Von Kai Rebmann
Während in anderen Ländern die Evaluierung der Corona-Maßnahmen längst begonnen hat und teilweise sogar schon zum Abschluss gebracht wurde, hängt Deutschland dem gesetzlich vorgegebenen Zeitplan meilenweit hinterher. Ende April 2022 musste Christian Drosten seinen Stuhl im Sachverständigenausschuss auf Druck insbesondere von Wolfgang Kubicki räumen. Der FDP-Vize hatte Drosten unter anderem Befangenheit vorgeworfen, da die in Deutschland ergriffenen Maßnahmen zu einem wesentlichen Teil auf das Konto des Charité-Professors gehen. Wenige Tage nach seinem Rücktritt sprach Drosten davon, dass die Aufarbeitung der Coronazeit in Deutschland noch „deutlich über ein Jahr“ dauern werde. Im Infektionsschutzgesetz (Paragraf 5, Absatz 9 IfSG) ist als spätester Abgabetermin des entsprechenden Berichts eigentlich der 30. Juni 2022 vorgesehen.
Eine neue Personalie könnte jetzt frischen Wind und vor allem mehr Bewegung in den lahmenden Evaluierungsprozess bringen. Nach dem Willen der Bundesländer soll die frei gewordene Stelle im Expertengremium durch Dr. Klaus Stöhr besetzt werden, wie am Donnerstagabend aus dem Kreis der Ministerpräsidenten bekannt wurde. Stöhr ist ein in der Fachwelt hochgeschätzter Virologe, weshalb unter anderem KBV-Chef Andreas Gassen von einer „guten Entscheidung“ sprach. Mit Blick auf die Evaluierung bezeichnete Gassen „eine unvoreingenommene Herangehensweise“ als entscheidend. Während sich die Bundesregierung und ihr Hof-Virologe Drosten die Bälle zwei Jahre lang nach Belieben zugespielt haben, werden die für den bisherigen Corona-Kurs verantwortlichen Politiker nun mit deutlich mehr Widerstand rechnen müssen. Einen Haken hat die Nominierung von Klaus Stöhr aber. Der Bundestag muss dem Vorschlag der Ministerpräsidenten noch zustimmen. Dabei handelt es sich grundsätzlich zwar um eine Formsache, doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der eine oder andere Corona-Hardliner unter den Parlamentariern nicht glücklich darüber ist, dass an der Aufarbeitung der Maßnahmen ein durchaus kritischer Experte wie Dr. Stöhr beteiligt werden soll.
Stöhr wirft Lauterbach erneute „Panikmache“ vor
Einen ersten Vorgeschmack, worauf sich Karl Lauterbach (SPD) in den nächsten Wochen einstellen kann, bekam der Bundesgesundheitsminister erst vor wenigen Tagen. Lauterbachs neuerlichen Alarmismus wegen der in Portugal verstärkt auftretenden Omikron-Variante BA.5 bezeichnete Stöhr in der Ärztezeitung als „Panikmache“. Es sei dort zwar ein Anstieg der Fallzahlen zu beobachten, es handele sich dabei aber um asymptomatische Fälle und auf den Intensivstationen und in den Krankenhäusern sei die Lage völlig entspannt, wie Stöhr betonte. Es ist diese „pragmatische und sachliche“ Herangehensweise des Virologen, die Experten wie Andreas Gassen so an ihm schätzen, und die maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass Stöhr von den Bundesländern für die Nachfolge von Christian Drosten nominiert worden ist.
