Im Königreich der Zauberspiegel Was die Russen über die verzerrte Wahrnehmung der Deutschen denken

Von Ekaterina Quehl

Im Königreich der Zauberspiegel – einem alten sowjetischen Märchenfilm – ist alles verdreht und verzerrt. Das Böse ist das Gute, das Hässliche ist das Schöne und sogar die Namen der Menschen sind spiegelverkehrt. Der Grund dafür ist, dass auf königlichen Befehl alle Spiegel im Königreich nur krumm hergestellt werden dürfen, sodass dessen Bewohner sowohl von sich selbst als auch von den anderen Menschen nur dieses verdrehte Bild wahrnehmen. Sie befinden sich somit im völligen Unwissen darüber, dass sie eigentlich – bis auf eine kleine Gruppe, die heimlich die „richtigen“ Spiegel herstellt und vom Königreich verfolgt wird – alle ein völlig verzerrtes Bild von der Welt haben und deren Handlungen davon geprägt sind.

Hier, in St. Petersburg, musste ich an dieses Märchen häufig denken, wenn ich die Ereignisse in Deutschland aus der Entfernung verfolgt habe. Von hier aus kommt mir Deutschland zunehmend mehr wie dieses krumme Königreich vor, in dem die Mehrheit stets verdrehte und verzerrte Bilder von sich und den anderen wahrnimmt und sich so fest an diese klammert, als ob es die einzige Wirklichkeit in der Welt wäre. Dabei merkt sie nicht, dass sie noch vor wenigen Monaten eine andere Wirklichkeit als das einzig wahre Bild von der Welt wahrgenommen hat. Und einige Monate davor noch eine dritte.

Hier, in St. Petersburg, ist Corona nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil: Auf den Straßen sieht man riesige Banner mit Aufrufen zum Impfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln hört man Ansagen zum Maskentragen, in allen Einkaufszentren, Supermärkten und Cafés sieht man Plakate mit den Hinweisen zum Abstand-Halten und Masken-Tragen. In mehreren Berufen werden Menschen zum Impfen verpflichtet.

Schaut man sich aber um, fährt man mit einer Straßenbahn oder geht man in einen Supermarkt – sieht man völlig entspannte Menschen, die an den Drohplakaten und den Hinweisschildern weder mit Maske am Gesicht noch mit Abstand voneinander locker vorbeiziehen. Lediglich Verkäufer und Service-Personal tragen Masken – aber so gut wie niemals so, wie man sie eigentlich tragen muss. Sie tun es nur, weil sie dazu verpflichtet sind. Genauso, wie die Mehrheit von denen sich in Kürze impfen lassen wird – weil sie dazu verpflichtet ist. Ein Gehorsam ist es aber nicht. Eine Verkäuferin in einem Café sagt: „Mein Chef hat gesagt, ihm persönlich ist es völlig egal, aber er braucht einen Nachweis. Ich möchte meinen Job nicht verlieren, deshalb warte ich bis zum letzten Moment und dann lasse ich mich impfen, aber nur mit Sputnik-Lite.“ (einer Variante vom Impfstoff Sputnik-V, mit dem man sich nur einmal impfen lassen muss). Eine Trainerin in einem Fitness-Studio sagt: „Nein, ich lasse mich auf gar keinen Fall impfen. Es gibt ja auch andere Wege. Die Leitung braucht nur einen Nachweis. So werden das auch demnächst viele machen.“

[ngg src=“galleries“ ids=“12″ exclusions=“241,242″ sortorder=“250,240,246,247,251,249,248,243,241,242,238,239,244,245″ display=“basic_thumbnail“ thumbnail_crop=“0″]Das Bild, welches durch Plakate und Hinweisschilder vermittelt wird, stimmt nicht mit der Realität überein. Sodass man annehmen könnte, die Mehrheit hier ist gegen die Zauberspiegel resistent und sieht stets das, was ist.

Wirken die Masken nur sehr kurze Zeit und ist es nicht möglich, diese regelmäßig auszutauschen, welchen Sinn macht es dann, sie überhaupt zu tragen? Dass man sie an der frischen Luft tragen muss, kommt gar nicht infrage. Solange die öffentlichen Verkehrsmittel ganz regulär fahren und so voll sind, dass es häufig nicht möglich ist, überhaupt irgendeine Distanz von den Mitfahrenden einzuhalten, was macht es dann für einen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen.

