Neue Wahlrecht-Vision: Keine Parteilisten, sondern Menschen, die für ihre Taten stehen Ein Modell von Prof. Dr. Rießinger

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Obwohl es manchen Vertretern der alleinseligmachenden Ampelkoalition ein gewisses Unbehagen bereiten dürfte, werden in Deutschland noch immer Wahlen durchgeführt. Bekannt ist, dass das Ergebnis solcher Wahlen von mindestens zwei Einflussfaktoren abhängt: Erstens vom Wahlverhalten der Wähler und zweitens vom Zählverhalten der Zähler, wie man es schon bei Josef Stalin lesen konnte: „Die Leute, die die Stimmen abgeben, entscheiden nichts. Die Leute, die die Stimmen zählen, entscheiden alles.“ Dabei wird allerdings ein dritter Einflussfaktor gerne übersehen: die Ausgestaltung des Wahlrechts.

An einem einfachen fiktiven Beispiel kann man sich das leicht verdeutlichen. Nehmen wir an, es stehen drei Parteien A, B und C zur Wahl, die bei einer Abstimmung 40, 30 und 30 Prozent der Stimmen erreichen. Im Falle des Verhältniswahlrechts, bei dem der Anteil der Parlamentssitze dem der erzielten Stimmen entspricht, hat somit keine der drei angetretenen Parteien eine eigene Mehrheit, Koalitionen aller Art sind möglich. Ganz anders ist die Lage, wenn nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechts gewählt wurde und in jedem Wahlkreis die oben angegebene Stimmenverteilung vorliegt. Genügt zum Gewinn eines Wahlkreises die relative Mehrheit, so wird Partei A alle Parlamentssitze erhalten, B und C dagegen keine, denn in jedem Wahlkreis hat A die relative Mehrheit der Stimmen. Braucht man dagegen die absolute Mehrheit der Wahlkreisstimmen, muss überall ein zweiter Wahlgang durchgeführt werden, wobei man nicht ausschließen kann, dass sich die beiden Parteien B und C zusammentun und kraft ihrer Stimmenzahl dann ihrerseits sämtliche Sitze für sich verbuchen können.

Drei sehr verschiedene Endergebnisse bei gleichem Wahlverhalten der Bürger, und das nur aufgrund des jeweils eingesetzten Wahlsystems: Grund genug, einige Worte über Möglichkeiten des Wahlrechts zu verlieren. Vor einiger Zeit habe ich bereits einen Entwurf eines neuen Wahlrechts vorgestellt, der deutlich besser als die heutige Methode die Idee einer konsequenten Verhältniswahl realisieren könnte. Doch jedes Verhältniswahlrecht, das die Auswahl unter konkurrierenden Parteilisten vorsieht, leidet an der immer gleichen Krankheit. Artikel 38 des Grundgesetzes sagt nämlich: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Und eine Verhältniswahl kann niemals unmittelbar sein. Zur Wahl stehende Listen müssen vorher in parteiinternen Prozessen mit Kandidaten gefüllt werden, und am Ende hat der Wähler die Auswahl unter Listen, deren personelle Ausstattung er nicht beeinflussen konnte. Er wählt nicht die Kandidaten, sondern eine Liste aus vielen Kandidaten, und kann somit nicht unmittelbar bestimmen, wie sich das Parlament zusammensetzt – nur mittelbar, auf dem Umweg über Parteilisten, die ohne Mitwirkung der Wähler zustande kommen. Sieht man genauer hin, so stellt man fest, dass Listen für die Bundestagswahl nur von Parteien eingereicht werden können und nicht von anderen Vereinigungen, was die Sache nicht besser, sondern noch fragwürdiger macht.

