Von Antonia Winterstein
Als Michael Kretschmer 2017 Ministerpräsident Sachsens wurde, waren damit in Teilen der CDU und auch sonst in bürgerlich denkenden Kreisen einige Hoffnungen verbunden. Immerhin hatte sich der Sachse bis dahin schon öfter dezent von der Politik der Kanzlerin in Berlin abgesetzt. Die CDU in Sachsen nannte sich damals „Sächsische Union“, auch das eine angedeutete Distanzierung von der Bundes-CDU. Und bei dieser Linie blieb Michael Kretschmer auch in den ersten Monaten der Corona-Zeit. Sachsen hatte damals sehr niedrige Corona-Zahlen, also nur wenige positive Testergebnisse. Bundesweit lagen damals die westdeutschen Länder vorn bei den Coronazahlen. Der erste Lockdown erschien in Sachsen etwas übertrieben.
Ministerpräsident Kretschmer soll sich am 26. Juni 2020 sogar zu einem zweieinhalb-stündigen Gespräch am Runden Tisch mit den bekanntesten Maßnahmenkritikern getroffen haben: Prof. Bhakdi, Prof. Reiss, Prof. Homburg und Prof. Haditsch. „Soll haben“, weil es zwar Filmaufnahmen des Runden Tisches davor und danach und glaubwürdige Aussagen von den beteiligten Professoren gibt, die Sächsische Staatskanzlei diesen Termin aber nie bestätigt hat. Dieser Runde Tisch mit Bhakdi war damals bei vielen kritisch denkenden Menschen in Sachsen Tagesgespräch, doch es gab und gibt keine Bilder davon.
Runder Tisch mit Maßnahmen-Kritikern?
Was diese Begegnung mit den renommierten Professoren und Maßnahmenkritikern bei Michael Kretschmer bewirkt hat, wissen wir nicht. Fakt ist aber, dass er einige Wochen danach plötzlich härtere Töne gegenüber Maßnahmenkritikern anschlug. Möglicherweise hatte er aus Berlin „eins auf den Deckel“ bekommen. Im Herbst 2020 stiegen auch in Sachsen die Coronazahlen an und die Maßnahmen der Landesregierung wurden schärfer. Der veränderte Ton Kretschmers gegenüber Maßnahmenkritikern könnte aber auch noch einen anderen Grund gehabt haben.
Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Angela Merkel 2021 das Kanzleramt verlassen will, der nächste Kanzler würde also ein Mann aus der Union sein. Und da legte sich Kretschmer frühzeitig fest. Legendär seine Pressekonferenz mit Markus Söder Anfang März 2021. Beide Ministerpräsidenten verkündeten, dass sie nunmehr gemeinsam, in einer “bayerisch-sächsischen COVID-19-Allianz“ bei der Virusbekämpfung vorangehen würden. Damit hatte sich Kretschmer eindeutig ins „Söder-Lager“ begeben. Der Grund war wohl weniger seine Bewunderung für den „harten Hund“, als der sich Söder in Sachen Corona gab, sondern vielleicht auch eigene Interessen. Manche Beobachter in Sachsen vermuteten, dass Kretschmer auf einen Posten in Berlin schielte, vielleicht Innenminister in einem Kabinett Söder. Und da war es wichtig, sich frühzeitig zu bekennen, um später berücksichtigt zu werden, denn die Konkurrenz ist groß.
Ob der Sachse, der wegen seiner rötlichen Haare von seinen Landsleuten gerne „Pumuckl“ genannt wird, überhaupt das Format hat für einen Bundesministerposten, bleibt hier mal dahingestellt. Eigentlich macht er schon als sächsischer Ministerpräsident immer den Eindruck, sich nicht wohlzufühlen in der Rolle des Landesvaters. Er wirkt schüchtern, irgendwie betreten, spricht leise und lacht selten. Ein bisschen erinnert er an einen Schuljungen, den wegen irgendwas das schlechte Gewissen plagt.
Geplagt vom Wahlverhalten seiner Sachsen
Geplagt fühlt sich Kretschmer sicher, wenn er sich das Wahlverhalten seiner Sachsen ansieht. Schon bei der Bundestagswahl 2017 verlor er sein Mandat ausgerechnet an Tino Chrupalla von der AfD. Ob bei der Landtagswahl 2019 oder der Bundestagswahl in diesem Jahr: Immer „glänzen“ die Sachsen mit höchsten Zustimmungswerten für die AfD. Bei Wahlkampfveranstaltungen schlugen Kretschmer fast überall im Freistaat Pfeifkonzerte entgegen.
Großen Anteil daran hatten sicher auch die „Freien Sachsen“. Die Bewegung gründete sich im Februar 2021. Nach eigenen Angaben will sie freiheitlich orientierte Sachsen zusammenführen, die sich keinen Vorschriften aus Berlin und Brüssel mehr beugen wollen. In einigen Posts der Bewegung ist auch von der Möglichkeit einer Abspaltung Sachsens von Deutschland die Rede. Da die Bewegung sich von Beginn an äußerst kritisch mit den Corona-Maßnahmen auseinandersetzte, wurde sie auch schnell ein Fall für den Verfassungsschutz. „Rechtsextrem“ – der Stempel war schnell gefunden.
