuen politischen System«, warnt die Politologin Lilia Schewzowa. »Putin wechselt von einem recht weichen Autoritarismus zu einem traditionelleren, harten Autoritarismus mit repressiver Ausrichtung.« Als treibende Kraft hinter dem Richtungswechsel sieht Schewzowa Angst: Putin fürchte angesichts der Proteste, die Macht zu verlieren, und setze auf das Gegenmittel Einschüchterung. Jetzt, da die Repressionsmaschine erst einmal angelaufen sei, ließe sie sich nicht mehr stoppen, fürchtet Schewzowa: »Aber niemand weiß, wie viele Ressourcen für Repressionen dieses System hat.«
Bald liegt dafür ein wichtiges Indiz vor: das Urteil gegen Maria Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa, die beiden jungen Mütter von Pussy Riot. Die Szenen aus dem Gerichtssaal erinnern an einen Kafka-Roman. Bei der Videoübertragung ist kein einziges Mal das Gesicht der Richterin zu sehen. Die Urteilsverkündung, die ja aus ihrer Feder stammen müsste, enthält Wörter, die sie kaum aussprechen kann. Sie liest sie monoton vom Blatt ab, wie ein Dokument aus einer anderen Zeit, voll von Sprachhülsen, Absurditäten und Nebensächlichkeiten, ganz in dem Apparatschik-Stil, der zu Sowjetzeiten entwickelt wurde, um mit vielen Phrasen und Worten möglichst wenig zu sagen und vom Wesentlichen abzulenken. Kaum etwas wird ausgelassen, um die Angeklagten zu erniedrigen. So werden Nadja Tolokonnikowa »hybride Persönlichkeitsstörungen« bescheinigt und dann ihre vermeintlichen Schwächen aufgezählt, in einem Stil, in dem einst die kommunistische Partei Abweichler an den Pranger stellte. Die drei Mädchen müssen stundenlang stehend in ihrem Glaskäfig ausharren; ihnen werden die ganze Zeit über nicht einmal die Handschellen abgenommen. Eine Erniedrigung, die sogar Ex-Yukos-Chef Chodorkowski erspart blieb, als er im gleichen Glaskäfig abgeurteilt wurde. Nur ein paar handverlesene Journalisten sind im Gerichtssaal zugelassen, die anderen müssen das Urteil stundenlang eingepfercht auf Treppen oder Korridoren abwarten. Lediglich eine Haftstrafe könne die soziale Gerechtigkeit wiederherstellen, liest die Richterin vor und verkündet dann das Strafmaß: Zwei Jahre Haft für ein »gemeinsam abgesprochenes Verbrechen«. »Das unverhältnismäßig harte Urteil«, so reagiert Angela Merkel, stehe »nicht im Einklang mit den europäischen Werten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie«.
Putin widerspricht der Kanzlerin. Eine der Frauen habe früher an einer antisemitischen Aktion teilgenommen: »Wir und ich können keine Leute unterstützen, die antisemitische Positionen zur Schau stellen.« Eine Verdrehung der Tatsachen: Die Aktion, auf die sich Putin bezog, war gegen Fremdenhass und damit auch Antisemitismus gerichtet. Dem Frühling mitten im Winter 2011 folgte also eine neue Eiszeit. Die Gründe sind vielfältig. Putin hatte mit seinem Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel um das Präsidentenamt die Geduld des gut informierten Teils seiner Landsleute überstrapaziert. Bei der Duma-Wahl hatten die schon früher üblichen Fälschungen ein neues Ausmaß erreicht, und vor allem waren sie dank der sozialen Netzwerke im Internet erstmals für Mil lionen sichtbar. Dass plötzlich Zehntausende auf die Straße gingen, versetzte die Machthaber in eine Schockstarre – was wiederum den Protesten weiteren Auftrieb verschaffte. Diese Dynamik stoppten die Oppositionsführer, als sie sich zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen mehrheitlich in die Winterferien verabschiedeten. Hier fehlte mit Sicherheit ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung ebenso wie die Nähe zu derselben. Vorwerfen kann man das der Opposition nur bedingt, da sie in 12 Jahren »Demokratur« keine Möglichkeit für einen fairen politischen Kampf und damit auch eine gesunde Entwicklung hatte.
