Ein Gastbeitrag von Alexander Wallasch
Wie kann es in Zukunft gelingen, die gespaltene Gesellschaft wieder zu einen? Nach den Verwerfungen der Massenzuwanderung wurde in Deutschland insbesondere die Debatte um die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zum Spaltpilz: Auf der einen Seite die Gläubigen und auf der anderen Seite die Gläubigen. Aber beide mit ganz unterschiedlicher Bewaffnung: Hier der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Altmedien, die etablierten Parteien, dort die Wirkmacht der sozialen Medien und die Wucht oppositioneller Kritik gegen die Regierungspolitik – die Stimmen des kleinen Mannes, manchmal schrill, oft unerbittlich.
Dem österreichischen privaten Fernsehsender Servus TV kommt schon mit Beginn der Covid-19-Pandemie eine besondere Rolle zu: Hier scheut man sich nicht, Stimmen aus beiden Lagern abzubilden, beide Kirchen zu betreten. Und der Sender ist damit erstaunlich unbeschadet durch die Zeit gekommen. Hier wurden auch Sucharit Bhakdi oder der Hannoveraner Stefan Homburg angehört, ebenso wie die Journalisten Roland Tichy und Boris Reitschuster – und das, ohne dass die große Verdammnis über dem Sender des Red-Bull-Gründers darniederging.
Einem, dem dafür besonderes Verdienst gebührt, ist der Servus-TV-Talkshow-Moderator Michael Fleischhacker, der ein ums andere Mal die vier großen Talkshows im deutschen Fernsehen an die Wand spielte und deutlich machte, auf welcher Seite diese per Zwangsgebühren finanzierten Regierungssendungen stehen.
Aber wie kann es in Zukunft gelingen, die gespaltene Gesellschaft wieder zu einen? Servus TV machte am gestrigen Abend ein interessantes Angebot, als Fleischhacker ein Einzelgespräch führte in einem „Talk Spezial“ unter der Überschrift: „Die große Corona-Abrechnung“. Einziger Gast des Abends war John Ioannidis, Professor für Medizin, Epidemiologie und Bevölkerungsgesundheit an der altehrwürdigen Stanford Universität.
Aber nicht nur das: Ioannidis hatte sich schon relativ früh in der Pandemie eine die Maßnahmen kritisierende Haltung erlaubt und ist – sagen wir es mal so – damit zumindest vergleichsweise relativ unbeschadet davon gekommen.
Könnte John Ioannidis der Missing Link, das fehlende Bindeglied einer notwendigen Versöhnung sein? Denn sollte es ein Ende der Pandemie geben, dann müssen ja die Wunden geheilt und der Neuanfang angepackt werden – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
„Keine Panik!“, steht unübersehbar auf der Stirn des Professors. 18 Monate nach Beginn der pandemischen Krise zieht Ioannidis bei Servus TV Bilanz: Er spricht über die größten Fehler in der Pandemie, warum sich Politik und Wissenschaft in vielen Punkten irrten und welche Schritte nun zur Beendigung der Krise nötig sind.
‘Eine Art Schnittstelle‘
Gleich vorab gesagt: Prof. Ioannidis ist auch deshalb eine Art Schnittstelle, weil im Prinzip beide Lager in einigen Punkten mit ihm d’accord gehen könnten: Ioannidis kritisiert scharf die Corona-Maßnahmen als nicht verhältnismäßig, er ist aber auch Befürworter von Impfungen – und hier bis zu einem gewissen Grad sogar bei Minderjährigen. Verscherzt man es sich so mit beiden Lagern oder nötigt das zunächst Lager übergreifend Respekt ab als unbestechlicher wie unpolitischer Wissenschaftler?
„Talk Spezial“ mit Prof. John Ioannidis und Moderator Michael Fleischhacker bei Servus TV in Salzburg: Das auf Englisch geführte Interview wurde nachsynchronisiert. Der Moderator spricht sich selbst. Ioannidis wirkt sympathisch, lächeln kann er und macht damit sofort einen einnehmend freundlichen, dem Menschen zugewandten Eindruck.
Fleischhacker startet mit dem Hinweis auf Kollegen von Ioannidis am Londoner Imperial College, die jetzt eine Art Bilanz der Pandemie veröffentlicht hätten mit u.a anderem dem Fazit, dass ohne die Lockdowns wohl weltweit 40 Millionen Menschen an einer Covid-19-Erkrankung gestorben wären.
