Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Manche Verhaltensweisen sind schon seit langer Zeit bekannt. „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne,“ heißt es beispielsweise im Buch Kohelet des Alten Testaments. Wer fühlt sich hier nicht an die segensreiche Politik unserer Bundesregierungen erinnert, die mit Freude sinnlose Maßnahmen immer und immer wieder verhängt haben, um nicht zugeben zu müssen, dass sie schon früher keine nennenswerte Wirkung hatten? Doch gerade die deutsche Politik unserer Tage hat Richard Wagner schon im neunzehnten Jahrhundert genauer beschrieben mit einer klaren Erklärung dessen, „was Deutsch sei, nämlich: Die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte“.
Besser hätte es Karl Lauterbach, der mitleidlose, mustergültig maskierte Minister mit maximaler Medienpräsenz, nicht sagen können, denn allem Anschein nach betreibt er seine sogenannte Gesundheitspolitik ausschließlich um ihrer selbst und der Freude willen, die sie ihm verschafft, während die Frage der Nützlichkeit nur selten sein Interesse erregt. Wer hätte gedacht, dass Karl Lyssenko Lauterbach alles daran setzt, um nicht im Sinne Wagners „undeutsch“ zu wirken? Seltsame geistige Verbindungen tun sich auf.
Ein großer Freund der Inzidenzen
Aber ist er nicht stets besorgt um unsere Gesundheit und reibt sich auf, um Gefahren von uns abzuwenden? Das kann man überprüfen, indem man einen Blick auf die eine oder andere Maßnahme und ihren sachlichen Hintergrund wirft. So findet man zum Beispiel auf den Internetseiten des Auswärtigen Amtes die Information, dass „Personen ab zwölf Jahren…bei der Einreise nach Deutschland über einen Testnachweis oder einen Genesenennachweis oder Impfnachweis verfügen“ müssen. Wo kämen wir auch hin, wenn einfach jeder einreisen könnte, wie er wollte? Geimpft, genesen, getestet – ein Element dieser unheiligen Dreifaltigkeit muss vorliegen, sonst darf man Deutschland nicht betreten. Der Grund liegt auf der Hand. Wer aus dem Ausland einreist, wo man unter schrecklichen medizinischen Bedingungen und vor allem hohen Inzidenzen leidet, darf die dortigen Verhältnisse auf keinen Fall nach Deutschland einschleppen, um die ohnehin stets angespannte Lage nicht noch zu verschlimmern.
Ist das wahr? Wohl kaum. Wie wir wissen, ist Lauterbach, der beispiellos begabte Bundesminister, der in seiner Amtseignung wohl nur noch von Christine Lambrecht übertroffen wird, ein großer Freund der Inzidenzen. Noch vor wenigen Tagen konnte man in Bezug auf die Maskenpflicht von ihm hören: „Mit täglich bis zu 150 Coronatoten und einer immer noch sehr hohen Inzidenz fehlt der Spielraum, auf Masken im öffentlichen Verkehr zu verzichten.“ Da nun aber Coronatote aus dem Ausland schwerlich nach Deutschland einreisen können, muss sich die Gefahrenlage, die bei beliebiger Einreise entstehen würde, mithilfe der erschreckenden Inzidenzen anderer Staaten begründen lassen.
Und tatsächlich: Die ausländischen, insbesondere die europäischen Inzidenzen geben Anlass zur Sorge, wie schon ein Blick auf eine Karte Europas zeigt.
Verzeichnet sind hier die Inzidenzwerte der meisten europäischen Länder, erhoben am 14. Mai 2022. Man sieht, dass hierzulande ein Wert von 477 angegeben wird, während alle anderen Länder mit Ausnahme von Andorra und Portugal sich niedrigerer Inzidenzen erfreuen können. Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit, denn aufgrund der Kartengröße sind gerade die kleinen Staaten nicht mit ihren Zahlenwerten versehen, doch auf der gleichen Internetseite findet man ebenfalls eine tabellarische Darstellung, die diesen Mangel behebt. Die fehlenden Staaten sind in der folgenden Tabelle aufgelistet.
Drei Länder sind es also, deren Inzidenz über der deutschen liegt: Andorra, San Marino und Portugal. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass sowohl Andorra als auch San Marino Kleinstaaten sind mit etwa 77.000 bzw 30.000 Einwohnern, weshalb die übliche Inzidenzberechnung, bezogen auf jeweils 100.000 Einwohner, ein irreführendes Bild ergibt. Und Portugal gilt in Europa als großes Vorbild, als Musterschüler, denn mindestens erstaunliche 93 Prozent der Bevölkerung sind vollständig gegen Covid-19 geimpft.
