Von Kai Rebmann
Triage in Deutschlands Gerichten. Weil die Justiz hoffnungslos überlastet ist, müssen Kinderschänder aus formalen Gründen regelmäßig freigelassen werden. Die knappen Ressourcen nutzen Staatsanwälte lieber, um Regierungskritiker wie Michael Ballweg hinter Schloss und Riegel zu bekommen oder eine Ärztin wegen des Ausstellens vermeintlich falscher Maskenatteste zu verfolgen. Und dann diese Meldung: „Polizei-Gewalt in Deutschland: Der Polizist tappt in eine Falle.“ So titelte die „Zeit“ bereits am 29. November 2022, versteckte den Artikel aber leider gut hinter der Bezahlschranke, weshalb der Fall unserer Aufmerksamkeit zunächst entgangen war. Nicht aber unseren Lesern, der besten Redaktion, die man sich nur wünschen kann. Nachdem selbst die Richterin betont hat, dass dieser Fall „an die Öffentlichkeit“ gehört, haben wir uns entschieden, diesen Fall noch einmal aufzugreifen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil durch derartige Prozesse wertvolle Ressourcen verschwendet werden, die der Justiz dann andernorts fehlen.
5. Februar 2022, Hamburger Binnenalster: Der Feuerwehrmann Robert B. spaziert in Begleitung seiner Lebensgefährtin und einiger Freunden den Jungfernstieg entlang. Zeitgleich findet in unmittelbarer Nähe ein Protestmarsch gegen die Corona-Maßnahmen statt. Ob sich die Gruppe den Demonstranten anschließen wollte oder nur zufällig vor Ort war, ist unklar, spielt für diesen Fall aber auch eine allenfalls nur untergeordnete Rolle. Der Polizist Matz H. und dessen Kollegen, die an diesem Tag am Jungfernstieg im Einsatz waren, schienen jedenfalls davon auszugehen, dass Robert B. und seine Begleiter vorhatten, sich der „verbotenen Corona-Demonstration“ anzuschließen.
Polizisten reden sich vor Gericht um Kopf und Kragen
Was in den Minuten danach geschah, konnte auch im Laufe einer zweitägigen Verhandlung vor dem Amtsgericht Hamburg nicht zweifelsfrei geklärt werden. Laut Staatsanwaltschaft soll Robert B. auf die Polizisten losgegangen sein, nachdem diese ihn daran gehindert hätten, sich den Demonstranten anzuschließen. Einen der Beamten – Matz H. – soll der Feuerwehrmann daraufhin mit den Fäusten attackiert haben. In der Folge wurde Robert B. gewaltsam zu Boden gebracht und mit Handschellen gefesselt, wobei man ihn mit einem Knie auf dem Hals fixierte. Die Staatsanwaltschaft warf dem Angeklagten daher unter anderem Widerstand gegen die Staatsgewalt vor.
Als ersten Zeugen hörte das Gericht daraufhin Matz H., den vermeintlich Geschädigten. Dieser wiederholte die Version der Staatsanwaltschaft nicht nur, sondern schmückte sie noch etwas weiter aus. „Wir hatten den Auftrag, Leute anzusprechen, die sich den Spaziergängen anschließen wollten“, so der Polizist zu Beginn seiner Einlassung. Leider sollte dieser Satz so ziemlich das Einzige bleiben, was an der Darstellung des Beamten der Wahrheit entsprach. Die Gruppe um den Angeklagten sei von ihm gestoppt worden, weil er glaubte, „sie könne zu den Protestierenden dazugehören.“ Matz H. berichtete weiter von einer „negativen Grundstimmung“, die er in der Gruppe ausgemacht haben wollte.
„Die wollten gleich eine Konfrontation aufbauen“, so das vermeintliche Opfer. Deshalb hätten er und seine Kollegen einen sogenannten „Sicherungskreis“ um Robert B. gezogen, den sie anscheinend als Rädelsführer ausgemacht haben wollten. Dieser habe dann eine Faust erhoben, so die Darstellung von Matz H., woraus sich eine „dynamische Situation“ entwickelt habe. Um seinen Ausführungen besonderen Nachdruck zu verleihen, erhob sich der Polizist und spielte dem Gericht den angeblichen Angriff vor. Eine oscarverdächtige Leistung, wie sich noch zeigen sollte.
Anwalt zieht ein Ass aus dem Ärmel
Nachdem diese Version der Ereignisse im weiteren Verlauf noch von mindestens einem weiteren an dem Einsatz beteiligten Polizisten bestätigt worden war, schien es auf eine Verurteilung des Angeklagten hinauszulaufen. Robert B. hatte zwar während des gesamten Verfahrens seine Unschuld beteuert, womit formal Aussage gegen Aussage stand. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass deutsche Gerichte dazu neigen, Polizisten und ähnlichen Vertretern der Staatsgewalt im Zweifel eher Glauben zu schenken.
