Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Es ist nur eine Prognose, nichts weiter.
Der bekanntermaßen immer um die Freiheit seiner Mitbürger besorgte Bundesfinanzminister Christian Lindner nahm am 30.10.2023 am Ständehaus-Treff der Zeitung „Rheinische Post“ teil. „Liberalität, politische Stabilität und Wohlstand für selbstverständlich zu halten,“ teilte er dort dem moderierenden Chefredakteur Moritz Döbler mit, sei „verdammt gefährlich“. Es ist schön, dass er das auch schon gemerkt hat, und man fragt sich, wieso er seit fast zwei Jahren nichts, aber auch gar nichts gegen die vor allem von den Grünen vorangetriebene Vernichtung der Liberalität, Totalitarisierung der politischen Stabilität und Zerstörung des Wohlstands getan hat. Sollte ihm erst jetzt aufgefallen sein, dass die von ihm mitgetragene Politik nicht ganz ungefährlich ist?
Dieser Eindruck könnte sich einstellen. „Ich möchte nicht zu viel Zeit mit den Grünen verbringen. Das ist nicht gut fürs Karma“, äußert er im Verlauf des Gesprächs und hofft, damit den einen oder anderen Pluspunkt bei den wenigen verbliebenen echten Liberalen zu erzielen. Um gleich danach den entscheidenden Satz zu formulieren: „Es kann schon der Punkt kommen, bei dem ich sage: Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Mancher wird sich noch an diesen Satz erinnern, mit dem Lindner 2017 seine Teilnahme an einer Jamaika-Koalition aus Union, Partei des infantilen Totalitarismus, auch Grüne genannt, und eben der FDP ausschloss. Damals hat er es ernst gemeint und auf den Augenblick bezogen, mit diesem Satz hatten sich die Sondierungen erledigt. Ob man ihn diesmal ebenfalls beim Wort nehmen kann? Ich vermute, das ist nicht der Fall.
Warum? Dass die Politik der Ampelkoalition etwa so sinnvoll ist wie das Löschen von Feuer mit Benzin, dürfte selbst Lindner schon lange wissen; er ist ja nicht ganz so dumm wie die meisten Grünen. Es könnte also etwas gegeben haben, was ihn zu dieser vagen Prophezeiung bewogen hat, und der Gedanke liegt nahe, dass es sich nicht nur um die reihenweise verlorenen Landtagswahlen und die miserabel ausfallenden bundesweiten Umfragen handelt, sondern auch um die deutlichen Protestäußerungen aus seiner eigenen Partei, die erstaunlicherweise immer noch die Freiheit im Namen trägt. Die Partei nehme „sehenden Auges in Kauf, dass ihr politisches Erbe von ‚Partnern‘ beschädigt wird“, heißt es in einem Brief von 26 FDP-Mitgliedern an die Parteiführung. „Die FDP muss daher ihre Koalitionspartner dringend überdenken.“ Und: „Die letzten Wahlen haben deutlich gezeigt, dass explizit die FDP von den Wählern in Deutschland für die Leistungen der Bundesregierung abgestraft wurde.“
Das ist schon recht deutlich und man darf davon ausgehen, dass ähnliche Gedanken auch von anderen gehegt werden; die 26 Autoren waren nur die ersten, die sich aus der Deckung getraut haben. Also muss man dem unbotmäßigen Parteivolk einen Knochen hinwerfen, um sie erst einmal wieder für eine Weile ruhig zu stellen. Aber deshalb gleich die Regierung verlassen, in der man es sich so gemütlich gemacht hat? „Es kann schon der Punkt kommen“, hat Lindner gesagt, nicht etwa „Wir stehen kurz davor“ oder „Es ist unausweichlich“. Das ist hinreichend unklar, er hat sich auf nichts festgelegt und nichts ausgeschlossen. Doch es gibt bedeutsame Gründe für ihn und seine drei nominell liberalen Ministerkollegen, in der Regierung zu verweilen.