Wir haben daher die folgende Situation: Unter allen europäischen Staaten erfüllen nur drei das Kriterium einer höheren Inzidenz, das man in Lauterbachs Sinn dafür heranziehen könnte, Einreisen aus diesen Ländern mit Restriktionen zu belasten. Zwei davon sind, was ihre Bevölkerungszahl angeht, unbedeutende Kleinstaaten, die vermutlich nicht zum medizinischen Untergang Deutschlands beitragen können. Dagegen zeigt Portugal, der dritte Staat im Bunde der Hochinzidierten, dass hohe Impfquoten auch mit hohen Inzidenzen einhergehen können, weshalb – sofern man Inzidenzen in Lauterbachs Sinn ernst nimmt – stark infektionsgefährdete Geimpfte problemlos in Deutschland einreisen können. Bei Einreisen aus allen anderen Staaten importiert man eine günstigere Situation nach Deutschland, was ohne Frage die Sinnhaftigkeit der restriktiven Einreiseregeln nachweist. Um noch einmal an Wagner zu erinnern: „Die Sache, die man treibt“, wird „um ihrer selbst und der Freude an ihr willen“ betrieben, nicht etwa aus Gründen der Nützlichkeit.
Das wird noch deutlicher, wenn man die entsprechenden Daten der deutschen Bundesländer ins Visier nimmt, abgebildet auf der folgenden Karte, ebenfalls erhoben am 14. Mai 2022.
Man muss nicht einmal rechnen, um die nötigen Vergleiche zu ziehen. Schleswig-Holstein, Bremen, Niedersachsen, Hessen und Bayern dürfen sich höherer Inzidenzen rühmen als fast alle europäischen Staaten mit Ausnahme von Portugal und, je nach Bundesland, den weltmedizinisch hochbedeutenden Ländern Andorra und San Marino – und doch ist es problemlos möglich, von Schleswig-Holstein nach Thüringen oder Sachsen zu reisen, wo man von den Verhältnissen Schleswig-Holsteins meilenweit entfernt ist. Um aber aus der Schweiz, deren Inzidenz bei 180 liegt, nach Bayern oder gar Bremen fahren zu dürfen, muss man geimpft, genesen oder getestet sein. So etwas nennt man eine evidenzbasierte Maßnahme.
Bundesländer mit den niedrigsten Inzidenzen weisen die niedrigsten Impfquoten auf
Noch etwas fällt auf. Die vier Bundesländer mit den günstigsten Inzidenzen sind Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Selbst bildungsferne Bevölkerungsschichten wie Politiker oder Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden bemerken, dass es sich um Länder im Ostteil Deutschlands handelt, die sich insbesondere im Hinblick auf ihre Impfquote keines übermäßig guten Rufs erfreuen. Und tatsächlich: Ein Blick auf die entsprechenden Karten, diesmal mit Stand vom 16.5.2022, zeigt Erstaunliches.
Ob man nun die vollständig Geimpften oder aber die sogenannten Geboosterten in Betracht zieht: Genau die vier Bundesländer mit den niedrigsten Inzidenzen weisen auch die niedrigsten Impfquoten auf; das sieht bei den tabellarisch feststellbaren Werten für die mindestens einmal Geimpften nicht anders aus. Man begreift, wie wichtig es ist, auf hohen Impfquoten zu bestehen.
Das Fazit ist einfach zu ziehen. Die bestehenden Restriktionen für die Einreise nach Deutschland entbehren jeder Grundlage und setzen Verhältnisse voraus, die es nicht gibt. Und die Idee, hohe Impfquoten würden mit niedrigen Inzidenzen einhergehen, ist weit von jeder Realität entfernt. Wie schon so oft im Verlauf der letzten beiden Jahre werden die Menschen mit Maßnahmen überzogen, die nichts mit dem Schutz der Gesundheit zu tun haben, doch umso mehr mit dem Bestreben von – um es freundlich zu sagen – nur bedingt kompetenten Politikern, die Menschen in Angst und Schrecken zu halten.
Oft ist in letzter Zeit ein Zitat Albert Einsteins vorgebracht worden, um die Lage zu beschreiben: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Es ist nicht sicher, ob dieser Satz wirklich auf Einstein zurückgeht, aber die Methoden unserer Entscheidungsträger und ihrer Berater beschreibt er sehr zutreffend. Man kann sich diesem Wahnsinn unterwerfen, denn „um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein“, wie man wiederum bei Einstein nachlesen kann. Doch nötig oder gar sinnvoll ist es nicht, denn, um ein letztes Mal Einstein zu bemühen: „Der Staat ist für die Menschen da und nicht die Menschen für den Staat. Von der Wissenschaft kann das Gleiche gesagt werden wie vom Staat.“ Vertreter des Staates und vorgebliche Vertreter der Wissenschaft, die diese schlichte Tatsache seit zwei Jahren ignorieren, sollten sich schleunigst daran erinnern.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast
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