Parallel reagierte Putin diesmal pragmatisch und geschickt auf die Proteste. Er vermied es, die Unzufriedenen weiter offen zu reizen, bei den Präsidentschaftswahlen wurde geschickter gefälscht, und in der Hauptstadt auch weniger – weil hier die meisten Unzufriedenen zu Hause sind. Auch ohne die Fälschungen hätte Putin die Wahlen wohl gewonnen, nicht zuletzt dank der massiven Propaganda und dem Nicht-Zulassen von wirklich ernstzunehmenden Gegenkandidaten. Vieles spricht aber dafür, dass Putin eine Stichwahl nicht hätte vermeiden können. So aber war eine große Zahl derjenigen, die im Dezember noch frohen Mutes auf die Straße gegangen sind, enttäuscht. Die in Moskau wie im Westen damals weit verbreitete Meinung, Russland sei jetzt ein anderes Land und es gebe kein Zurück mehr, stellte sich als zu optimistisch heraus. Im Gegenteil: Es sollte noch weiter zurückgehen.
Putin war angesichts der starken Proteste im Dezember enorm erschrocken, seine alten Ängste vor einem Umsturz auf der Straße wie in der DDR oder in Kiew hatten ihn wieder eingeholt. Dass es so weit kam, hielt er offensichtlich für eine Folge von Medwedews Reformrhetorik. Und so nahm er sich wohl vor, künftig den Anfängen zu wehren. Dennoch: Die Proteste waren ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg Russlands zu einer Zivilgesellschaft – auch wenn dieser alles andere als gerade verläuft.
Das Muskelspiel Wenn der Mann mit dem breiten BuddhaLächeln im Fernsehen zu sehen ist, schrillen bei den meisten Russen unverzüglich die Alarmglocken: 18 Jahre lang war Sergej Schojgu der Leiter des russischen Katastrophenschutzes. Ob Überschwemmungen, Explosionen in Hochhäusern oder Flugzeugabstürze: Immer, wenn etwas Schreckliches passierte, war der Retter mit Ministertitel zur Stelle. Im Kampfanzug, oft mit vier dicken Generalssternen auf den Schultern, sagte er dann mit sonorer Stimme, dass er und seine Männer alles im Griff hätten. Je schwieriger die Lage, umso mehr Ruhe schien Schojgu auszustrahlen: Schließlich stammt er aus Tuwa, einer buddhistisch geprägten Teilrepublik an der Grenze zur Mongolei.
So waren viele Russen sehr verwundert, als sie im November 2012 ihren Spezialisten für Katastrophen plötzlich in völlig unüblicher Rolle sahen. Wie ein Schuljunge saß er am Tisch dem Präsidenten gegenüber. Mit kalter Miene, die Hand auf den Tisch gestützt, eröffnete der ihm, dass er fortan eine neue Aufgabe habe und Russlands Militär führen soll. Dem 57-Jährigen, der bis dato selbst in den schwierigsten Lagen nie die Sprache verloren hatte, fehlten plötzlich die Worte. Er schluckte, senkte den Kopf und presste dann mühsam ein »Danke« über seine Lippen: »Das kommt überraschend!« So unglücklich war der frühere Bauingenieur und Funktionär der Kommunistischen Partei zuvor bei kaum einer Katastrophe zu sehen gewesen.
Seit Wladimir Putin 1999 in den Kreml einzog, ist Schojgu für ihn immer dann zur Stelle, wenn die Not groß ist: So wurde er im Jahr 2000 Chef der Kreml-Partei »Einheit«, die frisch gegründet war und noch als Himmelfahrtskommando galt. Im April 2012 schickte ihn Putin als Gouverneur in die »Moskauer Oblast«, die skandalerschütterte Region rund um die Hauptstadt. In der tobten nicht nur erbitterte Kämpfe um Firmen, Grundstücke und Immobilien, auch Wahlen standen bevor. Dass Schojgu aus diesem »Katastrophen-Gebiet« unverrichteter Dinge an die Spitze der Armee abkommandiert wurde, zeigt, wie ernst es um die Streitkräfte steht, und welche Priorität sie für Putin haben. Die offiziell eine Million Mann starke Truppe ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr Sorgenkind denn Stolz des Kremls. Für so manche der Haare, die Putin in der Zeit im Kreml und im Weißen Haus verloren hat, dürfte die »Armija« verantwortlich sein.