Dr. Klaus Stöhr arbeitete 15 Jahre lang bei der WHO und verantwortete dort unter anderem das Globale Influenzaprogramm und die Erforschung des im Jahr 2003 aufgetretenen SARS-Virus. Im Winter 2020/21 gehörte der ausgewiesene Fachmann zu den ersten Experten, die eine sorgfältige Abwägung der Corona-Maßnahmen gefordert hatten. Wie viele seiner Kollegen stieß Stöhr damals aber auf taube Ohren. Als Hauptkritikpunkte hatte der Virologe die Schließung von Schulen und Kindergärten genannt. Die Krankenhäuser in Deutschland seien laut Stöhr zwar „belastet“, aber nicht „überlastet“ gewesen. Eine Einschätzung, die inzwischen sogar Karl Lauterbach bestätigen musste. Darüber hinaus warnte das neue Mitglied der Evaluierungskommission im Frühjahr 2021 auch vor einem sturen Festhalten an der 7-Tage-Inzidenz als alleinige Grundlage für das Erlassen von drastischen Corona-Maßnahmen, denen jede wissenschaftliche Evidenz gefehlt hat. Statt auf die Ratschläge eines renommierten Experten zu hören, verbissen sich die Politiker in Deutschland in unrealistische Ziele wie das Unterschreiten einer Corona-Inzidenz von 50.
Kurzzeitgedächtnis der Deutschen erschreckend schwach
Wie dringend notwendig die Überprüfung der Corona-Maßnahmen in Deutschland ist, zeigt auch eine aktuelle Diskussion in den sozialen Medien. Ein sich „Prof. Freedom“ nennender Nutzer zählt einige Punkte auf, die in ganz Deutschland oder zumindest einigen Bundesländern zumindest zeitweise verboten waren: ein Buch auf einer Bank lesen, mit Kindern rodeln, abends das Haus verlassen, den besten Freund treffen und sich mehr als 15 Kilometer von seinem Wohnort entfernt aufzuhalten. Dem hält ein offenbar in Hamburg wohnhafter Nutzer namens „Franko“ entgegen, dass dies alles in der Hansestadt erlaubt gewesen sei. „Franko“ scheint inzwischen ganz vergessen zu haben, dass Bürger in ganz Deutschland während der sogenannten „Bundesnotbremse“ ab 22 Uhr das Haus nicht mehr bzw. nur aus „triftigen Gründen“ verlassen durften und diese Ausgangssperre in Hamburg sogar schon um 21 Uhr begann.
Die Münchner Polizei twitterte, dass das Lesen eines Buches auf einer Parkbank verboten sei. Im Januar 2021 wurde von der ominösen Ministerpräsidentenkonferenz mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an der Spitze ein Bewegungsradius von 15 Kilometer um den eigenen Wohnort eingeführt. Personen aus anderen Haushalten durften, wenn überhaupt, nur in sehr begrenzter Zahl getroffen werden. Und auch gesperrte Kinderspielplätze gehörten in Deutschland vielerorts über Monate hinweg zum Alltag. Ein weiterer Nutzer namens „egal“ kann die ganze Aufregung nicht nachvollziehen und verweist darauf, dass China „solche und härtere Maßnahmen bis heute“ habe. Es spricht für sich, wenn sich Deutschland in Sachen Freiheitsrechte und Demokratie mit China vergleichen lassen muss, um in einem vermeintlich guten Licht zu erscheinen.
Leider liegt es in der Natur des Menschen, dass er ein Gewohnheitstier ist und über ein eher schlechtes Kurzzeitgedächtnis verfügt. Das Tragen von Masken, der Verzicht auf Umarmungen und ähnliche zwischenmenschliche Interaktionen, ständiges Händewäschen und sich mit Stoffen impfen zu lassen, die nicht annähernd das zu halten vermögen, was von Herstellern und Politikern versprochen wurde, wird in Deutschland mittlerweile als „normal“ angesehen. Der Alltag der Bundesbürger wird inzwischen von der Angst vor einem Virus bestimmt, das für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht gefährlicher ist als die Grippe. Diesen einmal freigelassenen Geist wieder in die Flaschen zu bekommen, wird wohl Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, wenn es denn überhaupt jemals gelingen wird. Umso wichtiger ist es, dass an der Evaluierung der verheerenden Maßnahmen, die zu diesem Zustand der Dauerangst und Unterwürfigkeit geführt haben, endlich wirklich unabhängige Experten aus möglichst vielen Fachgebieten beteiligt werden.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: ShutterstockText: kr
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