Von Vera Sandström
Zwei in Corona-Zeiten im Vorbeigehen aufgeschnappte Aussagen meiner Mitmenschen haben mich sehr viel über unsere Gesellschaft gelehrt. Zum einen war dies ein sendungsbewusster und wortreicher Kollege, der so zur Jahresmitte 2020 mir einen kleinen Vortrag darüber hielt, wie doch früher in der Erziehung mehr das Gemeinschaftliche betont worden sei und die Leute heute alle so egoistisch seien. Soweit ja nichts Besonderes, das sagt man als egoistischer Konformist nun mal, um sich aufzuwerten, wenn man selbst voller sozial erwünschter und selbstloser Persönlichkeitszüge erscheinen möchte, während die anderen doch immer nur an sich denken. So ein 08/15 Ego-Geschwätz wäre nicht weiter erwähnenswert. Aber dann brachte er einen Spruch, der bei mir hängen blieb:
Früher haben Menschen gewusst – wenn ich befolge, was man mir sagt, dann bin ich immer auf der richtigen Seite, man wird mir nichts anhaben können und mir wird nichts Schlechtes passieren.
Er sagte das so voller Bewunderung, dass sein Bedauern darüber, heute sei dies für ihn leider nicht mehr so, nur folgerichtig war.
Die andere Aussage schnappte ich bei einem Gespräch im Schwimmbad zwischen zwei Badegästen auf. Einer von ihnen stand neben der Umkleide und war sich unklar darüber, ob in dem Bereich noch oder wieder Maskenpflicht herrschte, da innerhalb der Umkleiden und im Bad keine Maske getragen werden musste. In seiner Unsicherheit setzte er die Maske auf und sagte leise zu seiner Begleitung:
Keine Ahnung, ob das irgendeinen Sinn hier macht, links Maske, rechts keine Maske, aber ich bin froh darüber, dass wir wieder ins Bad dürfen. Nie wieder Lockdown. Da mache ich jeden Blödsinn mit, alles was die wollen.
Die Begleitung nickte anerkennend.
Diese Sätze, sie stehen für mich stellvertretend für das gesellschaftliche Denken im Deutschland des Jahres 2021. Sie sind für mich absolut typisch „deutsch“. Aber was sagen sie eigentlich aus?
Die erste Aussage fand ich vor allem deshalb so bemerkenswert, weil in den meisten Kulturen dieser Welt eine solche Aussage Befremden auslösen würde. Was für ein idealisiertes und lebensfernes Bild von Führung! Als ob Menschen überall auf der Welt nicht zuerst an sich denken und eigene Ziele verfolgen würden, unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung. Es ist eben doch so: Mir als Folgsamem kann sehr wohl etwas Schlimmes passieren. Wenn ich befolge, was man mir sagt, dann nutzt das primär doch immer den „Befehlsgebern“ und nicht mir. Mir nutzt das wenigstens durch „Nicht-Bestrafung“ und bestenfalls durch „Gewinnbeteiligung“, aber ich werde als schwächerer Part mit ziemlicher Sicherheit von meinen Befehlsgebern wenigstens teilweise für eigene Ziele ausgenutzt. Noch dazu ist die Gefahr sehr real, von allen Menschen, die mich ausnutzen oder auch nur beim Ausgenutzt-Werden sehen, zum „Dank“ zutiefst verachtet zu werden. Und im Extremfall riskiere ich für die Ziele und Egoismen meiner Führer Gesundheit und Leben.
Apropos andere Kulturen: Im russischen Slang gibt es für solch Folgsame sogar ein sehr negatives Wort („Loch“, aber nicht mit dem deutschen Wort in Verbindung). Ein „Loch“ ist jemand, der alles tut, was man ihm sagt, nie aufbegehrt und dadurch zum Gespött wird. Folgerichtig möchte im Osten Europas niemand ein „Loch“ sein, und deshalb macht niemand das, was man ihm oder ihr sagt, simuliert höchstens Folgsamkeit. Diese gesellschaftliche Konformität im Nicht- bzw. Schein-Befolgen von Regeln ist wiederum auch nicht besonders intelligent. Aber ich möchte gar nicht werten, in keine Richtung. Es geht mir um etwas anderes.