Der russisch-georgische Krieg 2008 führte der ganzen Welt vor Augen, dass die jahrelangen Bemühungen um eine Armeereform eher bescheidenen Erfolg hatten: Zwar konnten Moskaus Truppen die georgische Mini-Armee niederringen. Doch sie agierten wie zu Sowjetzeiten schwerfällig, unkoordiniert, schlecht ausgebildet und kaum vernetzt. Kommandeure mussten mit ihren Privat-Handys unverschlüsselt Luftunterstützung anfordern, weil die armeeeigenen Funknetze versagten. Im besetzten Gebiet machten die russischen Soldaten mehr durch Plünderungen von sich reden als durch militärische Heldentaten. Legendär wurde ein Handy-Video, das Wehrpflichtige beim neidischen, ungläubigen Staunen zeigt, als sie in der Kaserne der besiegten georgischen Armee auf Ausrüstung, Technik und vor allem Komfort stießen, von dem sie selbst in den eigenen Kasernen nicht einmal zu träumen wagten.
Ein Mann aus dem Petersburger Clan Putins sollte es damals richten: Anatoli Serdjukow, seines Zeichens Möbelhändler, und vor allem Schwiegersohn von einem Putin-Intimus, dem Vize-Premier Viktor Subkow. Die Truppe fasste es als Affront auf, dass mit ihm 2007 erstmals ein Zivilist die Kommandogewalt bekam.
Doch es kam noch schlimmer: Serdjukow baute die Streitkräfte ohne Rücksicht auf Verluste um. Er führte die Truppe mehr wie ein Manager denn wie ein Offizier. Eben das sei dem »Schemel-Mann« – so der Spitzname des Ministers wegen seiner Möbelhändler-Vergangenheit – auch zum Verhängnis geworden, meint Alexander Golz, ein oppositionsnaher Militärexperte in Moskau. Da Putin angekündigt hatte, bis zum Jahr 2020 sage und schreibe 23 Trillionen Rubel (ca. 575 Milliarden Euro) in die Armee zu investieren, entbrannten gigantische Verteilungskämpfe. Anstatt die chronisch unzuverlässigen und veralteten Produkte der heimischen Rüstungsschmieden zu kaufen, wollte Serdjukow moderne Waffen aus dem Westen – oder zumindest grundlegende, schmerzhafte Reformen im Rüstungssektor. »Damit machte er sich den militärisch-industriellen Komplex zum Feind«, meint Golz. Offiziell wurde Serdjukow eine Korruptionsaffäre zum Verhängnis.
»Der militärisch-industrielle Komplex ist ein ganz wesentlicher Grundpfeiler für Putins Macht. Die Leute, die dort arbeiten, sind seine Stammwähler, darauf musste er Rücksicht nehmen«, glaubt Militärexperte Golz. Außerdem habe es Putin misshagt, dass Serdjukow die Streitkräfte auf 700 000 Mann reduzieren wollte: »Für Putin ist eine Million eine magische Zahl, aber sie ist unsinnig, schafft nur Probleme.« Dem Präsidenten gehe es offensichtlich ums Prestige, so Golz. Wie einst die Sowjets wolle er seine Streitkräfte als Faustpfand gegenüber dem Westen nutzen:
»Dann kann er bei den Gipfeltreffen über Rüstungsfragen diskutieren und neue Atomwaffen-Verträge aushandeln, statt über Demokratiedefizite und Menschenrechte reden zu müssen.« Tatsächlich steckt Putin in einem Dilemma. Wenn er die Armee wirklich schlagkräftig machen will, muss er sich mit den Militärs und der Militärindustrie anlegen, ihnen unbequeme Reformen abverlangen. Betroffen wären davon, mit Familien mitgliedern, rund zehn Millionen Menschen, ein enormes Wählerpotential. Vermeidet Putin dagegen den Konflikt mit diesen einflussreichen Gruppen, lässt sich die Armee-Reform nicht vollenden.
