Ein großes Übel: Die Wahl des kleineren Übels Christian Lindner ist kein politischer Messias

Von Alexander Wallasch

Eines der sich am zähesten haltenden Wahlverhalten ist das des kleineren Übels. Denn es bedeutet, dass sich der Wähler bereits im Vorfeld der demokratischen Mehrheitenfindung gewissermaßen einer kleineren Mehrheit anpasst, dem seiner Meinung nach kleineren Übel. Im Folgenden soll die Behauptung debattiert werden, ob die Zeit des kleineren Übels endgültig vorbei ist. Die FDP beispielsweise hat sich so durchgängig seit ihrer Gründung Posten und Pöstchen gesichert. Sie war für viele eben immer das kleinere Übel.

Erstaunlicherweise könnte dieses FDP-System 2021 besser funktionieren als jemals zuvor: Die FDP wird sich mutmaßlich bis auf wenige Stimmen an die Grünen herantasten und bei etwa 15 Prozentpunkten landen, wenn nicht noch darüber. Aber bleibt die FDP deshalb die klassische und erfolgreichste Schnorrerpartei? So darf man das sehen. Noch mehr angesichts dieser Politik eines Christian Lindner, der etwas perfektioniert hat: Vor dem Wähler zu erscheinen, als vertrete er eine bestimmte kantige Position, während er sich nach allen Seiten hin ergebnisoffen positioniert. Ein Kunststück!

Wer in den letzten Wochen beispielsweise die Klimadebatte mitverfolgt hat, der findet keine einzige liberale Position, die irgendwie relevant von der der Grünen abwiche. Gleichzeitig hält sich Lindner die rechte Flanke weiter offen – aber nur für den Moment des Wahlkampfs. Danach gibt er wieder den Kämpfer gegen das Böse – eine Legislatur lang hat sich die FDP unter ihrem Parteivorsitzenden darin gefallen, Oppositionsarbeit darauf zu beschränken, sich vom Oppositionsführer AfD abzugrenzen – öfter und ausdauernder kann man sich den etablierten Parteien ja kaum als Koalitionspartner anbieten: Das gesamte politische Wollen von Lindner war über vier Jahre darauf ausgerichtet, im Herbst 2021 Bundesminister zu werden.

Christian Lindner ist 2017 mit AfD-Positionen in den Bundestag gewählt worden – eiskalt berechnend, dass er damit punkten kann. Und anschließend, als die Sitze vergeben waren, hat er diese rauen Positionen sofort fallen lassen. Sicher wäre es ein Wagnis gewesen, dieses Manöver 2021 noch einmal zu wiederholen. Aber auch hier liegt die FDP mit ihrer politischen Trickkiste weit vorn: Christian Lindner nahm sich selbst bis vor wenigen Wochen aus der Schusslinie und überließ einfach Wolfgang Kubicki das Feld. Der trommelte besonders laut, ließ keine Debatte aus und hatte zu allem und nichts eine populistische Haltung. Im Zweifelsfall und wenn man sich vergaloppiert hätte, wäre Lindner unbeschadet geblieben. Kubicki als potentielles Bauernopfer aus Altersgründen. Damit hätte der FDP-Grande sicherlich in jüngeren Jahren nicht gerechnet.

Denn auch das gehört zum Konzept des kleineren Übels, welches die FDP über viele Legislaturen hinweg perfektioniert hat: Die personenbezogene Aufstellung. Keine Partei kann es sich heute noch leisten, sich über eine einzige politische Gestalt zu definieren, die FDP geht das Wagnis ein, sie hatte 2017 nichts zu verlieren, war 2013 krachend an der Fünfprozentklausel gescheitert.

Viele haben das bereits vergessen, aber die FDP wurde damals abgestraft wie kaum eine Partei zuvor: Die Partei verlor gegenüber der vorangehenden Legislatur 9,8 Prozentpunkte und landete bei 4,8 Prozent der Wählerstimmen. Damals dachten viele, und nicht ohne Schadenfreude, das wäre nun das Ende des Surfens auf dem Prinzip des kleineren Übels. Falsch gedacht: 2021 wird die FDP mit dieser dem Prinzip nach antidemokratischen Platzhalterfunktion wieder einen besonders großen Erfolg einfahren.

Selbstverständlich haben die ehemaligen Volksparteien es der FDP leicht gemacht: Die Union muss nach 16 Jahren Merkel zwangsläufig in die Opposition und die SPD hatte sich in der großen Koalition unter Merkel fast vollständig pulverisiert – daran ändert auch das Strohfeuer dieses Phönix-aus-der-Asche nichts: Olaf Scholz’ Oberwasser hat keine Substanz, es kommt nur zur rechten Zeit für die Sozialdemokraten. Und es basierte ebenfalls zu großen Teilen auf dem System des kleineren Übels.

Was aber, wenn das kleinere Übel das Übel unserer Zeit wäre? Das kleinere Übel braucht notwendigerweise starke Volksparteien, zwischen denen es hin- und herpendelt. Wo aber diese Volksparteien vakant geworden sind, sich Union, SPD und jetzt auch die Grünen bei etwa zwanzig Prozentpunkten eingependelt haben, kann die Wahl des kleineren Übels unvermittelt zu einem großen Übel werden. Regulativ und Kontrollfunktion viel größerer Partner sind mit dem Schrumpfen der ehemaligen Volksparteien ebenso wie mit dem von den öffentlich-rechtlichen und den privaten Medien künstlich erzeugten Allzeithoch der Grünen vakant geworden. Und damit aus der Zeit gefallen. Das ist ein Paradoxon der Bundestagswahl 2021.

Die FDP ist ein Widergänger ihrer selbst – und das macht sie auch so gefährlich. Für den Wähler ist diese Partei wie eine unbekannte Zutat im Backrezept der Demokratie, die ihren Geschmack noch während des Backens nach Belieben ändern kann, die im schlimmsten Falle den ganzen Teig versauen kann. Der Wähler weiß nicht, was er bekommt aus der vergifteten Pralinenschachtel – aber er empfindet es als das kleinere Übel, nicht zu wissen, was kommt, weil ihm das, was von den ehemaligen Volksparteien kommt, nicht gefällt.

Das allerdings wäre das Ende des demokratischen Diskurses: Die FDP verkauft sich als Wundertüte. Aber Christian Lindner ist kein Überraschungsgast aus dem Ferrero-Ei. Wer wissen will, was er bekommt, der weiß es spätestens aus der vergangenen Legislatur ziemlich genau. 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.

Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.

Bild: Tobias Arhelger/Shutterstock
Text: wal

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