Weiß man nicht, ob die Impfung tatsächlich schützt, macht man nur soweit bei den Regierungsmaßnahmen mit, wie es die persönliche Akzeptanz-Grenze zulässt: Einige möchten ihren Job nicht verlieren und sehen ihr Schicksal eher als fatalistisch an und lassen sich impfen; andere, die ihren Job nicht verlieren möchten, denen aber auch das gesundheitliche Risiko zu hoch ist, suchen einen anderen Weg, um den Nachweis einer Impfung zu erbringen. Es gibt aber durchaus Menschen, die sich aus Überzeugung impfen lassen und die aus Überzeugung Masken tragen. Gefühlt ist es aber nur ein Bruchteil.

Ich habe viele Menschen in Russland nach ihrer Meinung zu dem, was sie über Deutschland hören, gefragt. Spaltung zwischen den Geimpften und Ungeimpften? Unterscheidung in 3G, 2G oder kein G? Russen schütteln nur den Kopf. Zum einen verstehen sie nicht, warum diese Maßnahmen in so einer Dimension notwendig sind, wenn man doch schon längst verstanden hat, dass sie mit den bestehenden Freiheiten nicht kompatibel und daher nur zu einem geringen Teil umsetzbar sind.

Zum anderen verstehen sie nicht, dass die Mehrheit in Deutschland sich an diese Maßnahmen nicht nur hält, sondern auch aggressiv gegen diejenigen eingestellt ist, die sie kritisch hinterfragen. In St. Petersburg muss ein Taxifahrer am Ende der Fahrt in seiner Taxi-App angeben, ob der Gast eine Maske getragen hat. Der Gast muss ebenfalls angeben, ob der Taxifahrer eine Maske während der Fahrt getragen hat. Unabhängig davon, ob sie Masken getragen haben, geben die beiden ein „ja“ an. Sie sprechen das Thema gar nicht an, es ist einfach selbstverständlich, dass nicht anders gehandelt wird. Hier macht jeder nur soweit mit, wie er es für richtig hält und greift den anderen nicht an, wenn er es anders macht.

Ich frage viele, warum Menschen sich in Deutschland ihrer Meinung nach so strikt an die Maßnahmen halten, obwohl viele von diesen keinen Sinn ergeben und noch vor wenigen Monaten von denjenigen als nicht wirkungsvoll betrachtet wurden, die sie heute eingeführt haben.

Die einen antworten: Weil Deutsche so diszipliniert sind und es einfach in ihrer Mentalität haben, zu gehorchen und die von oben aufgesetzten Regeln nicht zu hinterfragen. Die anderen sagen: Weil Deutsche vor lauter Angst vor Corona nicht klar denken können, was aber auch nachvollziehbar ist, denn vor Angst ist man gelähmt.

Es gibt aber auch einige, die sagen, die Bevölkerung in Deutschland wird von denjenigen ausgenutzt, die richtig Geld mit der Pandemie machen wollen. Sie manipulieren mit den Ängsten der Menschen. Von keinem habe ich aber gehört, dass die aktuellen Maßnahmen in Deutschland sinnvoll und wirkungsvoll gegen Corona sind. Von keinem habe ich aber auch irgendeine Art Abneigung gegenüber Deutschen beobachten können. Viele befremdet es aber, wieso solch ein Politikum daraus gemacht wird. Denn Corona ist schon längt kein Zentrum des Universums mehr in Russland. Wie auch in vielen anderen Ländern.

Im Königreich der Zauberspiegel wird am Ende alles zurück in die Realität „verwandelt“ und die Menschen fangen an, das zu sehen, was ist. In wenigen Tagen kehre ich nach Deutschland zurück. Ich wünsche mir so sehr, dass die Menschen hier irgendwann „entzaubert“ und gegen die krummen Spiegel genauso resistent sein werden, wie es die Menschen hier, in Russland, sind. Dass es bald passiert, wage ich sehr stark zu bezweifeln. 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.

Bild: privat, Shutterstock 
Text: eq

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