Metamorphosen der Unfreiheit Über die Rückkehr der Vergangenheit

Ein Gastbeitrag von Prof. Felix Dirsch

Totalitarismus kennt viele Gesichter und diverse feine Abstufungen. Derzeit macht sich eine milde Variante davon breit. Die Schlagworte sind bekannt: „Corona-Diktatur“ (Alexander Gauland), neototalitäre „Versuchsanordnung“ (Thorsten Hinz), Diktatur des „Biopaternalismus“ (Giorgio Agamben) – man könnte weitere Formulierungen zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation präsentieren. Der naheliegendste Einwand lautet: Wird hier nicht mit hochgerüsteten Wort-Kanonen auf Spatzen geschossen? Spielt man hier nicht auf Szenarien der Vergangenheit an, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben? Das mag sein, und dennoch sollte uns der (wenn auch wohl temporäre) Verlust etlicher, 2019 noch allgemein als unverhandelbar geltender Freiheitsrechte stutzig machen.

Als zwei Vertreter der Totalitarismus-Theorie, Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich, in den 1950er Jahren ihre grundlegenden Vergleiche zwischen einem kommunistischen und einem nationalsozialistischen Gewaltsystem vorlegten, wandte man gegen sie gleich nach ihrer Publikation ein, sie seien in etlichen Punkten schon überholt. Denn die beiden Studien berücksichtigten nicht die Wandlungen im Realsozialismus. Schließlich gäbe es mittlerweile keine massenhaften Liquidierungen von Klassenfeinden mehr. Es kam im Ostblock nach Stalins Ableben in der Tat zu einer Reihe von Entschärfungen der Unterdrückung. Spätere Abhandlungen über dieses Thema trugen diesen Veränderungen Rechnung. Der Politologe Peter Graf Kielmansegg überarbeitete den Kriterienkatalog „totalitäre Herrschaft“ in den 1970er Jahren. Er führt als ein charakteristisches Merkmal solcher Regime auch „die extreme Mobilisierung einer Gesellschaft für einen bestimmten Zweck“ an, der dessen Natur wandeln könne. Ein wesentlicher Punkt sei der Einsatz von Massenmedien, die in den Dienst der Erreichung dieses Ziels gestellt würden. Weiter nennt Kielmansegg die intensivierten „Sanktionen, mit denen das System arbeitet“.

Die Metamorphosen des Totalitarismus spiegeln sich nicht zuletzt in dichterischen Werken. Jedes Jahrzehnt nach dem Erscheinen von George Orwells Roman „1984“ im Jahre 1949 hat jene Stichwörter aus dem epochalen Text herausgelesen, die für die Zeitgenossen später wichtig wurden. In den letzten Dekaden waren es vornehmlich die Hinweise auf ideologisch fundierte Sprachmanipulationen, mittels derer auch nichtterroristische Regimes die Perzeption der Bürger beeinflussen können. Der separate Essay („Die Grundlagen des Neusprechs“) am Ende von „1984“, der dieses Herrschaftsmittel thematisiert, sei (so die Fiktion) nach dem Ende des Regiments des Großen Bruders entstanden. Das soll heißen: Es betrifft auch Nachgeborene!

Noch aktueller erscheint Aldous Huxleys 1932 erstmals im Original publizierter Roman „Schöne Neue Welt“. Die dystopische Erzählung spielt im Jahre 632 nach Ford. Die Idee der Massenproduktion eines der Global Player seiner Zeit rückt den zivilreligiösen Charakter des Konsums in den Vordergrund. Nicht zufällig wird der Titel dieser Schrift heute gern mit dem Silicon Valley in Verbindung gebracht. Ein Weltstaat zeichnet sich darin ab. Sein Wahlspruch lautet: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“. Der Totalitarismus kommt nicht zuletzt in eugenischen Methoden zum Ausdruck. Die im Gegensatz dazu sanfter erscheinenden Konditionierungstechniken („Hypnopädie“) mögen heute überholt erscheinen. Freilich gibt es mittlerweile längst andere Methoden, die Hauptschwierigkeit „des Glücks“ zu lösen: nämlich „das Problem, wie man Menschen dazu bringt, ihr Sklaventum zu lieben“. Die Palette reicht von der Berieselung durch mediale Regierungspropaganda bis hin zum bedingungslosen, arbeitsfreien Grundeinkommen.

