Wer bislang sagte, die politischen Parteien ähnelten sich und die Unterschiede in den wesentlichen Fragen seien verwachsen, musste damit rechnen, wechselweise oder synchron als Verschwörungstheoretiker oder als „rechts“ (= rechtsradikal) hingestellt zu werden. Das Gleiche galt für diejenigen, die von einer grünen Hegemonie sprachen. Und nun das! Gestern stellte ich in Berlin auf der Bundespressekonferenz Annalena Baerbock und Robert Habeck genau dazu zwei Fragen. Und sie bestätigten in ihren Antworten faktisch genau das, was gestern noch als Verschwörungstheorie galt. Baerbock hält mit 15 Prozent Stimmenanteil einen allgemeinen Wählerauftrag für eine „besondere Rolle“ bei der Regierungsbildung für erteilt. Habeck sagt recht unverblümt, dass die alte „politische Lagerwelt“ nicht mehr existiere. Ich halte beide Aussagen für so wichtig, dass ich hier meinen Wortwechsel mit den beiden Parteichefs im Wortlaut wiedergebe – damit Sie besser zwischen den Zeilen lesen können (anzusehen sind die Aussagen hier).
FRAGE REITSCHUSTER: “Eine Verständnisfrage, Frau Baerbock. Sie haben gesagt, klarer Auftrag für Veränderungen. Auf Nachfrage sagten Sie, das haben Sie aus Gesprächen im Wahlkampf bekommen. Das Wahlergebnis ist ja aber so, dass die regierenden Parteien eine Mehrheit haben. Können Sie erklären, wo das der Auftrag für die Veränderung ist? Und die zweite Frage: Das Dilemma, wenn Sie (Die Grünen) mit der CDU zusammengehen, ist das für Ihre Wählerschaft eine riesige Zumutung. Umgekehrt bei der FDP, wenn sie zu Scholz geht, ist das für deren Wählerschaft eine riesige Zumutung. Sehen Sie da irgendeinen Ausweg aus diesem Dilemma? Wer beißt da in den sauren Apfel? Wie wollen Sie das den anderen schmackhaft machen? Ich sehe es nicht, aber vielleicht haben Sie das Ei des Kolumbus. Danke.”
ANTWORT BAERBOCK: “Auf die erste Frage, das sieht man ja auch an allen Befragungen, die stattgefunden haben – was sind die wichtigsten Themen in diesem Land? Was erwarten die Menschen eigentlich von der neuen Bundesregierung? Auch wenn uns leider all diese Menschen nicht komplett gewählt haben, sind die Erwartungen klar und deutlich: Dass Deutschland eine Modernisierung braucht, dass wir in diesem Land dafür sorgen müssen, dass die großen, großen Fragen auch der sozialen Gerechtigkeit – das ist eins der zentralen Themen, weswegen Menschen ihre Wahlentscheidung bei dieser Wahl getroffen haben – dass die angegangen werden, gerade nach anderthalb Jahren Pandemie. Und einer Partei, die genau dafür, für diese Erneuerung, angetreten ist, kommt bei so einer Regierungsbildung eine entscheidende Rolle zu. Ja, so sehen wir unsere Verantwortung als Grüne, auch wenn wir uns erhofft und gewünscht hätten, dass sich das in den Stimmen auch noch etwas deutlicher ausgetragen hätte.”
ANTWORT HABECK: “Es ist schon, wie Sie sagen. Die Partei, die – in klassischen Termini gesprochen, die so, meiner Ansicht nach, nicht mehr existieren – das Lager wechseln muss, hat die größere Zumutung zu tragen. Das ist völlig klar. Das kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Wir sind ja 2017 in eine Jamaika-Koalition eingestiegen, die einen guten Koalitionsvertrag hatte. Ich weiß aber, dass ich auf dem Parteitag gesagt habe: “Kann sein, dass wir jetzt gerade eine Entscheidung treffen, die uns in den Abgrund führen wird. Und vielleicht sind wir in fünf Jahren nicht mehr da, weil wir jetzt das ‘Lager’ wechseln.” Ich glaube nur, dass diese Lagerwelt nicht mehr die Wirklichkeit repräsentiert. So ist das Land nicht mehr. Wir haben nicht mehr ein linkes und ein rechtes Lager, sondern es gibt – auf der Landesebene schon lange zu besichtigen – die kunterbuntesten Formen von Bündnissen. Und die Gesellschaft ist auch kunterbunter geworden. Und die politischen Einstellungen gehen quer durch Familien, Freundschaften, Freundeskreise und Arbeitskollegen hindurch. In gewissem Sinne holt ja Deutschland gerade das nach, was sich als gesellschaftliche Veränderung in den letzten achtzehn Jahren, zwanzig Jahren ereignet hat. Trotzdem ist natürlich die politische Voreinstellung so, wie Sie gesagt haben. Die Antwort kann ja nur sein, dass jede Partei sich in dem Bündnis wiederfinden muss. Also. Und deswegen haben wir gestern Abend immer betont – und das ist wichtig zu verstehen –, dass Rot-Grün zwar eine gewisse politische Nähe hat, aber die Ampel nicht rot-grün plus ein bisschen gelber Kitt ist. Weil die Zahlen einfach nicht reichen. Sondern eine Ampel – und das würde respektive auch für Jamaika gelten – folgt einer komplett eigenen, neuen Logik. Jede Partei muss das Bündnis aus sich selbst heraus tragen. Und das zu verstehen ist der erste Weg überhaupt, dazu zu kommen, so ein Bündnis angehen zu können, schmieden zu können. Wenn man mit der Schere im Kopf losläuft, es gibt ein Lager und es hat jetzt nicht ganz gereicht und es muss jetzt die eine Partei quasi den Verrat am anderen Lager begehen, dann kann man es auch gleich sein lassen. Es muss was Neues entstehen. Und dieses “neue Entstehen” ist kompliziert, aber natürlich auch extrem reizvoll. Es könnte schlimmere Antworten geben für Deutschland, als dass was Neues entsteht, in einer neuen Zeit. Es könnte ja auch geradezu eine Verführungskraft haben, Politik attraktiv zu machen. Ist eine harte Übung, mit vielen Zumutungen verbunden, auch nochmal neu nachzudenken, wie Debatten, Wahlkämpfe in der Vergangenheit geführt wurden. Wen man in der Vergangenheit schön doof fand und mit dem man jetzt vielleicht oder mit der man jetzt vielleicht über Jahre am Kabinettstisch sitzen muss. Und dann muss sich ja sofort die Einstellung ändern. Das Kabinett selber muss ja auch eine verschworene Gemeinschaft werden. Aber hey, es kann was Neues entstehen! Deutschland, hallo (winkt), schlaft Ihr noch? Es kann was Neues entstehen. Ist ja eigentlich eine coole Situation. Also vielleicht mit dem Spirit da reinzugehen, kann ja auch eine Energie freisetzen und auf die setzen wir.”
Bild: Boris Reitschuster/RTL/Ekaterina QuehlText: br