Von Kai Rebmann
Wenn heutzutage noch jemand sicher vor Zensur ist, dann doch wohl auf jeden Fall der Papst. Was als so sicher wie das Amen in der Kirche gelten sollte, kann in Zeiten wie diesen leider nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Am vergangenen Mittwoch lud Papst Franziskus zur Generalaudienz auf den Petersplatz in Rom und Pilger aus aller Welt waren dem Ruf des Oberhauptes der katholischen Kirche gefolgt. In seiner Predigt sprach Franziskus über das Buch Kohelet, das in der Lutherbibel als „Der Prediger Salomo“ bekannt ist. Thematisch geht es in diesem Buch unter anderem um die Eitelkeit allen Irdischen und die Vergänglichkeit des Seins.
Wer weder auf dem Petersplatz war noch die Predigt im Fernsehen mitverfolgen konnte oder wollte, und sich stattdessen auf die deutsche Übersetzung der Generalaudienz verlassen hat, der ist wohl verlassen. Auf der offiziellen Webseite des Heiligen Stuhls ist die Predigt des Papstes in acht Sprachen nachzulesen: Arabisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Polnisch und Portugiesisch. Katholiken aus Deutschland und Polen müssen jedoch mit einer stark verkürzten und inhaltlich kaum verständlichen Version vorliebnehmen, während alle anderen Übersetzungen die Predigt des Bischofs von Rom in voller Länge und im jeweiligen Wortlaut wiedergeben. Selbst die arabische Version scheint vollständig zu sein. Während die Generalaudienz in fast allen verfügbaren Übersetzungen aus zwölf Absätzen besteht, kommen die deutsche und die polnische Version jeweils mit gerade einmal drei Absätzen aus.
Was sollen deutsche und polnische Katholiken nicht erfahren?
Auch ohne Fremdsprachenkenntnisse wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass mit der deutschen Übersetzung der Generalaudienz etwas nicht stimmen kann. Bei genauerem Hinsehen, sprich beim Vergleich mit den anderen Sprachversionen, fällt auf, dass elementare Teile der Predigt des Papstes fehlen. Während sich die anderen Sprachversionen bei einer Übersetzung nicht ganz überraschend praktisch aufs Wort gleichen, handelt es sich bei der von der katholischen Kirche auf der Webseite des Heiligen Stuhls veröffentlichten deutschen Version um eine regelrechte Verstümmelung der Generalaudienz. Es ist nicht das erste Mal, dass die Auslegungen des Papstes offensichtlich nicht jedem im Vatikan gefallen haben. Bereits am 1. Mai 2019, als Franziskus über die Versuchungsbitte im Vaterunser gepredigt hatte, wurde eine sehr stark verkürzte deutsche Übersetzung veröffentlicht. Damals wie heute kann über die Gründe für diese Zensur nur gerätselt werden.
Schauen wir uns also an, was der Papst in seiner Predigt am Tag vor Christi Himmelfahrt gesagt hat und welche Passagen es in der deutschen Übersetzung nicht auf die offizielle Webseite geschafft haben. Franziskus warnt vor einer Kultur, „die sich anmaßt, alles messen und manipulieren zu können“, die aber zu einer kollektiven Demoralisierung des Sinns, der Liebe und des Guten führe. Weiter heißt es: „Im Gewand der Wissenschaft, aber auch sehr empathielos und amoralisch, ist das moderne Streben nach Wahrheit versucht, seine Leidenschaft für die Gerechtigkeit vollständig aufzugeben. Wir glauben dann nicht mehr an ihre Bestimmung, ihre Verheißung, ihre Erlösung.“ Das Auftauchen „dieser neuen zynischen Vernunft, bei der Wissen und Verantwortungslosigkeit zusammenwirken“, bezeichnet Franziskus als „herben Rückschlag“. Das Oberhaupt der katholischen Kirche spricht weiter von einer „tödlichen Versuchung einer Allmacht des Wissens“ und einem „Delirium der Allwissenheit“.
Papst warnt vor „selektiver Wissenschaft“ und „Zeitalter der Fake News“
Die wohl größte Sprengkraft und die wahrscheinlichsten Gründe für die Zensur für die deutschsprachigen Leser der Generalaudienz lauern im letzten Drittel der päpstlichen Predigt. Dort warnt Franziskus: „Es sind die Kräfte der verrückt gewordenen Vernunft, die durch ein Übermaß an Ideologie zynisch geworden sind. Tatsächlich sind wir bei allem Fortschritt, bei allem Wohlstand, zu einer Gesellschaft der Müdigkeit geworden. Denken Sie darüber nach: Wir sind die Gesellschaft des Überdrusses. Wir sollten ein weit verbreitetes Wohlbefinden geschaffen haben, dulden aber einen Markt, der in Bezug auf die Gesundheit wissenschaftlich selektiv ist.“ Insbesondere der letzte Satz hat es in sich und konnte in dieser Form wohl nicht auf die deutschsprachigen Katholiken losgelassen werden.
Dasselbe dürfte für diese Passage gelten, die Papst Franziskus nur wenige Zeilen weiter folgen lässt: „Es ist kein Zufall, dass wir im Zeitalter von Fake News, kollektivem Aberglauben und pseudowissenschaftlicher Wahrheiten leben. Es ist bemerkenswert: In dieser Kultur des Wissens, des Allwissens, ja der Präzision des Wissens, hat sich viel Hexerei verbreitet, aber eine kultivierte Hexerei. Es handelt sich um eine Hexerei mit einer gewissen Kultur, die aber zu einem Leben im Aberglauben führt: Einerseits die Intelligenz, die die Dinge bis zu den Wurzeln kennt, andererseits die Seele, die etwas anderes braucht und den Weg des Aberglaubens einschlägt und im Hexenwahn endet.“ Und schließlich räumt das Kirchenoberhaupt auch noch mit den allgegenwärtigen Vorbehalten gegenüber alten, weißen Männern auf. Franziskus sagt dazu: „Ältere Menschen, die reich an Weisheit und Humor sind, tun der Jugend so viel Gutes! Sie bewahren sie vor der Versuchung einer Weltanschauung, die trostlos ist und keine Lebensweisheit beinhaltet […] Habt Mut, ihr Älteren! Habt Mut und geht voran! Wir haben eine sehr große Aufgabe in dieser Welt. Aber bitte, lasst uns nicht Zuflucht in diesem etwas unkonkreten, unwirklichen, wurzellosen Idealismus suchen, oder um es ganz deutlich zu sagen, in dieser Hexerei des Lebens.“
Starker Tobak aus dem Mund des Papstes, der so gar nicht nach dem Geschmack der in Deutschland politisch Verantwortlichen sein dürfte. Ist die Zensur der deutschen Übersetzung der päpstlichen Generalaudienz also der endgültige Kniefall der einst so stolzen und mächtigen katholischen Kirche vor den weltlichen Herrschern? Insbesondere in Deutschland sind die Kirchen in den vergangenen beiden Jahren nicht selten sogar noch über die vom Staat verordneten Maßnahmen hinaus gegangen und haben sich selbst an Ostern Gottesdienste verbieten lassen. Liefern all diese Hintergründe also die Erklärung dafür, warum die Generalaudienz des Papstes auf der offiziellen Webseite des Heiligen Stuhls nicht im deutschen Wortlaut wiedergegeben wurde, sondern nur als eine Art Zusammenfassung „in eigenen Worten“ des dafür verantwortlichen Autors?
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: PIXEL2020 / ShutterstockText: kr
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