Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber ist Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990–2009.
Es bleibt interessant. Nie waren die Prognosen unsicherer. Das ehemals stabile deutsche Parteiensystem ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Angela Merkel mit ihrem Grün-Drall inklusive des Jahrtausendfehlers „Grenzöffnung 2015“ und die SPD mit ihrem Politik-Ersatz namens „Kampf gegen rechts“, statt Wirtschaftspolitik für ihre Stammwählerschaft zu machen, stehen vor einem für die Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Scherbenhaufen. Wechselten sich beide politische Richtungen über Jahrzehnte mit Wahlergebnissen um die vierzig Prozent ab, so hat sich die SPD bei um die fünfzehn Prozent selbst verzwergt und CDU/CSU hoffen 2021 wenigstens dreißig Prozent zu erreichen. Beide möchten den Bundeskanzler stellen. Die Union als Seniorpartner mit den Grünen oder der FDP und die SPD als Seniorpartner in einer Koalition der Habenichtse mit den Grünen und den Linken. Chancen hat hierbei jedoch tatsächlich die Union. Auf die künftige Politik hätte es marginale Auswirkungen, ob die Union mit der FDP oder den Grünen regieren würde. Mehr oder weniger grün sind fast alle Parteien. Allerdings würde es mit den Grünen in der Regierung extremer als mit der FDP. Das Regime der Klimaangst wird jedoch in jedem Fall Bestand haben.
Das momentane politische Deutschland wirkt wie eine Konstruktion, die sich gegen die Wirklichkeit stemmt. Es ist hanebüchen. Gewaltige, tatsächlich menschengemachte Katastrophen wie das Hochwasser der letzten Wochen werden dem Holozän in die Schuhe geschoben, statt Ursachenforschung und Katastrophenschutz zu betreiben. Die Ursachen der jetzigen Katastrophe liegen in der dichten Besiedelung und der damit verbundenen exorbitanten Bodenversiegelung, im Überbauen von Überschwemmungsgebieten, auch in der Waldrodung und anschließenden Versiegelung riesiger Flächen für die Betonfundamente von Windrädern und vielem mehr.
Wer das alles offen sagt, gilt als rechts analog der Ostblockerfahrung „Wenn Du nicht für den Sozialismus bist, bist Du für den Krieg!“ Wo Metaphysik regiert, haben Physik, Mathematik und Geologie keine Chance. Möge den Ungarn so eine Entwicklung erspart bleiben! Merkels Bundesrepublik ist ein Albtraum für kreative, aufgeschlossene Menschen geworden. Akzeptiert wird nur, wer die Regierungssicht vertritt. Das wird dann „Haltung“ genannt. Ostblockbewohnern dürfte das bekannt vorkommen. Bis 1989 hatten die Ostdeutschen als wichtige Informationsquelle das Westfernsehen. Das ist aber seit 2015 zu einer Agit-Propaganda-Maschine verkommen, welche nicht einmal mehr mit ihrer Wetterberichterstattung seriös angenommen wird. Bereits ab 23 Grad Celsius Temperaturerwartung schillert die Wetterkarte in Warn-Rot. Die Wähler von Union und SPD haben nicht nur ihre Parteien verloren, selbst der Wetterkarte können sie nicht mehr trauen.
Über CDU/CSU, SPD und Grüne schrieb ich an dieser Stelle in den letzten Monaten viel, heute betrachte ich vor allem die FDP, die Linken und die AfD. Auf Grund neuester Entwicklungen werde ich mich dennoch den Grünen widmen und auch einen Blick auf die „Freien Wähler“ werfen.