2012 glauben viele, dass Putin den Weg des geringeren Widerstands gehen und die versprochenen 23 Trillionen Rubel quasi als Schweigegeld im Korruptionsdschungel von Militär und Rüstungsindustrie versickern lassen werde. Als Großmeister der Potemkin’schen Fassade könnte er auch eine sowjetisch geprägte, nicht schlagkräftige Armee modern maskieren lassen und in der Öffentlichkeit mit ihren vermeintlichen Muskeln spielen. Das würde auch völlig reichen, denn als Garant für Weltmacht-Ambitionen brauche Putin die Armee heute gar nicht mehr, glaubt Valentina Melnikowa von den »Soldatenmüttern«: »Gas und Öl sind in seinen Augen die wichtigsten Garantien dafür, dass wir Großmachtstatus haben.«
Doch Wladimir Putin scheint es mit der Aufrüstung ernster zu nehmen, als die meisten glauben. In seiner Ansprache an den Föderationsrat am 12. Dezember 2013 gibt er sich kriegerisch: »Niemand darf sich Illusionen machen, dass er eine militärische Überlegenheit über Russland erreichen könne. Das werden wir nie zulassen!« Erreicht werden soll dies unter anderem durch neue Projekte »zur Stärkung der russischen Atom-Tirade«. Die russische Rüstungsindustrie werde in den nächsten Jahren voll ausgelastet sein mit Aufträgen. »Um die Verteidigungsfähigkeit zu verbessern«, sollen künftig alle Studenten, die vom Wehrdienst befreit sind, an der Waffe ausgebildet werden: »Wir müssen das System der militärischen Vorbereitung an den Hochschulen verändern, alle Studenten sollen die Möglichkeit haben, sie zu durchlaufen.«
Das Thema Rüstung ist in den russischen Medien allgegenwärtig. In der Presse und im Fernsehen sind die Berichte über neue Waffen, Versuche mit Raketen und militärische Entwicklungen so häufig und so enthusiastisch, dass man zuweilen glaubt, man habe es mit Psychotherapie und nicht mit Journalismus zu tun. Meldungen wie die folgende gehören zum festen Repertoire:
»Der russischen Rüstungsindustrie ist mit der Entwicklung des mobilen Raketenkomplexes Club-K ein wahrer Coup gelungen, schreibt die Zeitung Rossiskaja Gaseta. »Die häufig kritisierte Rüstungsindustrie in Russland hat damit ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, nicht nur in kürzester Zeit marktfähige Erzeugnisse entwickeln zu können, sondern auch revolutionäre Wege zu gehen.« Bis 2020 sollen 100 Schiffe (darunter 20 U-Boote), 600 Flugzeuge und 1000 Hubschrauber angeschafft werden. Geplant ist auch der Kauf von zehn Flugabwehrkomplexen des Typs S-500 und 56 des Typs S-400. Priorität im Rüstungsprogramm haben die strategischen Atomkräfte. Geplant ist der Bau von acht Atom-U-Booten, die mit den ballistischen Interkontinentalraketen »Bulawa« ausgerüstet werden, erklärte Vize-Verteidigungsminister Wladimir Popowkin im Februar 2011.
Schon 2007 hatte Putin angeordnet, die seit 1991 eingestellten Patrouillenflüge der strategischen Bomber wieder aufzunehmen; 2009 tauchten vor der Ostküste der USA erstmals seit 15 Jahren wieder russische Atom-U-Boote auf. Bei einem Besuch bei Raketenbauern fordert Putin im Juni 2013 eine zügige Modernisierung: »Unter Militäranalytikern wird immer öfter darüber geredet, dass ein (atomarer) Erstschlag, ein entwaffnender und enthauptender Schlag möglich ist.« Eine Schlüsselrolle habe deshalb die Weltraum-Verteidigung: »Wir dürfen nicht zulassen, dass das Kräftegleichgewicht bei strategischen Atomwaffen gestört und die Effektivität der russischen Atomwaffen vermindert wird.«
Den vorherigen, neununddreißigsten Teil – Die Rolle rückwärts – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier.
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