Abschied von Berlin Ich fühle mich von meiner zweiten Heimat verraten

Von Ekaterina Quehl

Es ist schon eine Woche her, dass ich nach St. Petersburg gekommen bin, und es fällt mir schwer, über das Leben hier zu schreiben. Denn es kommt mir so normal vor, dass ich einen Bericht darüber fast schon langweilig finden würde. Hätte ich vor 2019 darüber gelesen, dass jemand seit ein paar Stunden in einem Café sitzt und arbeitet und davor in einem Fitness-Studio schwimmen und in der Sauna war und morgen zu einer Familien-Feier in ein Restaurant geht, und dass alle Beteiligten friedlich, freundlich und entspannt miteinander umgehen, hätte ich wahrscheinlich in einer solchen Lektüre keinen großen Wert gesehen.

Nun, im Jahr 2021, kommt mir solch ein normales Leben wie ein Geschenk vor. Und den Luxus, es nicht als Geschenk zu betrachten, sondern als etwas, was einem zusteht, haben hier, in St. Petersburg, alle. Nur ich nicht. Deshalb will ich heute nicht über St. Petersburg schreiben. Sondern über Berlin. Ich lebe dort, in meiner zweiten Heimat, seit fast 20 Jahren. In der Stadt, die mir meine Liebe, meine lieben Menschen und mein glückliches Leben geschenkt hat.

Die Stadt galt für mich nach meiner sowjetischen Kindheit und post-sowjetischen Jugend mit ihrer Rolle in der Geschichte Deutschlands, mit ihrer Buntheit, ihrer Lockerheit und ihrer Akzeptanz gegenüber allen Menschen, die sie als Lebensort gewählt haben, noch bis vor kurzem als das größte Symbol der Freiheit. Mit ihren Möglichkeiten für Studenten und Familien, mit bunten Bezirken, mit Straßenfesten und Weihnachtsmärkten, mit langen Nächten von „weiß-ich-was“, mit offenen Türen bei allem, was sonst geschlossen ist, schien sie mir vertraut und sonderbar zugleich. Hier haben ich und meine lieben Menschen unser Zuhause, hier hatte ich meine neuen Freunde und Kollegen gefunden, meine Arbeit, meine Begegnungs- und Rückzugsorte.

Als Kind des Nordens war mir der Berliner Sommer immer besonders lieb. Schwimmen in einem der unzähligen Freibäder, Rock ’n‘ Roll-Tanzen auf Tanzflächen im Freien, warme Terrassen-Abende beim Italiener unseres Vertrauens oder der obligatorische Big Lebowski mit Freunden im Freiluftkino Friedrichshain – all das waren für mich die jährlichen Sommer-Aktivitäten, die ich aus meinem Leben in St. Petersburg nicht kannte.

Heute geht Schwimmen nur mit Online-Buchung und für solche wie mich, also einfach gesunde Menschen, nur mit Testnachweis. Ins Freiluftkino darf man ebenfalls nur mit einem Test-, Genesenen- oder Impfnachweis. Wenn man dort mit Freunden picknicken möchte, dann muss man ein nummeriertes Plätzchen auf der Wiese online reservieren. Und überall außerhalb des eigenen Plätzchens gilt Maskenpflicht. In unserem Lieblingsrestaurant unterhalten wir uns zwar immer noch mit dem Besitzer, aber nicht mehr über die Rezepte seiner sizilianischen Mama, sondern darüber, wie er sich in diesen Zeiten über Wasser zu halten plant. Und auch das dürfen wir nur, solange wir auf unser Take-Away-Essen warten. Als Gesunde ohne Nachweis dürfen wir nicht mehr im Restaurant essen. Zum Bedauern beider Seiten.

Dass der Besuch von Freibad und Kino keine Freude und Entspannung mehr bringen kann, scheint mir heute das geringste Übel Berlins. Diese Stadt verwandelt sich in einen Ort des Hasses, der Hetze und der Spaltung. Wasserwerfer gegen friedliche Demonstranten, Polizeigewalt, Quälerei der Kinder durch Maskenpflicht in Schulen, Teilung der Gesellschaft in Ungeimpfte und Geimpfte, ein ängstliches und aggressives Miteinander und ein unendlicher Gehorsam der Mehrheit – Berlin ist nicht mehr die Stadt, von der man denken könnte, sie habe die friedliche Revolution von 1989 zustande gebracht. Vielmehr – Berlin ist gerade dabei, sich selbst zu verraten und all das, wofür die Menschen dort auf die Straßen gingen.

Hier, in St. Petersburg, fast 2000 Kilometer von Berlin entfernt, kommt mir das heutige Leben dort fast surreal vor. Und es macht mir Angst – vor allem, weil ich von der Ferne aus sehen kann, wie schnell sich diese Stadt von dem Ort entfernt, für den ich mich mal als meine zweite Heimat entschieden habe. Ich fühle mich von Berlin verraten.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.

Bild: Shutterstock
Text: eq

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