Das Prinzip der Unmittelbarkeit wird deshalb durch keine Art der Verhältniswahl gewährleistet. Es scheint somit nötig zu sein, sich auf ein anderes und ebenfalls altbekanntes Prinzip zu besinnen: Das Prinzip der Personenwahl, und zwar auf eine Weise, die den die Unmittelbarkeit störenden oder gar aussetzenden Einfluss der Parteien reduziert. Ein Personenwahlrecht, wie man es bei der Abgabe der Stimmen für das britische Unterhaus praktiziert oder gar wie bei Wahlen zur französischen Nationalversammlung, wo es bei fehlender absoluter Mehrheit zu einem zweiten Wahlgang kommt, ist deshalb nicht sehr zielführend. Das französische System führt fast zwangsläufig dazu, dass sich in einem zweiten Wahlgang verschiedene Parteien absprechen, um den aussichtsreichsten Kandidaten aus ihren Reihen zu unterstützen und so missliebige Wahlkreismehrheiten zu vermeiden – keine gute Methode, um die Hinterzimmerverfahren der Parteien zu schwächen. Und auch bei nur einem Wahlgang, bei dem die relative Mehrheit ausreicht, ist selbstverständlich im Vorfeld jederzeit die Möglichkeit von Parteienkungeleien gegeben; es fällt nur nicht so auf, weil man auf kein vorhergehendes Ergebnis eines ersten Wahlgangs reagiert, sondern auf die vermutete Stimmung im jeweiligen Wahlkreis.

Ein anderer Weg wäre somit wünschenswert, den man sich auf verschiedene Weisen vorstellen kann. Eine Möglichkeit werde ich im Folgenden skizzieren.

Zunächst ist die Rolle der Parteien stark einzuschränken. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit,“ heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Doch daraus folgt nicht zwingend, dass sie sich selbst voller Freude staatliche Finanzierungen in beträchtlicher Höhe genehmigen. Bei der Willensbildung des Volkes können sie auch ohne staatliche Gelder mitwirken, und man darf sogar annehmen, dass sie in diesem Fall mangels der bisherigen finanziellen Möglichkeiten tatsächlich nur mitwirken und nicht mehr die Willensbildung auf manipulative Weise bestimmen.

Die gesamte staatliche Parteienfinanzierung ist daher zu streichen, sowohl die direkte als auch die indirekte, für alle Parteien. Es gibt also keine staatlichen Zuwendungen mehr, die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden wird abgeschafft, auch die Parteistiftungen müssen sehen, wo sie bleiben: Die Parteien haben mit ihren Mitgliedsbeiträgen und den geleisteten Spenden auszukommen. Damit wird der Einfluss der politischen Parteien reduziert und die Unmittelbarkeit der Wahl gefördert, obwohl sie noch immer die Möglichkeit haben, an der „politischen Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken.

Obwohl nicht zum Wahlrecht gehörig, muss ich doch einige Worte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verlieren. Er ist seit langer Zeit zu einem reinen Parteien- und Regierungsfunk verkommen, der insbesondere jedem beliebigen grün-roten Unfug begeistert zujubelt. Dass er sein Unwesen nach wie vor auf Kosten der Gebührenzahler treiben kann, bedeutet in der Praxis, dass hier mit Geldern der Bürger Parteien gefördert werden. Das widerspricht dem Prinzip, dass die Parteien mit dem auskommen müssen, was man ihnen freiwillig zukommen lässt. Die Zwangsgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind daher abzuschaffen – nicht auf einen Schlag, ich will den hochalimentierten angeblichen Journalisten nicht gleich den Stuhl vor die Tür stellen. Sowohl sie als auch ihre Arbeitgeber sollen Zeit haben, sich am Markt zu behaupten. Zu diesem Zweck soll die Zwangsabgabe nach einem Jahr von derzeit 18,36 € um ein Drittel auf 12,24 € reduziert werden und nach einem weiteren Jahr auf 6,12 €, um dann schließlich gänzlich zu verschwinden. Erweisen sich die Staats- und Parteiensender dann als konkurrenzfähig, sei es ihnen gegönnt.

Zur Wahl stehen können nur noch Personen, keine Parteilisten. Kandidaten dürfen allerdings einer Partei angehören, müssen das aber vor der Wahl offenlegen. Unterstützungszahlungen einer Partei für den Wahlkampf dürfen sie nicht annehmen; die nachgewiesenen Wahlkampfkosten werden bis zu einer bestimmten Höhe aus der Staatskasse erstattet. Sollte ein Kandidat dennoch Zahlungen einer Partei erhalten, wird die Annahme der Parteigelder als Straftat betrachtet.