Kopf der Bewegung ist der Chemnitzer Politiker und Rechtsanwalt Martin Kohlmann, aber auch einige NPD-Politiker mischen mit. Die “Freien Sachsen“ kommunizieren vor allem über Telegram, und dieser Kanal hat inzwischen 65-tausend Abonnenten. Inhalte des Kanals sind Kritik an der Landesregierung und Ministerpräsident Kretschmer, Kritik an den Mainstreammedien und ihrer Berichterstattung über Sachsen und Aufrufe zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Jede Woche finden in etlichen sächsischen Städten und Dörfern nach wie vor Demonstrationen und Bürgerspaziergänge gegen die Corona-Politik statt. Und wenn irgendwo ein Besuch von Michael Kretschmer ansteht, sind lautstarke Protestrufe programmiert.
Der Telegramkanal der Freien Sachsen wird auch von Menschen gelesen, die keineswegs rechts sind, sondern einfach kritisch gegenüber der Corona-Politik. Sie informieren sich dort über geplante und stattgefundene Demonstrationen. Denn die großen Medien, wie etwa der eigentlich zuständige Mitteldeutsche Rundfunk, berichten höchst selten über diese Demonstrationen.
Denkwürdige Pressekonferenz
Man könnte sagen, es brodelt anhaltend im Sachsen-Lande und Ministerpräsident Kretschmer will irgendwie gegenhalten. Er sucht nach Möglichkeiten, die Unbotmäßigen, die Ungehorsamen, die den Protest organisieren, einzuhegen.
Ende September hielt er eine denkwürdige Pressekonferenz ab.
Den Mord an dem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein nahm Kretschmer zum Anlass, eine „Regulierung der sozialen Netzwerke“ zu fordern. „Wir sehen, wie diffuse Ängste genährt werden, gerade über das Internet.“ Er sehe darin eine große Herausforderung. Und weiter: „Das Prinzip der Bundesrepublik Deutschland ist nicht, dass Massenmedien einfach frei verwendet werden können,…, sondern eine unserer Erfahrungen nach dem 2. Weltkrieg war: Diese Instrumente brauchen eine Kontrolle, brauchen eine Regulierung, Selbstkontrolle, Selbstregulierung und auch Regeln, und Telegramgruppen mit Zehntausenden oder Hunderttausenden Mitgliedern, die von außen nicht mehr einsehbar sind, in der keine Diskussion, kein Diskurs stattfindet, sondern eine zunehmende Radikalisierung; sind eine Gefahr für unsere Demokratie.“ Konkret nennt Kretschmer die „Freien Sachsen“, die bis zu 50.000 Mitglieder in Telegramgruppen hätten (in Wirklichkeit ist es nur ein Telegramkanal, der offen ist für jeden), die sich dort immer weiter gegenseitig radikalisieren würden. Und dann fordert er: „Dem müssen wir versuchen, einen Riegel vorzuschieben.“
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz habe schon eine positive Wirkung, Kretschmer will aber offenbar mehr. Er will ein „gesetzgeberisches, ein regulierendes Vorgehen für diese Telegramdienste und -nachrichten“. Nach diesem Satz verschluckt er sich komischerweise an seinen eigenen Worten. (Den Wortlaut der gesamten Erklärung Kretschmers finden Sie unten.)
Nicht nur Kretschmer, auch die EU will die Verschlüsselung auf Telegram und Co. aufweichen.
Was treibt den sächsischen Ministerpräsidenten an? Sein Ruf nach mehr Kontrolle und Regulierung bei Telegramgruppen ist Ausdruck von Verzweiflung. Kretschmer weiß, dass seine CDU — wenn kein Wunder geschieht — die nächste Landtagswahl krachend verlieren wird, und zwar an die AfD.
Möglicherweise hat ihm auch sein Freund Markus Söder dazu geraten, mit den Abweichlern im Lande mal „Tacheles“ zu reden.
Wie gesagt, der Kanal der „Freien Sachsen“ auf Telegram ist öffentlich, jeder kann ihn abonnieren. Welche geschlossenen Gruppen auf Telegram und anderen Messengerdiensten er meint, hat Kretschmer nicht genau ausgeführt. Allerdings scheint er nicht der Einzige zu sein, der davon träumt, solche Gruppen, was dort geschrieben und gepostet wird, behördlich zu durchleuchten. Bisher sind diese Gruppen durch eine Ende-zu-Ende-Veschlüsselung gesichert.