In §15 des Bundesministergesetzes heißt es in Absatz 1: „Ein ehemaliges Mitglied der Bundesregierung hat von dem Zeitpunkt an, in dem die Amtsbezüge aufhören, Anspruch auf Ruhegehalt, wenn es der Bundesregierung mindestens vier Jahre angehört hat; eine Zeit im Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs bei einem Mitglied der Bundesregierung sowie Zeiten einer vorausgegangenen Mitgliedschaft in einer Landesregierung, die zu keinem Anspruch auf Versorgung nach Landesrecht geführt haben, wird berücksichtigt.“ Ich sehe einmal von der etwas missglückten Grammatik dieser Formulierung ab. Vier Jahre lang muss man jedenfalls auf einem Ministersessel verbracht und Karl Lauterbach ertragen haben, um in den Genuss einer zwar nicht verdienten, aber doch wenigstens redlich ersessenen Pension zu kommen. War man vorher Parlamentarischer Staatssekretär, so wird diese Zeit angerechnet, ebenso die Zeit als Landesminister, falls man es dort nicht zu einer Landespension gebracht hat.
Im Regelfall muss man also eine volle Legislaturperiode durchstehen und das wäre schon ein guter Grund, die Koalition nicht platzen zu lassen. Wer will schon auf eine Ministerpension verzichten, wenn er es vermeiden kann? Weder Lindner noch Justizminister Buschmann noch Bildungsministerin Stark-Watzinger – verbindet irgendjemand mit diesem Namen ein Gesicht oder wenigstens eine Ahnung, was die Dame von früh bis spät beruflich macht? – gehörten bis zum Eintritt in das Bundeskabinett jemals einer Regierung an; da gibt es also nichts anzurechnen, da muss man zum eigenen Posten stehen wie ein Fels in der Brandung. Etwas anders sieht es bei Volker Wissing aus, Bundesminister für Digitales und Verkehr, der auf den Tag genau fünf Jahre lang Landesminister in Rheinland-Pfalz war – und wie es der Zufall will, braucht es in Mainz eine fünfjährige Amtszeit als Minister, um das pfälzische Ruhegehalt zu genießen. Auch ihm würde daher die Zeit als Landesminister nicht angerechnet, denn die gilt nur, wenn sie nicht zu einem Anspruch auf „Versorgung nach Landesrecht“ geführt hat. Um also die bisherige Zeit als Bundesminister noch ein wenig in seine alten Tage zu retten, muss er durchhalten, da hilft ihm nichts.
Schlupfloch im Gesetz
Kurz gesagt: Einfach aus Sorge um das Land eine katastrophal schlechte Regierung zu verlassen, kann man den um ihre Pension besorgten Ministern nicht zumuten. Doch das Gesetz scheint hier ein Schlupfloch bereitzustellen. Eine Bunderegierung kann schließlich auch enden, indem man dem Kanzler das Misstrauen nach Artikel 67 des Grundgesetzes ausspricht oder er aus welchen Gründen auch immer das Handtuch wirft. In beiden Fällen verlieren auch die Minister ihr Amt, und selbstverständlich ist dann die Koalition beendet. Aus freien Stücken zurücktreten wird der etwas vergessliche Kanzler nicht, schließlich hat er eine Mission, wenn auch niemand so recht weiß, welche. Aber ein konstruktives Misstrauensvotum wäre doch einen Gedanken wert. Und der erwähnte Paragraph betreibt hier eine spezielle Form der Arithmetik: Im Falle eines Misstrauensvotums und „einer ununterbrochenen Zugehörigkeit zur Bundesregierung von mehr als zwei Jahren gilt dies als Amtszeit von vier Jahren“. Aus zwei mach’ vier, das lob’ ich mir. Genau genommen sind es zwei Jahre und ein Tag, aber diesen einen Tag kann man auch noch ertragen. Am 8. Dezember 2023 sind die zwei Jahre verflossen, spätestens am 10. Dezember könnte die nötige Abstimmung stattfinden, der alte Kanzler abgewählt und ein neuer ins Amt gebracht werden. Es muss ja nicht gerade Friedrich Merz sein; ich kann jeden verstehen, der ihn nicht wählen will. Aber die Auswahl ist doch groß! Wie wäre es beispielsweise mit Boris Becker, der kennt sich wenigstens mit Insolvenzen aus? Oder vielleicht besser Harald Schmidt, dessen Intelligenz und Originalität die entsprechenden Fähigkeiten des gesamten Bundeskabinetts in den Schatten stellen dürften?