Es geht also hier gleich zu Beginn um die nicht pharmazeutischen Interventionen (Corona-Maßnahmen) und die Frage an Ioannidis, was passiert wäre, wenn die US-amerikanische Regierung den weniger interventionistischen Vorschlägen des Stanford-Professors gefolgt wäre. Fleischhacker will wissen, wie sich das anfühlt, dass wenn man auf ihn gehört hätte, möglicherweise 40 Millionen Menschen mehr verstorben wären. Dazu noch zu lächeln, muss man erst einmal hinbekommen.
‘Ganzheitliche Sicht des Geschehens‘
Aber Prof. John Ioannidis kriegt das hin, er erinnert daran, dass er zu Beginn der Pandemie, im Februar 2020, sogar einer der schärfsten Befürworter harter Lockdowns gewesen wäre, schlicht, weil man nichts über das Virus gewusst hätte. Dann aber müsse man Informationen sammeln, um diese harten Maßnahmen den Erfordernissen anzupassen und vor allem Kollateralschäden zu vermeiden. Ioannidis sieht sich als Vertreter einer ganzheitlichen Sicht auf das Geschehen. Und er wird das im Verlaufe des Gesprächs noch öfter wiederholen.
Ioannidis weist immer wieder auf die „großartige Arbeit“ anderer Wissenschaftler hin, erwähnt in dem Zusammenhang auch die in London, betont aber, eine andere Position zu vertreten. Schul- und Büroschließungen haben für Ioannidis allerdings die größten Schäden angerichtet. Diese Schließungen stehen bei ihm im Zentrum seiner Kritik und der seines wissenschaftlichen Teams, wie er betont.
Er scheut sich nicht auch zu erwähnen, dass sein Team komplett andere Ergebnisse bekommen hätte, als das Imperial College London und das, obwohl man sogar dieselben Modelle zugrunde gelegt hätte. Das Ergebnis beim Team aus Stanford: Harte Lockdowns („draconian lockdowns“) bringen keinen Nutzen. Fleischhacker ergänzt, dass das Imperial College London auch unter den Lockdowns mehr Tote angekündigt hatte, als es am Ende waren.
Die These des Humanmediziners Franz Allerberger, dass es ohne PCR-Tests gar keine Pandemie gegeben hätte, hält Ioannidis für eine „extreme Position“, die allenfalls und nur für die erste Welle für solche Länder gelten könnte, die nicht so stark betroffen gewesen sind, „für die meisten Länder stimmt das allerdings nicht.“
‘Schuldzuweisungen wären falsch‘
Ioannidis prangert aber auch an, dass gewisse Narrative sehr dominant und energisch werden können, dass dahinter gewisse Interessen stehen und dass die „Politik damit unglücklich verquickt ist.“ Es sei hier sehr schwer, einen Schritt zurück zu machen und zu sagen: „Wir haben uns geirrt, wir brauchen eine andere Vorgehensweise.“ Aber auch Schuldzuweisungen wären jetzt falsch.
„Wissenschaftler können ihre Urteile korrigieren, das ist der Unterschied zum Dogma, wo wir alles wissen.“ Es ginge darum, immer wieder nachzujustieren und nach der Wahrheit zu suchen.
„Wenn dahinter aber starke Interessen und politische Anliegen stehen, dann stört das den wissenschaftlichen Prozess.“ Und dann sei das der Wissenschaft eigentlich leicht fallende Eingeständnis, dass man falsch lag, „keine leichte Aufgabe mehr.“
„I’am sorry, i was wrong, is not easy to do.“
Am Ausgangspunkt der kritischen Position von Ioannidis steht seine so genannte „Stanford-Studie“, in der er schon früh das Prinzip der Lockdowns scharf kritisiert und vor enormen Kollateralschäden gewarnt hatte. Seitdem steht er im Kreuzfeuer von Wissenschaft, Medien und Politik. Der Professor betont aber auch die Chance für die Wissenschaft in dieser Pandemie, für eine größere Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Aber das hohe Tempo hätte zur Verwirrung beigetragen, „Wissenschaft braucht Zeit zu reifen.“
„Haben Sie eine Art Anti-Mainstream-Position?“, will der Moderator dazu wissen. Ioannidis verneint das. Er sieht sich vielmehr als Teil einer großen Positionsfindungsmaschine auf der gemeinsamen Suche nach der besten Lösung. Er selbst hätte kein einziges Memorandum, keine Erklärung und keinen einzigen offenen Brief unterzeichnet.