Jeder Kandidat hat rechtzeitig vor der Wahl eine einseitige Erklärung abzugeben, in der er erstens seine eventuelle Parteizugehörigkeit angibt, zweitens verbindlich erklärt, keine Parteimittel anzunehmen, und drittens seine politischen Ziele und Vorstellungen beschreibt. Diese Erklärungen werden auf einer eigens eingerichteten Webseite veröffentlicht. Sollte der Kandidat bereits Parlamentsmitglied sein, ist eine weitere einseitige Erklärung seiner Aktivitäten während der letzten Legislaturperiode zu liefern. Da man nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass Politiker stets die Wahrheit sagen, sind nachweislich unwahre Behauptungen im Rahmen dieser Erklärung als uneidliche Falschaussage zu werten und daher strafbar.

Zusätzlich bedarf es für die Eignung als Kandidat einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder eines abgeschlossenen Hochschulstudiums sowie einer anschließenden mindestens zweijährigen hauptberuflichen Tätigkeit – zu schlecht waren bisher die Erfahrungen mit ungelernten Parlamentariern, um auf diese Voraussetzung zu verzichten. Berufstätigkeiten innerhalb des Parteiengespinstes, die heute an der Tagesordnung sind, werden nicht anerkannt.

Das ist ohne Frage eine Einschränkung des passiven Wahlrechts, aber es ist nicht die erste. In Artikel 54 des Grundgesetzes findet man beispielsweise eine Einschränkung in Bezug auf die Wählbarkeit zum Bundespräsidenten: „Wählbar ist jeder Deutsche, der das Wahlrecht zum Bundestage besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat.“ Damit wollte man wohl eine gewisse geistige und persönliche Reife der Amtsinhaber gewährleisten, wobei die aktuellen Entwicklungen darauf hinweisen, dass das nicht immer funktioniert. Das Beispiel zeigt aber, dass man für bestimmte politische Ämter Voraussetzungen treffen darf.

Und es zeigt, dass es möglich ist, Anforderungen an das Alter zu definieren. Die Abgeordneten des Bundestages treffen – im Gegensatz zum Bundespräsidenten – Entscheidungen, die starken Einfluss auf das Wohl und Wehe der Bürger nehmen. Ein gewisses Maß an Reife wäre hier also ebenfalls wünschenswert und ist derzeit allzu häufig nicht feststellbar. Daher sollte ein Mindestalter von beispielsweise 25 Jahren für die Wählbarkeit zum Bundestag festgelegt werden. Ich gebe zu, dass es etlichen der derzeitigen Parlamentarier selbst im Alter von 95 Jahren an persönlicher Reife fehlen dürfte. Bedenkt man zusätzlich, dass im Mai 2023 die damals fünfundzwanzigjährige Bundestagsabgeordnete Emilia Fester von der Partei der sogenannten Grünen weder wusste, dass Otto von Bismarck einmal deutscher Reichskanzler gewesen ist, noch darüber Auskunft geben konnte, in welchem Jahr wohl die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, können leise Zweifel an der Wirksamkeit dieser Altersuntergrenze aufkommen.

Nun zum aktiven Wahlrecht. Es soll sich um eine reine Personenwahl handeln, die aber nicht an Wahlkreise gebunden sein darf: Jeder Wähler soll die Möglichkeit haben, jeden Kandidaten zu wählen. Es mag ein wenig Zeit kosten, die eingereichten Unterlagen der Kandidaten wenigstens zu überfliegen, aber es geht ja nur um die Zukunft des Landes und seiner Bürger, da kann man vielleicht einmal die eine oder andere Stunde opfern. Allerdings ist es wenig zielführend, den Wählern nur jeweils eine Stimme zuzugestehen, denn es ist jederzeit möglich, dass sie von mehr als nur einem Kandidaten überzeugt sind und somit verschiedene Kandidaten unterstützen wollen. Jeder Wähler hat also mehr als eine Stimme zu vergeben; die konkrete Anzahl sollte überschaubar bleiben, weshalb ich für zehn positive Stimmen pro Wähler plädiere.

