Impfpflicht? Wir sehen an England, dass es auch ohne geht Die Impfung und der Preis der Grundrechtsverletzungen

Von Hubertus Voigt

Es gibt sie noch: Die qualitativ hochwertigen Berichte in den sogenannten „Mainstream-Medien“! Wenn auch leider hinter eine Bezahlschranke versteckt. Wir sehen dies an einem guten Beitrag von Prof. Dr. Kai Möller, der Rechtsprofessor an der London School of Economics in England und auf dem Gebiet der Menschen- und Grundrechte hoch anerkannt ist. In diesem Bereich beschäftigt er sich mit theoretischen Überlegungen über moralische, juristische, verfassungsrechtliche und gesellschaftsrechtliche Einflüsse und Auswirkungen der gesellschaftlichen Verpflichtung zur Menschenwürde, Freiheit und Gleichstellung.

Schon der Einstieg kommt auf einen wichtigen Punkt:

Es liegt etwas Totalitäres darin, von einer Person unter Strafandrohung zu verlangen, sich eine Flüssigkeit in den Körper injizieren zu lassen. Gerechtfertigt wäre das nur im Ausnahmefall, sagt Rechtsprofessor Möller. Ein entscheidendes Argument gegen die Impfpflicht findet man in England.

Prof. Möller zitiert den Philosophen Ronald Dworkin, der vornehmlich mit Beiträgen zur Rechtsphilosophie, politischen Philosophie und Moralphilosophie bekannt wurde. Dieser sagte über die Natur der Grundrechte:

Rechte hindern den Staat daran, Dinge zu tun, die ansonsten im Allgemeininteresse liegen könnten. Am Offensichtlichsten ist dies im Falle absoluter Rechte, die den Kern der Menschenwürde schützen – wie zum Beispiel dem Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, dem Recht auf einen fairen Prozess, der Gedankenfreiheit und der Glaubensfreiheit.

Möller führt aus: Was auch immer der Staat dadurch erreichen kann, dass er Terrorverdächtige foltert, einen Teil der Bevölkerung der Zwangsarbeit unterwirft, Mitgliedern des organisierten Verbrechens ein faires Verfahren verweigert oder die Anhänger eines gefährlichen Irrglaubens einer Gehirnwäsche unterzieht: Diese Handlungen sind absolut verboten, weil sie mit der Menschenwürde des betroffenen Individuums unvereinbar sind.

Der Autor wendet sich dann der nun, auch von Neu-Bundeskanzler Scholz oder Alt-Bundespräsident Gauck und Kommissionspräsidentin von der Leyen (!) geforderten Impfpflicht zu. Er führt hierzu aus:

Ich habe großen Respekt für die Haltung, dass jegliche Impfpflicht eine unmittelbare Verletzung der Menschenwürde darstellt und damit kategorisch unzulässig ist. Es liegt etwas Dunkles und Hässliches, etwas Totalitäres darin, von einer Person unter Strafandrohung zu verlangen, sich gegen ihren Willen eine Flüssigkeit in den Körper injizieren zu lassen, die dort eine physiologische Reaktion auslöst.

Zwar hält er auch den Ausnahmefall für denkbar, bei dem dies dennoch vorstellbar sei. Aber selbst, wenn sie nicht in jedem Fall die Grenze zur Menschenwürdeverletzung überschreite, bewege sich die Impfpflicht stets recht nahe an dieser Linie. Daraus folgert der Autor, dass sie, wenn überhaupt, nur in absoluten Ausnahmefällen gerechtfertigt werden kann – woraus eben umgekehrt folgt, dass sie nicht allein dadurch gerechtfertigt werden kann, dass sie die Effektivität der Corona-Bekämpfung etwas verbessert.