‘Besitz der Wahrheit‘
„Weil ich nicht glaube, dass Wissenschaft so funktioniert. (…) Es ist keine Frage von ausgezählten Stimmen. Diesen Ansatz haben wir nicht immer hinbekommen.“ Die Autoren der Erklärungen und Memoranden hätten die Haltung gehabt, im Besitz der Wahrheit zu sein, das ist für Ioannidis per se unwissenschaftlich. „Und sie waren auch davon überzeugt, dass ihre Gegner nichts wissen. Und das ist ein grob vereinfachter Umgang mit der Wissenschaft. Der Aktivismus hat die Wissenschaft während der Pandemie wirklich unterdrückt.“
Fleischhacker macht einen interessanten Bogen, als er die Idee, dass Wissenschaft nie Partei ergreifen sollte, mit dem Journalismus vergleicht, wo es heißt, ein Journalist sollte sich nie mit einer Sache gemein machen, „auch nicht, wenn es eine gute Sache ist.“
Der Stanford-Professor befindet dazu, dass Wissenschaftler die Grenzen zum Aktivismus mühelos überschreiten. (…) Manchmal erreichen sie ein Maß an Selbstgerechtigkeit, Aggressivität und Aufdringlichkeit, dass sie damit der Wissenschaft sehr viel Schaden zufügen.“
Ioannidis hat sie erlebt, die Morddrohungen und Hassmails gegen ihn und seine Familie, seine Mutter hätte nach einer Lügenkampagne gar eine gefährliche Blutdruckkrise bekommen.
Der Professor appelliert im Gespräch wiederholt an den ganzheitlichen Blick, es darf nicht nur die akademische Debatte im Raum stehen, Menschen würden verarmen unter den Lockdowns, manche würden gar den Verstand verlieren.
„I would not go back, what ever was done, was done.“
Wir müssten jetzt vorsichtig sein mit Schuldzuweisungen, so Ioannidis. „Denn das würde bedeuten, dass wir von Beginn an alles wussten. Und das stimmt nicht, das ist unmöglich.“
‘Pandemie nicht kleingeredet‘
Der Professor besteht mehrfach während des Gesprächs darauf, dass es nicht stimmen würde, dass er die Pandemie kleingeredet hätte. Mit der Feststellung: „Es ist ein zerstörerisches Virus“, macht er zugleich klar, was er von der These hält, Corona sei nur so etwas wie eine Grippe. Es sei auch nicht weniger gefährlich als gedacht. Aber eben nur für eine bestimmte Gruppe (Kranke und Alte) – für die überwiegende Bevölkerung sei es das aber nicht.
Ioannidis erinnert an Untersuchungen, wonach weniger wohlhabende Kinder gegenüber Kindern aus besser situierten Familien um 60 Prozent zurückgefallen seien. Die Lockdowns hätten also auch dahingehend die Gesellschaft nachhaltig gespalten. In den USA gäbe es Kinder, die auf das Schulessen angewiesen seien, aber nicht mehr zur Schule könnten, dass wären Zustände wie in Afrika südlich der Sahara.
„Wir machen es denen, die ohnehin nichts haben, noch schwerer.“ Das würde dazu führen, dass vulnerable Personen „da draußen niedergemetzelt wurden. (…) Es ist ein Virus der Ungleichheit.“
Manche der Hotspots vor allem in Altenheimen, seien durch die Maßnahmen erst entstanden, „durch die Unfähigkeit zu lernen, wie dieses Virus operiert, was es wem zufügt und wie wir diese Massaker in Zukunft vermeiden können. Jetzt, wo wir sogar Impfstoffe haben, sollten wir in einer viel besseren Position sein, diese Massaker zu vermeiden.“
Ein Einspieler beschreibt die große Zahl an Kollateralschäden. Verelendung und Folgekrankheiten aus dem Lockdown. Ioannidis befindet, dass die Kollateralschäden mehr und schwerwiegender sind, als die Auswirkungen der Pandemie.
„Fünfzig, sechzig, siebzig Prozent der Bevölkerung sind mit Angstsymptomen und großem Stress konfrontiert. Wie kann man das mit 0,05 Prozent der Bevölkerung vergleichen, der durchschnittlichen Sterblichkeitsrate bis jetzt?“
Fleischhacker fragt den Professor, ob er selbst als Arzt nicht ein Problem bekäme, wenn eine Behandlung mehr Schaden anrichte, als dass sie nutze. Der antwortet, genau da läge das Problem und er wiederholt erneut, dass wir den ganzheitlichen Ansatz verloren hätten.
