Von Ekaterina Quehl
Als ein Kind, das im Mangel aufgewachsen ist, habe ich mir zum russischen Novij God (Silvester) immer Dinge gewünscht, die man in der Sowjetunion frei nicht kaufen konnte oder durfte. Ich wünschte mir eine wunderschöne Puppe, die ich mal bei einem anderen Mädchen gesehen habe, dessen Papa Dienstreisen ins Ausland machen konnte – eine Seltenheit in der Sowjetunion. Ich wünschte mir professionelle Schlittschuhe, die ich im Fernsehen an den Füßen einer berühmten Eiskunstläuferin gesehen habe. Oder ich wünschte mir mal einen eigenen Schallplattenspieler.
Aber ich habe mir niemals gewünscht, dass ich meine Oma in den Ferien besuchen darf, oder dass meine Mama bei meinem Gymnastik-Wettbewerb dabei sein kann. Um so mehr zerreißt es mir das Herz, wenn Kinder jetzt nicht das machen dürfen, was ich sogar als sowjetisches Kind machen durfte. Etwas, was so selbstverständlich ist, dass man dessen Daseinsberechtigung niemals in Frage stellen würde. Und jetzt soll es so besonders sein, dass Kinder es sich sogar zu Weihnachten wünschen. Und dabei bereit sind, auf alles andere zu verzichten.
Gestern erreichte uns der Wunschzettel einer 8-jährigen Lea, der mir das Herz gebrochen hat. Und der wahrscheinlich vielen das Herz brechen wird. Leas Mama schickte uns den Zettel zusammen mit diesem Brief:
Ich möchte gerne mit Ihnen den Wunschzettel meiner gerade 8 Jahre alt gewordenen Tochter Lea teilen.
Ich möchte damit darauf aufmerksam machen, wie sehr Kinder seelisch unter all den Maßnahmen leiden.
Ich bin ungeimpft und mir wird aufgrund der 2G-Regelung in NRW der Zutritt zum Ballettstudio untersagt. Es ist Leas allererste Ballettaufführung. Sie hat den Wunschzettel mit dem Kommentar, sie verzichte dafür auf alle ihre Geschenke, auf die Fensterbank gelegt. Täglich fleht sie mich / uns förmlich an, erzählt mir, was für ein tolles Glitzerkleid sie beim Tanzen tragen würde. Sie ist so stolz und möchte, dass ihre Eltern ihren ersten Tanz miterleben. Es zerreißt mir das Herz, sie nicht tanzen sehen zu dürfen, weil ich den falschen Impfstatus habe. Ich werde bestraft, obwohl ich nichts Ungesetzliches tue…
Wie kann eine Gesellschaft, die von sich selbst behauptet, demokratisch und frei zu sein, ihre Kinder dazu bringen, dass sie solche Weihnachtszettel schreiben? Eine Gesellschaft, in der Kinder sich keine Spielzeuge mehr zu Weihnachten wünschen, Handys oder Ausflüge in die Freizeitparks? In der sie bereit sind, auf all das zu verzichten, damit der Weihnachtsmann ihnen etwas schenkt, wofür unsere Großeltern gekämpft haben, damit ihre Enkel nicht auf die Idee kommen können, sich sowas zu wünschen. Weil das immer da sein muss und ihnen niemals weggenommen werden darf.
Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass alle kleinen Leas in Deutschland sich nie wieder so etwas wünschen müssen. Und vielleicht sollten Politiker für die weitere Ausgestaltung ihrer Zukunftspläne diesen Wunschzettel immer auf dem Tisch haben, neben den Beschlüssen irgendwelcher Fachgremien, die das Wohl der Kinder in diesem Land schon längst aus den Augen verloren haben.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.
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