Corona Infernale

Relativ nah sind wir an „Corona Infernale“ (Harald Seubert), wenn wir den Inhalt von Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ aus dem Jahre 2009 zur Kenntnis nehmen. Er ist in einigen Bundesländern sogar Schullektüre. Die Handlung ist einfach: Mia Holl ist eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt werden ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an naturwissenschaftlichem Verstand und ihre geistige Unabhängigkeit. Vor diesem Hintergrund wird ein Gesundheitsregime skizziert. Diese neuartige Herrschaft grenzt sich gegen ideologische, wirtschaftliche wie religiöse Sinngebung ab. Der Geist wird an den Körper verraten. Es bleibt nur ein Motto übrig: Bleibt gesund, alles andere ist egal! Mia leistet gegen solche Vorstellungen, die der Journalist Kramer verkörpert, Widerstand. In Zehs Horrorvision wird jeder kontrolliert, jeder hat sein Pensum zu verrichten: Schlaf-, Ernährungs- und Sportpraktiken werden vorgegeben. Die Kontrollmöglichkeiten des Staates erstrecken sich auf jeden Schritt der Untertanen. Vor einem Jahrzehnt fehlte noch der Hinweis auf Tracking-Apps. Die aus dem staatlichen Konsens abgeleitete METHODE (in Großbuchstaben!) verfolgt das Ziel, „jedem einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren“. Fragen stehen im Raum, die erstaunlich realistisch wirken: Inwieweit kann der Staat Freiheitsrechte der Bürger einschränken? Welches Recht auf Widerstand kann der Einzelne geltend machen?

Angesichts frappierender Parallelen zur aktuellen Lage verwundert es nicht, dass die Autorin vor einigen Monaten einen Ergänzungsband vorgelegt hat („Fragen zu ‚Corpus delicti‘“). Sie nimmt Stellung zu den Protestierenden, den „Anti-Methodisten“, die ihr zufolge aus der Mitte der Gesellschaft stammen. Wer diese sind, liegt auf der Hand, wird aber von der rot-grünen Aktivistin Zeh nicht deutlich genug gesagt.

Weder belletristische Annäherungen noch überlieferte Totalitarismus-Deutungen liefern direkte Handlungsanleitungen für die aktuelle Lage. Es hilft jedoch weiter, wenn man alte Erkenntnisse, die aus solchen Schriften zu gewinnen sind, selektiv auf die neue Situation anwendet. Arendts Erklärungsansatz aus der Verbindung von „Ideologie und Terror“ im klassischen Zeitalter der Großtotalitarismen bis in die 1950er Jahre, partiell bis 1989, lässt sich heute nur stark verändert fruchtbar machen.

Der ideologische Überbau etlicher europäischer Staaten, besonders der Bundesrepublik, besteht vor allem in diversen universalistischen Visionen, die die Welt retten sollen: globaler Energieumbau nach dem Vorbild kursierender Green-New-Deal-Konzepte ohne Rücksicht auf eigene finanzielle Ressourcen; Bekämpfung der Erderwärmung nach Vorgabe einiger Klimaschutzabkommen; weltweit geregelte Migration (Stichwort: UN-Migrationspakt); Rettung finanziell klammer Staaten (siehe jüngst den EU-Corona-Hilfsfonds!) und so fort. Eliteangehörige sehen Deutschland gern als Provinz, aus der der gutmenschlich gedachte Weltgeist Hegels aufsteigt, um alle zu beglücken. Fernziel ist ein „One World“-Gebilde als Weiterentwicklung einer zentralistisch geeinigten EU. Linksintellektuelle wie Jürgen Habermas predigen eine solche Wunschordnung seit Jahr und Tag. Sie ist als Umschwung des Pendels auf die andere Seite zu begreifen, ausgehend von einem längst überholten Nationalismus vergangener Tage. Pragmatisch ist weder das eine Extrem noch das andere.

