Gruppeneffekte: Wie uns die Wahrheit im Diskurs verloren geht Kognitive Verzerrungen

Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen

Wahrheit ist in den letzten Jahren global ein geschmähter Begriff geworden. Jeder hat seine eigene Wahrheit, hätte man meinen können, wenn beispielsweise der links-grüne Zeitgeist auf den Gegentrend des neuen Konservativismus traf.

Donald Trump war eher ein Symptom für diese ausgeprägten gesellschaftlichen Kämpfe, in denen wir noch mittendrin sind. Aber Trump war ein radikaler Vertreter der eigenen Wahrheit, mit der er allerdings auf der Linie von vielen Republikanern in Amerika lag. Bei uns galt er als Produzent von Fake-News, was teilweise nachvollziehbar war, teilweise auch nicht.

Fake-News kamen auch aus Russland, als gezielte Ablenkung von russischen Aggressionen, beispielsweise in der Ukraine. Russische Fake-News waren aber nicht immer unwahr, sie wurden von unseren Medien teilweise auch erst zu Lügen gemacht. So war der „Überfall auf Georgien“, wie ihn die ARD damals tagelang darstellte, eine russische Reaktion auf den georgischen Angriff auf Ossetien, das sich vor geraumer Zeit, mit russischer Unterstützung für unabhängig erklärt hatte.

Die ARD korrigierte diese Deutung, dass Russland der Aggressor im Georgienkrieg war, nie, obwohl sie eindeutig falsch war. Tagesschau und Tagesthemen produzierten also schon zur Zeit des Georgienkrieges kräftig Fake-News, die von westlichen geopolitischen Interessen gedeckt waren.

Wahrheit hat also immer mehrere Seiten, und nicht selten sind diejenigen, die „Lüge“ schreien, auch selbst Lügner, weil sie eigene Gruppeninteressen verfolgen.

Das führt zum Kern des Problems über den öffentlichen Diskurs über das, was wahr und nicht wahr sein soll. Der Diskurs ist durch Gruppeninteressen geprägt, wobei eigene Wahrheiten, als einzig gültige, den Wahrheiten der anderen gegenübergestellt werden. Auch Trump hat die Wahrheit gesagt und oft genug gelogen.

Wahrheit wird immer durch psychologische Voreinstellungen (auch Vorurteile) beeinflusst, die wir alle haben und die meist dann extrem werden, wenn Menschen sich in Gruppen mit ihren Vorurteilen gegenseitig bestätigen.

Das erkennt man auch aktuell gut während der Corona-Krise. Selten haben sich gesellschaftliche Gruppen, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit wähnen, so radikal gegeneinander gestellt wie heute.

Die Wahrheit, möchte man meinen, läge irgendwo in der Mitte. Aber genau diese Mitte gibt es zu Zeiten der Polarisierung durch die Medien nicht mehr. Das schädigt tatsächlich den Diskurs.

Ich möchte an dieser Stelle auf eine wissenschaftliche Arbeit zum so genannten „Wisdom of Crowd Effect“ hinweisen, die ich in einer noch unveröffentlichten Schrift zum Thema „Psychologische Voreinstellungen in der Zukunftsforschung“ ausführlich kolportiert und bewertet habe. Interessant an dieser Arbeit ist, dass die Forscher gezeigt haben, wie die „Wahrheit“ mit zunehmendem Konformitätsdruck in Gruppen gewissermaßen aus dem Meinungsspektrum dieser Gruppen verschwindet.

In einer 2011 erschienenen Untersuchung berichteten Lorenz et al. über den Einfluss von Konformität und Diversität in Gruppen auf den „Wisdom of Crowd Effect“. Dieser Begriff bezieht sich vor allem auf das 2004 erschienene Buch von Surowiecki, „The Wisdom of Crowds“ in dem an vielen Fallbeispielen die mögliche Überlegenheit von nicht oder schwach organisierten Gruppen mit den Merkmalen Dezentralität und Diversität gegenüber Einzelnen in Hinsicht auf intelligente Entscheidungsfindung dargestellt wurde.

Die 2011 erschienene Studie von Lorenz et al. stellte fest, dass bereits leichter sozialer Konformitätsdruck zu einer Aufhebung des „Wisdom of Crowd Effects“ führen kann, ohne dass sich die Gruppenleistung insgesamt verbessert. Obwohl diese Untersuchungen (n = 144) bisher nicht repliziert wurden, lohnt eine nähere Betrachtung.

Zunächst erscheint von Bedeutung zu sein, dass die Autoren den „Wisdom of Crowd Effect“ als statistischen Effekt sehen, der vor allem auf einer statistischen Aufrechnung auch extremster Positionen einer Stichprobe beruhe, wobei gerade die extremen Positionen sich gegenseitig ausbalancieren. Die Spannbreite (range) der Positionen scheint eine wesentliche Rolle für die Qualität des Ergebnisses der Stichprobe zu spielen. Zur Ermittlung des Ergebnisses wurden jeweils der Median und das geometrische Mittel herangezogen. Die Leistungen der statistisch zu Gruppen zusammengefassten Teilnehmer, die streng getrennt voneinander Fragen beantworteten (keine Gruppeneffekte), wurden in mehreren Versuchsdurchgängen unter folgenden Bedingungen betrachtet.

Die Teilnehmer hatten keinerlei Informationen über die durchschnittlichen Antworten der Gruppe.

Die Teilnehmer bekamen partielle Informationen aus den vorherigen Durchgängen zurückgemeldet (Median und geometrisches Mittel der abgegebenen Antworten).

Die Teilnehmer hatten volle Informationen über alle bisherigen Gruppendurchgänge, die alle Einzelvoten und alle eigenen Einschätzungen umfassten.

Je mehr Informationen über die durchschnittlichen Positionen der Gruppen gegeben wurden, desto mehr nahmen die Diversität und die Spannbreite der Antworten ab (range reduction effect), nach Angaben der Autoren, ohne dass sich die Gruppenleistungen signifikant verbesserten. Mit den gegebenen Informationen nahm allerdings die Sicherheit der Versuchsteilnehmer, mit ihren Einschätzungen richtig zu liegen, signifikant zu.

Parallel wurde ein „Wisdom of Crowd Indicator“ berechnet, der die Nähe der Samples zu den richtigen Antworten markierte. Dieser Indikator nahm mit zunehmender Information ab. Die Autoren folgerten, dass in Einzelfällen die richtigen Antworten mit zunehmender Konvergenz der Ergebnisse dann deutlich außerhalb der Gruppenpositionen liegen konnten und nicht einmal mehr von einzelnen Versuchsteilnehmern (mit extremeren Positionen) berührt wurden. Die Gruppen bewegten sich also kollektiv von der richtigen Antwort weg, während die subjektiven Sicherheiten (confidence) der Teilnehmer anstiegen.

In der Diskussion folgerten die Autoren dann, dass die Diversität der Meinungen bei Beratungsprozessen erhalten bleiben müsse und Konvergenz kein Qualitätsmerkmal an sich darstelle. Soziale Einflüsse und Konformität sollten möglichst gering gehalten werden.

Meine ausführliche Arbeit (ca. 40 Seiten) über kognitive Verzerrungen mit Einfluss auf die Zukunftsforschung veröffentliche ich gerade bei Epubli. Dort kann man sie demnächst als kleines Bändchen bestellen.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“

Hier finden Sie das erste Kapitel seiner Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Shutterstock
Text: Gast
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