‘Long-Covid sorgsam erforschen'
Aber was ist mit dem Long-Covid-Phänomen, will Fleischhacker noch wissen. Man müsse Long-Covid sorgsam erforschen, so Ioannidis. Er bestreitet das Phänomen nicht, hält es aber für noch zu wenig erforscht.
Ioannidis gibt sich hier bei Servus TV als großer Menschenfreund zu erkennen. Hier liegen wohl seine stärksten Beweggründe für den kritischen Blick auf die Corona-Maßnahmen. Es geht ihm um die Kinder und die Ausbildung der Kinder. Er ist definitiv kein Fundamentalkritiker der Maßnahmen und Lockdowns, allenfalls zeigt er gewisse sozialistische Ansätze, wenn er besonders auf die Spaltung zwischen arm und reich verweist.
Der Professor erkennt eine große Gefahr, wo Politik mit Wissenschaft vermengt wird. Einfach schon deshalb, weil so wissenschaftliche Positionen bestimmten Parteien zugeordnet werden könnten. Er möchte vor allem eines: Immer mehr und noch mehr verlässliche Informationen sammeln, um herauszufinden, womit man es zu tun hat – eben wissenschaftlich arbeiten.
Und Ioannidis zieht auch eingefleischten Impfgegnern einen Zahn: Seine Zukunftsprognose ist deshalb eine positive, weil ein großer Teil der Menschen geimpft sei.
All das passt nun wenig zusammen mit der Behauptung, beispielsweise der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Ioannidis würde Corona verharmlosen. Die taz schrieb dazu bereits im Dezember 2020 einen fairen Artikel über die Arbeit des Professors unter der Überschrift: „Covid nicht tödlicher als Grippe“: „Als Beweis für dieses Argument wird am häufigsten John Ioannidis zitiert, Professor aus Stanford. Doch der behauptet das gar nicht.“
Prof. John Ioannidis setzt auf Impfungen: „Impfungen sind eine starke Waffe.“ Das mag viele Kritiker der Corona-Maßnahmen verstören. Das verstört sicher noch mehr die Impfkritiker. Aber diese sich teilweise über die langen Monate der Pandemie auch korrigierende Haltung des Standford-Professors, sollte als Chance begriffen werden, die verfeindeten Lager irgendwie wieder zu versöhnen unter dem Dach einer am Menschen orientierten Ganzheitlichkeit.
Denn diese Ganzheitlichkeit ist ja auch Maßstab vieler der Schulmedizin abgewandter Impfgegner. Eine Brücke: Ioannidis bleibt Gegner der Impfpflicht. Aber die aufgetauchten Nebenwirkungen der Impfstoffe sind für ihn auch kein Anlass, diese Impfungen zu stoppen, diese wären noch sehr niedrig. Das Impfen sei eine große Entwicklung: „Für Kinder ist das Risiko wirklich minimal, so oder so.“ Wo Kinder mit Älteren zusammenleben würde Ioannidis es so machen: „Impfen wir die Alten.“
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Ein Schlusssatz des umstrittenen Professors der Standford-Universität geht so: „Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Politik in diese Pandemie so stark eingemischt hat.“ Es sei aber wahrscheinlich, dass es besser werde im kommenden Jahr.
Mit sich, der Sendung und der Welt nun ganz versöhnlich scherzen zuletzt Fleischhacker und Ioannidis darüber, dass es nun darum ginge, das Leben zurückzugewinnen von Zoom, den Raum zu verlassen, indem man mit der Zoom-Kamera eingeschlossen sei. Ioannidis glaubt nicht, dass Menschen Hilfskräfte für Zoom-Kameras sind. „Wir sind ein bisschen mehr als das.“
Da lacht Fleischhacker und beendet die Sendung. Schade wäre es jetzt allerdings, wenn die Schar der Kritiker der Corona-Maßnahmen sich von diesem in viele Richtungen so streitbaren Professor abwenden würden. Es könnte viel gewonnen sein, diesen interessanten Mann und seine Arbeit weiter als Chance und Brücke zu verstehen. Denn ohne solche Brückenbauer wird es zukünftig ganz schwer werden.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig für Szene-Magazine Kolumnen. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Volkswagen tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
Bild: Screenshot/Servus TVText: Gast