Denn neben diesen positiven Stimmen, mit denen die Wähler ihre Zustimmung zu den Kandidaten zum Ausdruck bringen können, stehen noch zehn negative Stimmen zur Verfügung, um klarzumachen, wen man ganz bestimmt nicht im Parlament sehen möchte. Auf diese Weise ist es möglich, die Zusammensetzung des Bundestages auf doppelte Weise zu beeinflussen und das Prinzip der möglichen Abwahl unfähiger Kandidaten zu stärken. Denn Wahltage sind Urteilstage, und wenn manch ein Mandatsinhaber in den Augen der Wähler nur schädlichen Unsinn angerichtet hat, dann sollten sie ihre Ablehnung nicht nur durch Zustimmung zu anderen Kandidaten kundtun können, sondern auch durch explizite negative Stimmen.

Für jeden Kandidaten wird die Nettostimmenzahl ermittelt, indem man die Anzahl der negativen Stimmen von der der positiven Stimmen abzieht – im besten und gebildetsten Deutschland, das es je gab, ist sehr genau darauf zu achten, dass Plus und Minus nicht verwechselt werden. Gewählt sind die 300 Kandidaten mit der höchsten positiven Nettostimmenzahl; mehr als 300 Abgeordnete braucht man nicht, sofern sie qualifiziert sind und sich um die Sacharbeit kümmern. Sollten weniger als 300 Kandidaten eine positive Stimmenbilanz aufweisen, dann werden nur die Aspiranten berücksichtigt, die nicht ins Negative abgeglitten sind, sofern ihre Zahl nicht eine vorgegebene Untergrenze von beispielsweise 200 unterschreitet. Natürlich ist es möglich, dass man im ganzen Land nicht einmal 200 Kandidaten aufzutreiben vermag, die es zu einer positiven Stimmenbilanz unter den Wählern bringen, weshalb kein Parlament mit der nötigen Mindestgröße zusammentreten kann und somit auch keine Regierung existiert. Falls das vorhandene Personal so miserabel ist, lässt sich das nicht ändern, und es gilt eine Abwandlung eines Satzes von Christian Lindner, als er wenigstens noch so tat, als sei er ein Liberaler: Es ist besser, nicht regiert zu werden, als miserabel regiert zu werden. Schnellstmögliche Neuwahlen bei hoffentlich besserer Kandidatenlage sind dann so unangenehm wie unvermeidlich.

Nun könnte man einwenden, auf diese Weise würden manche Stimmen überhaupt nicht gezählt, weil beispielsweise eine positive Stimme durch eine negative Stimme ausgeglichen wird und daher nicht zur Wirkung kommt. Das ist nicht der Fall, denn jede Stimme trägt zum gesamten Nettoergebnis eines Kandidaten bei, das sich durch jede abgegebene Stimme – gleich welcher Richtung – verändert. Dagegen leidet das aktuelle Wahlsystem ganz entschieden unter der Schwäche, dass abgegebene Stimmen unter den Tisch fallen, und zwar nicht nur deshalb, weil vielleicht findige Auszähler Stimmzettel für eine missliebige Partei gelegentlich vom Tisch verschwinden lassen. Zum Ersten ist die Fünf-Prozent-Hürde zu nennen, der unter Umständen bei der nächsten Bundestagswahl die FDP seligen Angedenkens zum Opfer fallen wird; alle Stimmen, die sie erzielen konnte, spielen dann keine Rolle mehr, der entsprechende Wählerwille wird ignoriert. Und schlimmer noch: Dieses Stimmenpotenzial teilen die anderen Parteien unter sich auf, womit sogar der Wille des Wählers in sein Gegenteil verkehrt wird.

Zum Zweiten sorgt auch das Verfahren bei der Wahl der Direktkandidaten in den Wahlkreisen dafür, dass alle Stimmen für unterlegene Kandidaten keine Bedeutung mehr haben. Und auch hier wird es noch schlimmer, da das neue Wahlrecht der Ampelkoalition Situationen vorsieht, in denen direkt gewählte Kandidaten dennoch keinen Parlamentssitz erlangen, sodass auch ihre Wählerstimmen den Weg allen gebrauchten Papiers gehen. All das kann bei einer Personenwahl nach dem Nettostimmenprinzip nicht geschehen.