Genau dieses Argument sei es aber, das von den Impfpflichtbefürwortern nun angeführt werde: Deutschland käme, so das Argument, durch weitere Corona-Wellen nur, wenn weitere schwerwiegende Eingriffe in viele andere Grundrechte vorgenommen würden. Weitere Lockdowns seien zudem für die Wirtschaft katastrophal. Prof. Möller findet diese Argumentation nur unter gewissen Umständen überzeugen(d). Er führt als Beispiel an:

Stellen Sie sich vor, dass die einzige Möglichkeit, eine große Anzahl von Kindern vor einem hypothetischen, für sie tödlichen Bakterium zu schützen, darin besteht, alle Erwachsenen gegen diesen Erreger zu impfen, um so dessen Zirkulation in der Gesellschaft zu unterbinden. Obwohl diese Tatsache in letzter Zeit sträflich ignoriert wurde, ist es eine zeitlose Wahrheit, dass eine Gesellschaft besondere Pflichten gegenüber ihren Kindern hat – und dass sie dem Wohlergehen von Kindern gegenüber dem von Erwachsenen den Vorrang einräumen muss. In meinem hypothetischen Beispiel wäre eine Impfpflicht vielleicht gerechtfertigt.

Die Realität sei aber anders, so der Rechtsphilosoph. Zunächst einmal, weil aktuell die Forderung nach einer Impfpflicht lediglich in Deutschland und Österreich aufkäme.

In seiner Wahlheimat England liegt die Inzidenz seit Juli zwischen 300 und 500; es gibt keine Impfpässe, wenige Masken, das Lebensgefühl ist frei und offen, und das staatliche Gesundheitssystem kommt bisher zurecht, obwohl es in britischen Krankenhäusern weniger als ein Viertel der Betten gibt, die in Deutschland zur Verfügung stehen. 

Woran liegt das denn nun? Möller stellt sich die theoretische Frage, ob diese beiden Länder wirklich alles probiert haben, um die Wahl zwischen Impfpflicht und Lockdown zu vermeiden: Könnte es vielleicht der Fall sein, dass die Impfpflicht nur die einfache und verlockende Antwort ist, die man gewählt hat, um politisches Versagen zu verdecken – und Schuldzuweisungen und Wut von den Politikern auf die Ungeimpften umzulenken? Ich bin in London noch kein einziges Mal von Bekannten, Kollegen oder – Gott bewahre – Fremden nach meinem Impfstatus gefragt worden. Die Ausgrenzung der Ungeimpften, die in Deutschland so hässlich und brutal betrieben wird, findet dort schlicht nicht statt.

Einen solchen Satz findet man sonst in Deutschland nicht. Impfpflicht zum Verdecken von politischem Versagen? Hat Neu-Bundeskanzler Scholz nicht als Vizekanzler bereits in den vergangenen fast zwei Jahren der Pandemie die gesamte Coronapolitik mit zu verantworten? Und fordert er jetzt daher vielleicht nicht ohne Grund gleich die Impfpflicht?

Interessant auch eine andere Beobachtung. In England würde das Impfprogramm von der Regierung und lokalen Verantwortlichen als großer Erfolg gefeiert und diese forderten die Bevölkerung auf, bei dieser Erfolgsgeschichte mitzumachen. Dabei ist die Impfrate in England ähnlich hoch wie in Deutschland.

Das Verhalten der englischen Regierung erinnert den Autor dieser Zeilen an den Schwimmunterricht seiner Kinder. Während in Deutschland überwiegend mit Aufrufen wie „Kopf hoch, nicht runter“, „nun streng Dich mal mehr an“ oder „Nein, nun zieh die Beine endlich mal kraftvoll durch“ Schwimmen gelehrt wird, machte Schwimmlehrer Ahmed es bei unserem Jüngsten anders: „Super machst Du das!“, „Klasse, weiter so, jetzt nur noch die Beine mehr durchziehen, dann bist Du olympiareif“. Ich will die Bürger nicht mit Grundschülern vergleichen, aber erkennen Sie den Unterschied des Ansatzes? Negativ auf der einen Seite, positiv verstärkend auf der anderen Seite. Sollte der „Griff zur Peitsche“ in Deutschland und Österreich kulturell bedingt sein? Wir wollen es doch nicht hoffen.