Cancel culture

Die herrschende Klasse einschließlich der Parteien, aus denen sie mehrheitlich stammt, kann sich zur Verbreitung solcher Ideologeme auf ein mobilisierendes öffentlich-rechtliches Nachrichtenmonopol stützen. Dessen Breitenwirkung wird durch alternative Medien im Netz nur wenig vermindert. Statt „Terror“ stellt man die mediale Ausgrenzung tatsächlicher wie öfters nur konstruierter Gegner der gängigen Meinungsmache fest: „Rechte“, Populisten, Ausländerfeinde, Islamo- und Homophobe, Rassisten, Klima- und neuestens Corona-Leugner, Impf-Skeptiker sowie Querdenker – neue Namen für jene, die einst als Volks- oder Klassenfeinde an den Pranger gestellt wurden. Inflationär wird derzeit das Label „Verschwörungsgläubige“ angewendet. Dabei stört es nicht, dass man jenseits von „Experten“ der veganen Küche und des Musikmetiers kaum seriöse Klima- oder Corona-Leugner hat dingfest machen können, wie die unterkomplex gehaltene Polemik lautet. Gemeint sind wohl Kritiker, die die Valenz des menschengemachten Einflusses auf das Klima, den man nicht in toto negieren sollte, differenzierter einschätzen, so unlängst (neben vielen anderen) die Autoren Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning in ihrer Untersuchung „Unerwünschte Wahrheiten“ sowie Werner Kirstein in seiner Studie „Klimawandel“. Die „Cancel Culture“ blüht, wie auch der Fall der Schriftstellerin Monika Maron belegt, deren früherer Hausverlag S. Fischer das Zensurgeschäft gleich intern erledigt hat.

Beim Thema „Corona“ sind ähnliche Tendenzen zu beobachten. Die Reihe von so genannten Corona-Rebellen, zu denen im Einzelnen unterschiedlich argumentierende Mediziner wie Hendrik Streeck, Stefan W. Hockertz und Sucharit Bhakdi zählen, hat natürlich die Wahrheit nicht gepachtet; ihre Meinung verdient es aber ohne das übliche Framing und ohne tendenziöse Faktenchecks zur Kenntnis genommen zu werden. In einer nicht nur formell freiheitlichen Gesellschaft säßen solche Dissidenten an einem Tisch mit ihren Opponenten, damit gemeinwohlorientierte Lösungsvorschläge erarbeitet werden könnten. Dass das in der Praxis ein schwieriges Unterfangen ist, braucht nicht erwähnt zu werden.

Das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat man als „totalitäres Siegel“ (Hinz) gedeutet, das dem freiheitseinschränkenden Handeln der Regierenden eine zweifelhafte Legitimation verschafft. Beabsichtigte Virus-Ausrottung und Freiheitsrechte passen demnach schlecht zusammen! Besonders sollte zu denken geben, dass die erwähnte Philosophin Arendt die Atomisierung der Gesellschaft als wesentliche Voraussetzung eines jedweden Totalitarismus gesehen hat. Beim Thema „Lockdown“ fällt einem zuerst der Rückzug in die eigenen Wände ein. Mehr Vereinzelung hat man in bundesrepublikanischen Tagen nie gesehen.

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Dirsch

Professor Dr. Felix Dirsch lehrt Politische Theorie und Philosophie. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von “Nation, Europa, Christenheit” und “Rechtes Christentum“. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.

2020 erschienen die Bücher: „Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“ (zusammen mit Konrad Löw) und „Rechtskatholizismus. Vertreter und geschichtliche Grundlinien. Ein typologischer Überblick“.

Bild: Miriam82/Shutterstock
Text: gast

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