Am Ende der Beweisaufnahme spielte Jonas Hennig, der Anwalt von Robert B., dann aber noch einen Joker aus, der die entscheidende Wende in dem Fall bringen sollte. Bereits zu Beginn des Prozesses hatte der Jurist erklärt, dass sein Mandant „nachweislich unschuldig ist“. Was Hennig damit meinte: Ein Beweisvideo, aufgenommen von einer Passantin, das den tatsächlichen Ablauf der zuvor noch fraglichen Ereignisse dokumentierte. Der Anwalt übergab der Richterin einen Stick mit der Bitte, sich den darauf enthaltenen Inhalt anzuschauen.
Und das ist auf dem Video zu sehen: Robert B. steht am Ufer der Alster und isst einen Snack, den er sich kurz zuvor in einem nahegelegenen Imbiss gekauft hatte. Nachdem er den Bratreis aufgegessen hatte, wollte er die leere Packung in einem nahestehenden Mülleimer entsorgen. Auf dem Weg dorthin traf der Angeklagte auf die Polizisten, die von diesem offenbar wissen wollten, wohin er zu gehen gedenkt. Im nächsten Moment ging Matz H. dann „unvermittelt mit seinem Schlagstock auf Robert B. los“, wie es in dem Bericht heißt.
Nachdem die Richterin das Video in Augenschein genommen hatte, folgten Szenen, wie man sie ansonsten eigentlich nur aus diversen Gerichtsshows im TV kennt. Der Angeklagte wurde freigesprochen und die Staatsanwältin stellte Matz H. und seinem Kollegen, der dessen Version vor Gericht gestützt hatte, ein eigenes Verfahren wegen Falschaussage und gefährlicher Körperverletzung in Aussicht. Die Richterin stellte in ihrem Schlusswort zudem fest: „Was wir hier gesehen haben, muss an die Öffentlichkeit.“
Polizisten als heilige Kühe
Damit könnte man den Fall eigentlich auf sich beruhen lassen. Doch dieses Beispiel von Polizeigewalt ist leider erstens kein Einzelfall und legt zweitens noch einen weiteren Missstand offen. Vor Gericht ist eben doch nicht jeder gleich. Wie weit Justitia in Deutschland von dieser Idealvorstellung entfernt ist, zeigt sich vor allem dann, wenn sich „normale“ Bürger und Vertreter der Staatsgewalt gegenüberstehen. Im Nachgang zu den Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg ist es insgesamt zu 449 Verfahren gegen Demonstranten gekommen, in denen diese sich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und ähnlichen Vorwürfen zu verantworten hatten. In hunderten Fällen habe es, so schreibt die „Zeit“, Freiheitsstrafen zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren gegeben. Auf der anderen Seite wurden 157 Anzeigen gegen Polizisten gestellt. Ergebnis: In keinem einzigen Fall ist es auch nur zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft gekommen.
Aus eben diesem Grund scheuen sich die meisten Opfer von Polizeigewalt in Deutschland, solche Fälle zur Anzeige zu bringen. Erstens tendieren die Aussichten auf Erfolg ganz offensichtlich ohnehin gegen Null und zweitens setzt man sich damit der Gefahr aus – so wie jetzt Robert B. – am Ende selbst auf der Anklagebank zu landen. In dem Bericht wird dies wie folgt begründet: „Wirft jemand Polizeibeamten eine Grenzüberschreitung vor, kontern die oft mit einer Anzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.“ So oder ähnlich hat sich das wohl auch Matz H. ausgemalt, dabei aber die Rechnung ohne das Handy-Video einer Passantin gemacht.
Die Anwälte von Robert B. ließen durchblicken, dass sie sich ganz bewusst für diesen eher ungewöhnlichen Weg der Beweisführung entschieden haben. Wäre das Video bereits im Zuge des Ermittlungsverfahrens an die Staatsanwaltschaft übergeben worden, so wäre es wohl nie zur Anklage gegen den Feuerwehrmann gekommen. Aber auch die flunkernden Polizisten wären ungeschoren davongekommen. Die Staatsanwaltschaft hätte den Fall wohl stillschweigend zu den Akten gelegt. So aber wurde sie praktisch dazu gezwungen, nun Ermittlungen gegen die Prügel-Polizisten aufzunehmen. Rechtsanwalt Jonas Hennig konnte sich einen letzten Seitenhieb in Richtung Staatsanwaltschaft dann auch nicht verkneifen: „Mein Mandant ist Opfer von schweren Straftaten geworden. Und Sie waren schon auf Verurteilungskurs, weil Sie Polizeibeamten einfach immer alles glauben.“
Demnächst wird man sich also einmal mehr vor Gericht sehen, nur diesmal unter umgekehrten Vorzeichen. Dann werden es Matz H. und sein Kollege sein, die auf der Anklagebank Platz nehmen müssen, und Robert B. wird von dem Gericht als Zeuge und Geschädigter gehört werden. Bleibt zu hoffen, dass solche Beispiele Schule machen, denn Videos, auf denen Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten dokumentiert wurde, sind in Deutschland in den vergangenen Monaten und Jahren leider mehr als genug entstanden.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog. Bild: ShuttserstockMehr von Kai Rebmann auf reitschuster.de