Prof. Möller fordert daher die deutsche Regierung auf, vor Einführung einer Impfpflicht darzulegen, wie es sein kann, dass in Deutschland unbedingt sein muss, was in keinem anderen europäischen Land erforderlich ist. Und führt weiter aus, dass es neben den rein sach- und fachlichen Argumenten auch ein tieferes, ein moralisches Problem gäbe.

Als Beispiel führt er die Hetzkampagne gegen den Profifußballer Joshua Kimmich an. Dieser hatte es ja abgelehnt, sich impfen zu lassen, obwohl er sich mit einer Impfung gegebenenfalls vor COVID-19 schützen könnte. Möller hierzu: Das Problem ist, dass das zwar der Fall sein mag, er aber als freier Mensch nicht durch eine medizinische Zwangsbehandlung zu seinem eigenen Schutz gezwungen werden darf.

Natürlich könne man anführen, dass bei einer schweren Erkrankung Kimmich ein Intensivbett belegen könne. Möller: Auch dies ist nicht überzeugend, da die Wahrscheinlichkeit, dass Kimmichs Covid-Infektion (die inzwischen eingetreten ist) schwer verläuft, angesichts seines Alters und Gesundheitszustands vernachlässigbar ist.

Das beste Argument für eine Impfpflicht für Kimmich ist das dritte, wonach geimpfte Menschen das Virus weniger häufig übertragen. Empirisch ist nicht unumstritten, wie groß dieser Unterschied ausfällt, aber wenn wir davon ausgehen, dass er ins Gewicht fällt, dann können wir sagen, dass Kimmichs Impfung dazu beitragen würde, die Inzidenz in Deutschland zu senken, was insbesondere Ungeimpfte davor schützen würde, sich zu infizieren und ins Krankenhaus zu müssen. Dies wiederum trüge dazu bei, die gefürchtete Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, ohne dass weitere Lockdowns drohen.

Das Ziel der Impfpflicht scheint also zu sein, die Zirkulation des Virus zu verringern und damit insbesondere ältere, ungeimpfte Menschen zu schützen. Aber es ist schlicht nicht rechtfertigbar, mit dem Mittel des Strafrechts Leute zur Impfung zu zwingen, um so diejenigen Mitbürger zu schützen, die sich aus freier Entscheidung nicht impfen lassen wollen.

Joshua Kimmich, wie auch jeder andere Bürger, kann sich für eine Impfung entscheiden, um sich selbst zu schützen – und jeder, der sich um seine eigene Gesundheit keine Sorgen macht, kann sich aus Liebe zu seinen ungeimpften, insbesondere älteren Mitbürgern impfen lassen. Aber diese Großzügigkeit kann nicht unter Strafandrohung erzwungen werden.

Für mich als Arzt ist auch die von verschiedenen Politikern beschworene „Solidarität“ des Impfens nicht nachvollziehbar, da es diese in der Medizin in dieser Form noch nie gegeben hat. Impfung war immer Selbstschutz. Und hatte zum Ziel, den Erreger gänzlich zu eliminieren. Dies wird bei der Anti-SARS-CoV-2 Impfung nie der Fall sein, ich empfehle hier die letzte Wochenschau von Sahra Wagenknecht.

Eine mit Einwilligung des Patienten (bei Impfpflicht möchte ich mir das Formular der Einwilligung gar nicht vorstellen; was da wohl drin steht?) erzwungene ärztliche Handlung und Körperverletzung, dies ist ja jede Impfung wie auch jede ärztliche Eingriff, ist mit dem Eid des Hippokrates nicht vereinbar.

Eine Gesellschaft ist im Prinzip berechtigt, Opfer für diejenigen zu verlangen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. In meinem obigen, hypothetischen Beispiel könnte es zum Beispiel zulässig sein, Erwachsenen eine Impfpflicht aufzuerlegen, um die Kinder vor einer Ansteckung mit einem für sie tödlichen Bakterium zu bewahren, wenn sich die Kinder nicht selbst schützen können. Aber sicherlich können wir nicht jedem eine Impfpflicht auferlegen, um diejenigen zu schützen, die sich aus eigener Entscheidung dagegen entscheiden, für sich selbst zu sorgen.