Das wird nicht geschehen. Sicher, die FDP könnte mit der Union im Hinterzimmer verhandeln, die Unionsfraktion könnte den entsprechenen Antrag stellen, sie ist groß genug dafür und die FDP könnte für’s Publikum und für den Kanzler empört tun. Doch zwischen dem Stellen des Antrags und der eigentlichen Abstimmung müssen mindestens 48 Stunden vergehen und im Verlauf dieser zwei Tage würde nicht jeder seinen Mund halten; wir reden hier schließlich von Politikern. Sobald aber die verborgene Beteiligung der Pseudoliberalen am Tage ist, würde der Kanzler für die Entlassung seiner angeblich liberalen Minister sorgen, damit sie noch vor dem Misstrauensvotum nicht nur ihr Amt, sondern auch ihre Pensionsansprüche verlieren. Und nicht nur das. Der Deutsche Bundestag beherbergt derzeit 736 Abgeordnete, die nötige Mehrheit liegt daher bei 369 Stimmen. Die möglichen Unterstützerfraktionen eines Misstrauensvotums, Union, FDP und AfD, kommen aber nur auf 367 Stimmen, das sind zwei zu wenig. Es wäre möglich, dass zwei der sechs fraktionslosen Abgeordneten das Votum unterstützen. Es wäre auch möglich, dass zwei Grüne nicht verstehen, worum es geht, und sicherheitshalber mit Ja stimmen. Verlassen kann man sich nicht darauf. Und da ein von der FDP unterstütztes, aber gescheitertes Misstrauensvotum mit dem Herauswurf der sogenannten liberalen Minister enden müsste, hat Christian Lindner vermutlich keine große Freude daran, das Risiko einzugehen.
Ob sie nun also um ihre Entlassung bitten oder ein Misstrauensvotum in die Wege leiten: Die Minister müssen stets mit dem Verlust der Pension rechnen und werden daher auf alle Aktivitäten dieser Art dankend verzichten. Das kann man nachvollziehen, denn die Altersversorgung für Minister ist gar nicht so übel. Schon nach einer vierjährigen Amtszeit darf man sich nach Erreichen der üblichen Altersgrenze über eine Pension von etwa 4600 € freuen – es gibt nicht viele Ruheständler, die da mithalten können, selbst nach 40 Jahren Arbeitszeit statt nur vier Jahren Amtszeit. Und wer nicht bis zur Altersgrenze warten will, wird nicht vergessen: Auch mit 60 Jahren ist der Übergang in den Ruhestand möglich, nur dass man sich dann mit knapp 4000 € monatlicher Pension begnügen muss. Wenig ist das nicht. Nimmt man etwa an, dass ein sechzigjähriger ehemaliger Minister das 85. Lebensjahr erreicht, so kommt er auf eine Lebenspension von annähernd 1,2 Millionen Euro. Die wirft man nicht einfach so hin, nur um das Land, dem man angeblich dient, nicht zu ruinieren.
Ich wage also die Prognose, dass die sogenannten liberalen Minister die Regierung nicht verlassen werden; bis zum bitteren Ende werden sie die Tage bis zum Erreichen des Pensionsanspruchs zählen. Und mit einem bitteren, einem ernsthaft bitteren Ende ist zu rechnen – nicht für die Minister, die sind gut versorgt, aber für die Menschen ohne Ministeramt, für die Arbeitnehmer, die Rentner und alle anderen, deren Ruin durch die Politik der Ampelkoalition herbeigeführt wird.
Einen Amtseid haben die Minister alle geleistet: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Vielleicht sollte man endlich einen alternativen Amtseid einführen, der den Realitäten besser entspricht, etwa so: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft meinem eigenen Wohl widmen, meinen Nutzen mehren, Schaden von meinem Ministerposten wenden und mit allen Mitteln den Erhalt meiner Pension verteidigen werde.“
Denn ist der Schwur erst ruiniert, regiert es sich ganz ungeniert.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.