Wenn ich davon ausgehe, dass das blinde Befolgen mir als Individuum (oder eher als „kleines Licht“) Sicherheit gibt, dann stimmt das in der deutschen Gesellschaft ja teilweise. Befehle zu befolgen hat in Deutschland bis heute Tradition und der Befehlsgeber wird in der Regel die Schuld nicht beim Folgsamen suchen (auch das ist sehr deutsch), sondern, wenn, dann zuerst beim Aufmüpfigen (streng bestrafen!) und dann beim Schlampigen (tadeln, bis er glaubhaft Besserung gelobt). Ja, man kann dabei auch kollektiv auf die ganz falsche Bahn geraten – ohne erkennbares und wirksames gesellschaftliches Korrektiv, und das, obwohl viele dem gemeinsamen Weg innerlich skeptisch bis abweisend gegenüber stehen. Gerade in Deutschland glaubte man diese Lektion aus der Geschichte gelernt zu haben. Hat man aber offenbar nicht.
Diese innere Skepsis des Folgsamen schwingt in der zweiten Aussage mit, führt aber nicht zu Widerstand oder wenigstens Sabotage durch Simulation, sondern paradoxerweise zu noch mehr echter Folgsamkeit. Zumal sich die Strategie des Befolgens für den Einzelnen in der deutschen Gesellschaft trotz aller Risiken immer noch als die am wenigsten riskante darstellt. Wenn wir falsch liegen, dann doch alle zusammen und ich bin nicht individuell dafür verantwortlich, niemand zeigt mit dem Finger auf mich, ich muss mich für nichts rechtfertigen – jedenfalls, solange meine mich schützenden Befehlsgeber noch etwas zu sagen haben. Deshalb möchte ich, dass sie möglichst für alle Zeiten meine Befehlsgeber bleiben, nehme sie bereitwillig in Schutz.
Nicht der Folgsame wird in Deutschland verachtet, sondern der Aufmüpfige als Gesellschaftsfeind an den Pranger gestellt, der es wagt, das Glück aller in Frage zu stellen, ihm nicht zu folgen. Denn diese aufmüpfige Person spricht ja dieselbe innere Skepsis an, die sehr viele Folgsame in sich tragen, nur er WAGT es, der eigenen inneren Skepsis und nicht dem allgemeinen Befehl zu folgen (was nimmt er sich bloß heraus?). Er beugt sich erkennbar nicht der gesellschaftlichen Notwendigkeit, der sich andere gebeugt haben, weil sie dachten, man habe keine Wahl und müsse das jetzt. Noch schlimmer wird es nur, wenn der Aufmüpfige seine Skepsis und seinen Widerstand nicht nur heimlich, sondern öffentlich und für alle sichtbar auslebt, vielleicht sogar Verständnis einfordert wie der Fußballer Kimmich. Was erlauben Kimmich!
Dann stellt man sich „als Gesellschaft“ demonstrativ und voll echter Überzeugung hinter (oder besser noch vor) den oder vielmehr die sich despotisch gerierende Gutsherrin, die mit dem Regelwerk natürlich nicht aus irgendwelchen eigenen Motiven etwa ihre Untertanen instrumentalisiert oder gar „Kinder quälen möchte“, sondern natürlich nur das Wohl der ihr anvertrauten kleinen Lichter im Blick hat.
Voller echter Überzeugung, weil: Wenn man die Regeln der Obrigkeit gegen Abtrünnige verteidigt, dann spürt man die innere Skepsis nicht mehr, das ist das Schöne daran.
Nichts fürchten die Folgsamen mehr, als dass ihr Narrativ von „ich hatte keine Wahl, ich musste das tun“ plötzlich zusammenbricht und sie vor sich selbst dastehen wie ein „Loch“, das zu schwach war, sich für eigene Überzeugungen und Interessen einzusetzen. Und so schließt sich der Kreis der unterschiedlichen Kulturen dann doch. Denn ein „Loch“ in den eigenen Augen möchte am Ende niemand sein.
Die Autorin (m/w) ist Psychologin und Therapeutin und schreibt hier unter Pseudonym.
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