Zur Erinnerung: Die Impfpflicht ist eine Maßnahme, die in der Nähe einer Menschenwürdeverletzung liegt und, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden kann. Von einer Person zu verlangen, sich impfen zu lassen, um eine andere Person zu schützen, die sich aus freien Stücken gegen eine Impfung entscheidet, entspricht einer solchen Ausnahmesituation nicht ansatzweise. Hierin liegt der moralische Kernfehler der aktuellen Vorschläge zu einer Impfpflicht.

Prof. Möller skizziert auch Einwände, die angeführt werden könnten. So z.B. einen Gegenvorschlag, dass nur die Menschen, für die ein höheres individuelles Risiko mit einer Impfpflicht belegt werde, so wie dies in Griechenland für Menschen ab 60 Jahre diskutiert wird. Ein solcher Ansatz wäre nicht so offensichtlich ungerechtfertigt, da er eng definiert und auf das Ziel der Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems ausgerichtet sei. Dennoch würde hier eine Verletzung der Menschenwürde vorliegen. Denn es wäre eine medizinische Bevormundung, zur Impfung gezwungen zu werden, um sich selber zu schützen.

Jurist und Philosoph Möller führt dies an einem simplen Beispiel an. Die 70-jährige Elena müsse sich impfen lassen. Das Argument zur Verteidigung der griechischen Politik kann daher nicht sein, dass die 70-jährige Elena sich einer Impfpflicht unterziehen muss, um sie vor einer ernsthaften Erkrankung zu schützen.

Daher könnte nun argumentiert werden, dass Elena sich impfen lassen muss, damit sie im Krankheitsfall nicht das Krankenhausbett belegt, das der 68-jährige Georgios für die Behandlung seiner Covid-Erkrankung oder seines Herzinfarktes benötigt. Also muss Elena für Georgios geimpft werden und Georgios für Elena. Aber diese Gedankenakrobatik kann nicht verdecken, dass sowohl Elena als auch Georgios gegen ihren Willen geimpft werden, um sicherzustellen, dass sie keinen schweren Covid-Verlauf haben. Dies ist eine erzwungene medizinische Behandlung und in einer Gesellschaft, die der Freiheit und der Menschenwürde verpflichtet ist, inakzeptabel.

Im nächsten Beispiel untersucht der Jurist und Philosoph Möller das Argument, dass es bei der Impfpflicht nicht nur um den Schutz der Ungeimpften, sondern auch den der Gruppe der Vulnerablen ginge:

Dazu ist zu sagen, dass in einer freien Gesellschaft ein gewisses Risiko für Leben und Gesundheit durch Viren und andere Gefahren in Kauf genommen werden muss. Die neuen Impfstoffe sind ein Wunder, das wir feiern sollten – aber die Tatsache, dass sie vulnerable Personen nicht in hundert Prozent der Fälle schützen, begründet nicht annähernd den Ausnahmefall, der vorliegen muss, um eine Impfpflicht rechtfertigen zu können.

Aber selbst wenn die Impfpflicht in gewissem Sinne ein Erfolg werden sollte und uns dabei helfen sollte, Lockdowns und andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu beenden, und selbst wenn Spaltung, Wut und – wie der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily warnte – Gewaltausbrüche, die ihre Durchsetzung mit sich bringen könnte, vermieden werden könnten, wäre sie nur zu einem hohen Preis zu haben. Deutschland und Österreich sollten diesen Preis, nämlich den der Verletzung der Grundrechte und der Menschenwürde, nicht zahlen“.

Damit ist alles gesagt.


Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Hubertus Voigt ist Arzt in leitender Funktion an einer großen deutschen Klinik und möchte anonym bleiben.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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