An die Wähler wird jedoch eine zusätzliche Anforderung gestellt, die es bisher nicht gab, denn auch sie sollten über ein Minimum an Kenntnissen verfügen, wenn sie über die Zukunft des Landes an der Wahlurne entscheiden sollen. Rechtzeitig vor der Wahl werden daher 100 Fragen erstellt, die mit ihren Antworten veröffentlicht werden. Jeder kann die Fragen sehen, jeder kann die Antworten sehen. Vor jedem Wahlakt muss der Wähler eine zufällige Auswahl von zwölf Fragen beantworten, wobei zu jeder Frage vier Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. Da bei reinen Zufallsantworten drei richtige Antworten zu erwarten sind, muss man diese drei noch auf die 50%-Hürde addieren und somit neun richtige Antworten verlangen; zur Not lasse ich mich auf acht herunterhandeln. Wer das nicht schafft, darf nicht wählen. Die Fragen dürfen nicht schwierig sein, man muss nicht nach dem Hauptsatz der Integralrechnung oder den Prinzipien der Quantenphysik fragen, aber sie können sowohl dem Bereich der Allgemeinbildung als auch dem der politischen Bildung entstammen, wobei auf strikte parteipolitische Neutralität zu achten ist. Ich darf an den oben angeführten Fall der Bundestagsabgeordneten Fester erinnern, bei der vielleicht eine leichte Skepsis in Bezug auf die richtigen Antworten aufkommen könnte. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass die gesamte Liste der Fragen und Antworten schon Monate im Voraus jedem zur Verfügung steht, der sie haben möchte, und es somit ohne großen Aufwand möglich ist, die Mindestvoraussetzung zu erfüllen.

Eine Frage drängt sich auf: Nimmt man so manchen Wählern nicht ihr verfassungsgemäßes Wahlrecht? Eher nicht. Jeder Wahlakt ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden, man kann seine Stimme nicht abgeben, wenn man es nicht schafft, zum Wahllokal zu gehen oder wenigstens die Briefwahlunterlagen anzufordern und dann die ausgefüllten Unterlagen dem nächsten Briefkasten anzuvertrauen. Ein gewisses Maß an Eigenleistung ist also in jedem Fall nötig, und ich führe hier nur eine andere Art der Eigenleistung ein, von der sich niemand abhalten lassen muss, zur Wahl zu gehen. Im Übrigen gibt es auch von berufener politischer Seite Bemühungen, die Wählerschaft zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. „Wir dürfen nicht tolerieren,“ äußerte vor einigen Wochen der nominell der CDU angehörende Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, „dass Menschen eine solche Partei wählen,“ wobei ich kaum erwähnen muss, welche Partei er wohl meint. Sollte das etwa demokratischer sein als der Satz „Wir dürfen nicht tolerieren, dass Menschen ohne ein Mindestmaß an Wissen irgendeinen Kandidaten wählen“? Dieses Mindestmaß kann man sich binnen kürzester Zeit verschaffen, und dann kann und soll man wählen, wen man will, auch wenn das ein Ministerpräsident nicht möchte.

Es ist keineswegs klar, ob ein nach den aufgeführten Prinzipien gewähltes Parlament qualifizierter besetzt wäre als das heutige, wenn man auch davon ausgehen muss, dass unser derzeitiges Niveau nur schwer unterboten werden kann. Wichtig ist, dass auf diese Weise der Einfluss der Parteien stark reduziert wird und keine Parteienlisten mehr gewählt werden können, sondern nur noch Personen, die klargestellt haben müssen, wofür sie stehen, und für ihre Taten direkt zur Verantwortung gezogen werden. Auf einer Parteiliste können sie sich dann nicht mehr verstecken. „Die meisten Parteipolitiker interessieren sich sehr wenig für die Gedanken und Gefühle der Leute, deren Geld sie ausgeben,“ meinte Peter Sloterdijk, und ebenso wenig interessieren sie sich dafür, ob die Wähler und Steuerzahler mit dem Geld auskommen können, das man ihnen lässt. Denn Parteien und ihre Vertreter richten sich mit Vorliebe nach dem Prinzip, das schon Bismarck klar formulierte: „Es lebe die Fraktion, wenn auch die Welt darüber zugrunde geht!“

Zurzeit können wir das sehr genau beobachten. So sollte es nicht bleiben.

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Bild: Wirestock Creators/Shutterstock

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

 

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