Das österreichische Newsportal Wochenblick.at berichtete allerdings am 11. Oktober 2021 über ein Treffen der Innen- und Justizminister der EU in Luxemburg, bei dem „heimlich, still und leise erste Schritte für eine EU-Verordnung gegen sichere Verschlüsselung in sozialen Netzwerken gesetzt“ worden seien. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung könnte demnach bald durch einen „Generalschlüssel“ für Strafverfolger ausgehebelt werden. Als Grund werde zunächst die Verfolgung von Kindesmissbrauch angegeben, doch die Ausweitung auf andere Delikte bereits angedeutet.
Der Wunsch des sächsischen Ministerpräsidenten, einzudringen in bisher geschlossene Gruppen auf Telegram und anderswo, scheint also gar nicht mehr so weit weg von der Realität.
Derweil liefert Kretschmer selbst Anlass für neue Proteste in Sachsen: In dieser Woche sprach er sich gegen eine schnelle Beendigung der Corona-Maßnahmen aus. „Wer zu schnell in die Normalität möchte, verhindert sie möglicherweise“, sagte Kretschmer am Rande eines Treffens der Länderchefs.
Am Montag werden wieder in sächsischen Orten Protestdemos stattfinden, nicht in geschlossenen Gruppen im Internet, sondern ganz real auf der Straße.
Transkription von Michael Kretschmers Rede bei der Pressekonferenz am 30. Sept. 2021
Das Prinzip der Bundesrepublik Deutschland ist nicht, dass Massenmedien einfach frei verwendet werden können, Propaganda genutzt werden können, sondern eine unserer Erfahrungen nach dem 2. Weltkrieg war: Diese Instrumente brauchen eine Kontrolle, brauchen eine Regulierung, Selbstkontrolle, Selbstregulierung und auch Regeln, und Telegramgruppen mit Zehntausenden oder Hunderttausenden Mitgliedern, die von außen nicht mehr einsehbar sind, in der keine Diskussion, kein Diskurs stattfindet, sondern eine zunehmende Radikalisierung; sind eine Gefahr für unsere Demokratie. Aus Gedanken werden Worte und aus Worten werden Taten; das haben wir jetzt einige male gesehen. Hier ist der Bundesgesetzgeber gefordert. Und mein Eindruck ist auch, dass gerade dieser Mordanschlag dort auch zu einem gewissen Umdenken in der Bundespolitik führt. Ich werbe sehr dafür, dass wir uns da aufmachen und dass es da zu einer Veränderung kommt.
Und ich erlebe jetzt auch in diesem Wahlkampf, es gibt ja diese rechtsextreme Gruppe „Freie Sachsen“, die da mobilisiert, und die hat eben – ich glaube bis zu 50 000 – Teilnehmer in Telegrammgruppen, die sich da gegenseitig immer weiter radikalisieren, in bürgerliche Gruppen hinein. Dem müssen wir versuchen einen Riegel vorzuschieben.
Und wissen Sie, ich hab das, diese Radikalisierung, jetzt auch am eigenen Leib immer wieder gespürt, da ein Gemeinderat für die AfD in einem Stadtrat sitzt, der bei den „Freien Sachsen“ auftritt, und dann in übelster Art und Weise drohend unterwegs ist, wo man sagt ja, du hast keine Ahnung, was das aus diesen Leuten macht. Und das geht so nicht. Wir müssen da anders dagegen vorgehen und aus meiner Sicht hat das Netzwerkdurchsetzungsgesetz schon an einigen Stellen positiv gewirkt; wir lernen dabei, dass das noch nicht reicht, wir lernen auch, dass von außen hier wirklich versucht wird, Deutschland, diese Demokratie, die Institutionen zu beschädigen. Das können wir auch bei…in anderen Ländern sehen wir das, die sind da auch aktiv, die haben da auch ihre Möglichkeiten. Es muss ausgehandelt werden, ne? Es ist am Ende auch ´ne Gefahr für die Demokratie, wenn man zu sehr eingreift. Das ist mir schon klar, ich weiß das auch, dass man da sehr vorsichtig sein muss, aber so, wie es jetzt ist, das kann noch nicht der letzte Punkt gewesen sein. Wir müssen es aufnehmen mit denjenigen, die durch diese Gruppierungen wirklich mit Falschinformationen versorgt werden, die sie für Wahrheit halten. Und da muss man eben sagen, wir haben das gleiche Phänomen, was bei der Einführung des Radios oder des Fernsehens so eine unglaubliche Wirkung hat: Die Menschen empfinden diese Information, vor allem, weil sie durch den Algorithmus immer wieder das gleiche bekommen und weil sie in der sozialen Gruppe immer wieder das gleiche bekommen, als unglaublich authentisch. Als die Wahrheit. Und dagegen etwas zu tun braucht aus meiner Sicht auch ein gesetzgeberisches, ein regulierendes Vorgehen für diese Telegramdienste, -nachrichten. (Und dann verschluckte er sich an seinen eigenen Worten).
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Antonia Winterstein ist Journalistin und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Matthias Wehnert/ShutterstockText: Gast