Die FDP war über Jahrzehnte das liberale Zünglein an der Waage und an vielen Bundesregierungen beteiligt. Der Aufstieg der Bundesrepublik ist ohne die FDP nicht denkbar. Auch die Erfolge der Außen- und Sicherheitspolitik der Regierungen Brandt/Scheel, Schmidt/Genscher und Kohl/Genscher sind zu nennen. Das alles ist lange her, auch die FDP hat sich bedauerlich verändert. Ihr Markenkern „Freiheit in Gesellschaft und Wirtschaft“ schrumpfte und ist grün übertüncht. Als Alternative am Wahltag gilt sie nur noch begrenzt. Sie wird als hellgrüner Mainstreamverschnitt wahrgenommen. Die FDP könnte eine Alternative zu den Grünen, den Linken und der AfD sein, doch ihr Bekenntnis zum menschengemachten Klimawandel unter Ausschluss der Sonne macht sie nicht sehr attraktiv für Wähler, die früher Stammwähler von Union oder SPD waren. Schwer auf die Füße fällt ihr, ihren Thüringer Ministerpräsidenten, den Katholiken Thomas Kemmerich, auf Weisung der Bundeskanzlerin vor einem Jahr zu Gunsten eines Linken fallengelassen zu haben. Aktuell steht die FDP in Umfragen bei 13 Prozent (Forsa, 3.8.2021).
Die Linke ist die frühere SED und führt sich nach einem Winterschlaf zwischen 1989 und 2014, dem Jahr ihres ersten Ministerpräsidenten in Thüringen mit Hilfe von SPD und Grünen, so stark, dass sie wieder ganz den SED-Antikapitalismus und -amerikanismus pflegt. Eine Schlange, die sich häutet, bleibt eine Schlange – eine alte Weisheit. Die Linke bekämpft die soziale Marktwirtschaft und streitet offen für Enteignungen. Das ist nicht mehr SED-light. Das ist SED-pur. Den Staat sieht sie nicht neutral. Für die Linke muss der Staat links sein. Siehe Ostblock bis 1989. Für die Linke begann der Zweite Weltkrieg nicht bereits am 23. August 1939, sondern am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen. Der Hitler-Stalin-Pakt und die gemeinsame Aufteilung Mittelosteuropas unter zwei Massenmördern kommen dabei nicht vor. Die Linke steht im Moment bei 6 Prozent.
Die Alternative für Deutschland (AfD) wurde 2013 gegründet. Den Gründern ging es um die Aufhebung der aus ihrer Sicht verfassungswidrigen, volkswirtschaftlich hochgefährlichen Eurorettung durch eine Dekonstruktion des Euro und die Beendigung des Missbrauchs staatlicher Ämter und Institutionen durch die politischen Parteien. Bernd Lucke wollte eine neue Volkspartei gründen, die im Wesentlichen in ihrer Programmatik der klassischen CDU-Ausrichtung vor der Ära Merkel entsprechen sollte. So kamen noch zahlreiche Themen hinzu, wie beispielsweise Westbindung, nachhaltige Rentenpolitik und Bildungsreform. Das Thema Migration spielte 2013 keine Rolle. Die Absicht war es, eine liberal-bürgerliche Alternative zu CDU und FDP zu schaffen, da beide Parteien aus Sicht der Gründer vor allem bei der Eurorettung versagt hatten. Nach den anfänglichen Erfolgen der AfD, die bald in das Europaparlament und zahlreiche Landtage gewählt wurde, erfolgte in der Partei zusätzlich und völlig unnötig ein Rückfall in historisch sehr schwierige Positionen, die die Gründer nicht mehr mittragen wollten. Wohin die Reise bei der AfD geht, ist noch nicht entschieden. Die politischen Anliegen der Gründer sind aber nach wie vor nicht umgesetzt worden, sondern haben sich weiter verschärft. Es besteht heute in Deutschland für bürgerlich-liberale Anliegen eine genauso große politische Repräsentationslücke wie für Anliegen der Unterschicht. Mit ihrer zum Teil kruden Hinwendung zu Themen der Vergangenheit bringt sich die AfD zunehmend um weitere Wahlchancen. Die meisten Wähler wollen die Lösung ihrer Probleme, aber dabei nicht hören, dass die Wehrmacht so etwas wie eine friedenssichernde Einrichtung war.
