Was der Erfolg der Taliban mit der Corona-Politik gemeinsam hat Wie die westliche Missionierung immer wieder über die eigene Hybris stolpert

Ein Gastbeitrag von Vera Sandström

Der widerstandslose Fall Kabuls und Afghanistans an die Taliban ist für westliche Politiker und Ideologen ein schwerer Schock. Es ist eine Art „Blitzsieg“ ganz ohne Krieg für die Taliban. Ganz offensichtlich wollen die Afghanen keinen Krieg mehr (und keine Korruption und Fremdherrschaft) und erwarten von den Taliban eine Befriedung. Und vielleicht haben die Taliban, wie sie behaupten, aus ihren Fehlern Ende der 1990er Jahre gelernt und sind tatsächlich ein bisschen weltlicher geworden, so dass Musik, Sport und Schulbildung für Mädchen für sie keine Tabus mehr sind. Man wird sehen. Für deutsche Soldaten und deren Angehörige, die ihr Leben in Afghanistan riskiert und manche auch verloren haben, ist die Entwicklung der letzten Tage in Afghanistan kaum auszuhalten, weil sie die Sinnlosigkeit des Einsatzes und die Dummheit der politischen Entscheidungsträger dermaßen vor Augen führen, dass man sie nicht mehr davor verschließen kann. Es war im Sinne der „humanitären Mission“ einfach alles umsonst, und es hat ganze 20(!) Jahre gedauert, diese bittere banale Wahrheit in ihrer Unvermeidbarkeit zu erkennen.

Und überhaupt diese Hybris westlicher Politiker nach dem Zerfall des Ostblocks! Für dieselben Leute, die in den 1980er Jahren voller Pessimismus auf Demos das unvermeidbare atomare Ende der Welt beklagten und sich bestenfalls den ewigen Kalten Krieg einer bipolaren Welt vorstellen konnten, schien plötzlich alles möglich: „Wir“ können die Welt nun so gestalten, wie „wir“ es für richtig halten. Natürlich nur zum Guten! Vordergründig machen „wir“ das aus humanitären Gründen und zur eigenen Gefahrenabwehr (Terrorismus!), aber diese Wilden müssen doch trotz ihrer Rückständigkeit erkennen, dass es nur das Beste für sie ist, was „wir“ mit ihnen vorhaben. Denn „wir“ sind die Guten, per unserer eigenen Definition. Parallelen zur rassistisch motivierten Missionierung und Kolonialisierung entlegener Regionen vergangener Jahrhunderte sind unschwer zu erkennen – mit dem Unterschied, dass westliche politische Eliten inzwischen jeden Realitätssinn verloren haben und davon ausgehen, dass man hier kurz und schmerzlos Erfolg haben kann ohne viel Aufwand oder gar Widerstand. Wer universelle Werte vertritt, braucht ja nicht zu relativieren!

Das „wir“ ist deshalb in Anführungszeichen, weil diese „Weltverbesserung durch Krieg“ immer ein Elitenprojekt war, niemals mehrheitsfähig. CSU-Urgestein Gauweiler hatte vor Jahren ohne Zweifel Recht, als er darauf hinwies, dass eine etablierte Partei, die für das Ende der Auslandseinsätze wäre, für eine Kooperation statt Konfrontation mit Russland und für die konsequente Einhaltung des Euro-Stabilitätspaktes und der Ausländergesetze, leicht auf 50% Zustimmung käme – wo doch unsere Parteienlandschaft angeblich so zersplittert sei.

Failed States

Was also haben wir nur 30 Jahre nach dem Zerfall des Warschauer Paktes statt eines Triumphzugs westlicher Werte bekommen? Nein, es findet in Kabul kein bunter CSD statt. Dafür sind überall, wo man sich eingemischt hat, am Ende völlig kaputte „Staaten“ entstanden, angefangen mit dem Kosovo, über den Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan, bald auch Mali. Failed States, die in der Bevölkerung Hoffnungslosigkeit, kriminelle Strukturen, Flüchtlingsströme und nicht zuletzt Terrorismus produzieren, den man doch vorgab zu bekämpfen. Islamistischer Terrorismus ist inzwischen in Westeuropa so real angekommen und „normal“ geworden, dass man seitens Politik und Medien beschlossen hat, Meldungen darüber zu verharmlosen, zu zensieren und zu verstecken – was wiederum die Werte des Westens von innen noch mehr zersetzt und aushöhlt als der Terrorismus. Denn, ohne dass dies laut ausgesprochen wird, ist jedem denkenden Menschen klar, dass diese Vervielfachung des Terrorismus im Westen eine Reaktion auf unsere Einmischungsversuche in Angelegenheiten sind, die nicht unsere Angelegenheiten sind. Dass also unsere politischen Eliten diesen Mist zu verantworten haben.

