Meine drei Tage in Moskau brachten mir mehr Eindrücke und Emotionen als normale drei Monate in Berlin. Der erschütterndste Moment war, als mir ein russischer Medizinischer Assistent den Abstrich für den PCR-Test abnahm, ohne den man heute nicht mehr ins eigene Land zurückfliegen darf. Nach vielen Berichten, wie unschön und teilweise auch schmerzhaft diese Prozedur ist, war ich auf das Schlimmste gefasst. „Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden es kaum spüren“, hatte mir der freundliche junge Mann zwar gesagt – aber dem traute ich nicht. Als ich dachte, jetzt geht es erst richtig los, sagte er mir: „Danke!“ Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Als ich ihm sagte, dass ich mir das anders vorgestellt hatte, musste er lachen: „Deutsche sagen mir das öfter, dass es bei ihnen ganz anders gemacht wird, richtig brutal.“ Mir blieb meine Freude im Halse stecken. Die Assoziationen, die mir durch den Kopf schossen, verkneife ich mir lieber. Ich war erschüttert. Woher kommt dieser Zug zum Exzessiven? Auch um den Preis, Menschen Schmerz zuzufügen? Ich will diesen Gedanken gar nicht weiter ausführen, ich lasse Sie damit allein. Mir machen meine Schlussfolgerungen Angst. Große.
Erschrocken bin ich in Moskau auch über mich selbst. Erst am dritten Tag gewöhnte ich mich wieder an ein normales Stadtleben. An das urbane Lebensgefühl, daran Sport zu machen, zu schwimmen, in die Sauna zu gehen und danach den eigenen Körper ganz anders zu fühlen: An all das, was früher selbstverständlich war und jetzt in Deutschland so sehr fehlt. Es macht mich fassungslos, wie schnell man sich an den Verlust der Freiheit, an den Verlust der Selbstbestimmung über den eigenen Körper gewöhnt. Ich habe mich zumindest geistig nie damit abgefunden – aber sehr viele in Deutschland verdrängen ja schlicht das Problem und tun so, als gäbe es das nicht. Dieses Maß an Unfreiheit, das selbst für moderne Diktaturen unvorstellbar ist. Putins Russland ist eine Autokratie, und die Mehrheit der Menschen hat sich damit abgefunden, dass sie politisch machtlos ist. Doch auch Putin musste schnell merken, dass sich die Russen ihre Alltagsfreiheit nicht nehmen lassen. Mit dem landestypischen zivilen Ungehorsam haben sie ihren Herrschern nach kurzem Lockdown wieder ihre privaten Freiheiten abgerungen. So widersetzen sie sich dem Zwang zur Maske; jeden Tag demonstrieren in der U-Bahn Millionen, dass sie auf staatliche Vorschriften pfeifen. Selbst der Polizeistaat ist damit überfordert, sieht weg. Dass Russen einander denunzieren oder belehren wegen der Masken, ist kaum vorstellbar (auch wenn es Einzelfälle geben mag).
Im Zweifelsfall lieber früher sterben
Ganz anders im freien Westen in Deutschland. Wo in Russland Ungehorsam, Staatsskepsis und Hang zur Anarchie vorherrschen, ist es bei uns Kadavergehorsam, blindes Vertrauen in die Regierung und ein Hang zur deutschen Ordnung. Von den vielen Russen, mit denen ich sprach, hatte keiner Angst vor Corona. Man hat Respekt vor der Krankheit, sieht sie als gefährlich an – kaum jemand hatte keine Opfer im Bekanntenkreis zu vermelden, aber man hält es für unmöglich, sie zu stoppen. Wenn ich von der Null-Covid-Strategie in Deutschland erzählte, bekam ich Lachen und/oder Kopfschütteln zur Antwort: „Wollt Ihr wieder einen totalen Krieg, diesmal gegen ein Virus?“ Monatelang geschlossene Restaurants, Cafés, Sportstätten, Ausgangssperren – die Russen können das nicht fassen. „Wir sterben doch alle einmal, lieber früher und mit einem normalen Leben, als ein paar Jahre später, aber unlebendig davor“ – diese Aussage hörte ich sinngemäß immer wieder.
Selten wurde mir der gigantische Unterschied in der Mentalität zwischen Russen und Deutschen so deutlich wie in diesen Corona-Tagen. Wenn die Russen einander umarmen, als gäbe es das Virus nicht, zusammen feiern, auch minimale Hygieneregeln geradezu demonstrativ missachten. Während in Deutschland viele allein im Park eine FFP2-Maske tragen (die in Russland gar nicht zu sehen sind) oder alleine im Auto oder wenn sie auf offener Strecke mit dem Fahrrad unterwegs sind, ist der Verzicht auf Maske oder ihr demonstrativ falsches Tragen in Moskau allgegenwärtig. Fatalismus trifft auf Vollkasko-Mentalität. Kollektive Angst contra kollektive Sorglosigkeit. Hang zur Denunziation versus Neigung zum Zusammenhalt gegen den Staat und seine Regeln.
Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile. Und es läge mir fern, mich als Richter aufzuspielen. Es ist fast schon tragikomisch, dass ausgerechnet die Züge, mit denen ich in 16 Jahren Russland immer wieder haderte, wie Fatalismus und Abneigung gegen Regeln, jetzt in Corona-Zeiten dafür sorgen, das Leben erträglicher zu machen. Zumindest in meinen Augen. Für viele mag das kollektive Ignorieren der Russen von Corona-Regeln befremdend und beängstigend sein. Das respektiere ich. Mir persönlich ist die russische Art näher – entspannt mit dem Virus umzugehen. Kommt man auf das Thema zu sprechen, ist zumeist sofort der legendäre Galgenhumor im Spiel. Und das, obwohl fast jeder jemanden kennt, der mit Covid-19 gestorben ist. Fast immer wird dann betont, dass der Verstorbene vorerkrankt war. Und dass man eben mit Krankheiten leben müsse. Und eben auch sterben durch sie. Kein einziger Russe sagte mir in den drei Tagen, dass er Corona für ungefährlich hält. Aber sehr viele sagten: „Ich will nicht aus Angst vor dem Tod zu leben aufhören“. Und: „Dem Schicksal springt keiner von der Schippe.“
Bild: Boris Reitschuster
Text: br
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