Sowohl die Linke als auch die AfD stehen Putins Geschichtskonstruktionen näher als die anderen Parteien. Der 9. Oktober 1989 von Leipzig war der Durchbruch der Friedlichen Revolution in der DDR und der 31. August 1994 mit dem Abzug der russischen Armee aus Deutschland war der Tag der endgültigen Befreiung der Ostdeutschen. Zu beiden Daten hat die AfD eine eher schwierige Sicht. Allerdings ist sie anders als die Linke kein Nachfolger einer Diktaturpartei. Die Idee der AfD, die Europäische Union aufzulösen, zeugt von wenig Verständnis der Entwicklung von den „Römischen Verträgen“ über die „EWG“ zur „Europäischen Union“ und vor allem blendet die AfD völlig den Sehnsuchtsort Europa für die Mittelosteuropäer aus. Wer die Europäische Union reformieren will, muss drinnen bleiben. Von außen ist das nicht zu machen. Aktuell steht die AfD bei 11 Prozent.
Seit kurzem gibt es einen weiteren ernsthaften Bewerber um Sitze im Bundestag. Die „Freien Wähler“ stellen in Bayern den Wirtschaftsminister und Vizeministerpräsidenten Hubert Aiwanger. Aiwanger ist ein bodenständiger Mann vom Lande, der sich nicht verbiegen lässt und zunehmend mit seinem Ministerpräsidenten Markus Söder in Konflikt gerät. Wobei der Konflikt von Söder befeuert wird – was wiederum Aiwanger große Sympathien einbringt. Der Hintergrund ist schnell erklärt: Der Freistaat Bayern führt in Deutschland das strengste Coronaregiment, ohne bessere Ergebnisse als die anderen Bundesländer vorweisen zu können. Der Ministerpräsident ist für rigides Impfen und sein Vize lässt sich selbst nicht impfen. Aiwanger ist kein Impfgegner, er ist gegen alles Mögliche geimpft. Er sagt, jeder der möchte, möge sich impfen lassen. Aber er ist gegen eine Impfpflicht. Ohne es zu wollen, wurde er mit dieser Auffassung über Nacht nicht nur zu des Ministerpräsidenten größtem Hindernis, sondern zum Liebling aller Menschen, die gegen einen gesetzlichen Impfzwang sind. Nun wird der Wahlabend in Bayern sehr interessant. Erreichen die „Freien Wähler“ den Bundestag und schmiert die CSU ab? Aktuell stehen die „Freien Wähler“ bei 6 Prozent.
Zum Abschluss das Neueste von der grünen Front. Die Grünen wollen ein „Einwanderungsministerium“ mit dem Ziel ununterbrochener Zuwanderung nach Deutschland und in die EU. Die Integrationspflichten liegen dabei bei den Staatsbevölkerungen und nicht bei den Zuwanderern. Damit es hier so wird, wie es dort – in Nordafrika – schon ist. Auch wollen die Grünen ein „Klimaschutzministerium“ mit einem Veto-Recht gegen alle Gesetze, falls diese nicht grünen Klimanormen entsprechen. Die Grünen lassen damit ein weiteres Mal die Katze aus dem Sack. Sie sind Antidemokraten und Antiparlamentarier. Für Demokraten gilt: Was freie Abgeordnete entscheiden, ist Gesetz. Für Grüne dagegen gilt, was grüne Ayatollahs mit einem Wächterrat („Klimaschutzministerium als Veto-Ministerium“) entscheiden, steht über den Entscheidungen freier Abgeordneter.
Bei Lenin hieß das „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, die Grünen sagen „Grünismus ist Veto-Ministerium plus Unterwerfung der gesamten Gesellschaft“. Die Grünen stehen bei 20 Prozent.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.
Bild:Text: Gast
Mehr Gunter Weißgerber auf reitschuster.de
[themoneytizer id=“57085-1″]