Ich gebe zu, ich bin wütend auf diese politischen Idioten und Analphabeten, die die Möglichkeit einer echten Weltverbesserung nach dem Ende des Ostblocks so vermasselt haben. In nur 30 Jahren! Die früher nüchterne und defensive Haltung des Westens, ausgehend davon, dass Zusammenhänge grundsätzlich kompliziert und nicht vorschnell oder gar emotional zu bewerten sind, ist einer „wir haben das Recht und den Auftrag, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und wir bewerten nach unseren, da universellen, Normen, was richtig ist“-Ideologie gewichen. Die frühere Erkenntnis einer möglichen gegenseitigen Vernichtung, bei dem jeder einen Teil der Wahrheit für sich beanspruchen könnte ist im heutigen politischen Westen einer Illusion der Unverwundbarkeit gewichen, bei der wir Fehlverhalten anderer nach eigenen Maßstäben bestrafen können, uns selbst aber niemand etwas kann und schon gar nicht darf. Und wenn es dann anders kommt, dann „hätte man das zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht wissen können“.

Das psychologische Hauptproblem dahinter ist ein merkwürdiger absoluter Kontrollanspruch, der typisch geworden ist für westliche Eliten (Politik und Medien). Dabei ist dies eine anmaßende Illusion von Kontrolle, durchaus typisch für eine eurozentristische, „weiße“ Sicht auf die Welt, die „wir“ ja angeblich abgelegt haben. Und an dieser Kontrollillusion können westliche Gesellschaften nur scheitern.

Beispiele für unseriösen Kontrollanspruch und die Schlussfolgerungen daraus:

– Was in fremden Ländern passiert, können wir entscheidend beeinflussen. Und da wir können, sollten wir bereit sein, alles moralisch Gebotene dafür zu tun.

– Die Ausbreitung eines Virus können wir entscheidend beeinflussen. Und da wir können, sollten wir alles moralisch Gebotene dafür tun. Wir sollten es am besten ausrotten, damit wir wieder so unbeschwert leben können wie früher.

– Die Veränderung des Klimas können wir entscheidend beeinflussen. Und da wir können, sollten wir alles moralisch Gebotene dafür tun.

Banalisierung schwieriger Zusammenhänge

Würden die jeweiligen Prämissen stimmen, wir also wirklich entscheidenden Einfluss auf die jeweiligen Entwicklungen haben, könnte man gesellschaftlich darüber diskutieren und demokratisch entscheiden, ob und mit welchem Aufwand wir Einfluss nehmen. Aber ich denke nicht, dass wir diesen entscheidenden Einfluss überhaupt haben, auch weil wir die komplizierten Zusammenhänge der jeweiligen Entwicklungen nicht ausreichend verstehen können (und wollen). Vielmehr werden schwierige Zusammenhänge banalisiert und die Themen von den Eliten und Entscheidungsträgern für ihre eigenen Interessen gekapert. Und diese eigenen Interessen sind dieselben wie immer, seit es Menschen gibt: Macht, Einfluss, Geld, Status.

In diesem Zusammenhang habe ich die kleine Hoffnung, dass der Sieg der Taliban die allgemeine Inkompetenz und Planlosigkeit von Politik und Medien abseits von Macht, Einfluss, Geld, Status sichtbarer macht (ähnlich wie in der Sowjetunion 1989) und zukünftig für etwas mehr Vernunft westlicher Politik im Umgang mit den Problemen dieser Welt sorgt. Diese Hoffnung ist zwar nur sehr gering, aber dann wäre der 20-jährige Krieg in Afghanistan nicht ganz umsonst gewesen.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
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Die Autorin (m/w) ist Psychologin und Therapeutin und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock
Text: Gast

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