Putin vor dem Abtritt? Machtpoker in Moskau

Russland ist in 16 Jahren meine zweite Heimat geworden, ich liebe Land und Leute, und habe heute noch eine wöchentliche Sendung im Berliner russischen Sender OstWest. Momentan komme ich leider kaum noch dazu, über Russland und die Nachbarstaaten zu schreiben. Als mich kürzlich die Tagespost um einen Beitrag über mögliche Nachfolger von Putin bat, wollte ich absagen. Weil die Zeit fehlt. Doch dann war die Versuchung zu groß – und ich schloss einen Kompromiss mit der Tagespost. Dass ich den Artikel auch auf meiner Seite nachdrucken kann. Eine Bemerkung noch vorab: Ich denke, niemand käme auf die Idee, mich wegen meiner Kritik an Merkel als Deutschland-Hasser zu bezeichnen. Im Gegenteil. Weil mir mein Land am Herzen liegt, sehe ich es als meine Pflicht an, als Journalist die Regierung zu kritisieren. Genauso halte ich es mit Russland, meiner zweiten Heimat. Die ich sehr vermisse.


Mit 68 Jahren ist Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Alter, in dem ein Großteil seiner Untertanen schon längst im Ruhestand ist. Und in dem sich jeder, der noch größere Verantwortung trägt, zumindest Gedanken über eine Nachfolgeregelung machen muss. Und so spricht auch alles dafür, dass sich der Kremlchef den Kopf darüber zerbricht, wer ihm im Falle eines Falles nachfolgen sollte. Doch nach außen verliert er darüber bislang kein Sterbenswörtchen. Und das, obwohl ihm böse Zungen immer häufiger nachsagen, er sei gesundheitlich angeschlagen.

Waleri Solowei, Politikwissenschaftler und Historiker, den viele „das Kreml-Orakel“ nennen, seit er 2016 die Ernennung des Außenseiters Anton Wajno zum faktisch zweitwichtigsten Mann des Staates – dem Chef der Präsidialadministration – vorhergesagt hat, rechnet fest mit einem Abgang Putins 2021. Und auch wenn er nicht direkt gesundheitliche Gründe nennt, so macht er doch keinen Hehl daraus, dass genau diese in seinen Augen den mächtigen Staatschef zum Abgang zwingen werden. Zumindest zum faktischen, wie Solowei im Gespräch beteuert. Das mögen Gerüchte sein. Fakt ist, dass Putin geradezu panische Angst vor Corona zu haben scheint. Er lebt hermetisch abgeriegelt in seiner Residenz vor den Toren Moskaus. Spötter sprechen von einem Rückzug „in den Bunker“. Selbst enge Mitarbeiter und Journalisten, die Putin zu Gesicht bekommen, müssen dafür vorab zwei Wochen in Quarantäne.

Andere Kreml-Kenner wie Gennadi Gudkow, früherer KGB-Offizier und jahrelang im Parlament, bevor er in die Opposition wechselte, halten Putin gar heute schon für eine „lahme Ente“. Faktisch, so Gudkow, der sich inzwischen ins Exil im Ausland geflüchtet hat, aber immer noch gut in Moskauer Geheimdienstkreisen vernetzt ist, hätten längst mächtige Seilschaften aus den Sicherheitsorganen im Kreml das Sagen. Putin müsse sorgsam zwischen ihnen balancieren. Die Vergiftung von Oppositionsführer Nawalnij etwa, so Gudkow, passe nicht zu Putins Stil. Das könnte ohne ihn oder an ihm vorbei entschieden worden sein, glaubt der frühere Vize-Chef des Sicherheitsausschusses der Duma.

Markwort und Reitschuster bei Putin in Sotschi 2001

Andere Beobachter wie der frühere Vize-Regierungschef Alfred Koch sehen dagegen Putins Machtfülle nach wie vor ebenso uneingeschränkt wie seine Gesundheit. Und sagen ihm noch ein langes Regieren voraus. Offiziell endet seine Amtszeit 2024. Dank einer Verfassungsänderung ist er dann aber nicht mehr an das Verbot, mehr als zwei Amtszeiten nacheinander Staatschef zu sein, gebunden. Theoretisch könnte er also bis 2036 durchregieren. Doch dann wäre er 84 Jahre alt. Und schon ein erneutes Antreten 2024 mit dann 72 Jahren wäre riskant, glaubt Koch: Die Russen haben nach der Gerontokratie-Erfahrung in der Sowjetunion mit den überalterten Generalsekretären wenig Sinn für greise Anführer. Koch hält es für wahrscheinlich, dass Putin zwar formal vom höchsten Staatsamt zurücktritt, aber einen anderen Weg findet, faktisch an der Macht zu bleiben – wie schon einmal 2008. Bei der sogenannten „Rochade“ wechselte Putin aus dem Zarenthron in das Amt des Ministerpräsidenten und überließ seinem vertrauten Dmitri Medwedew den Kreml. Medwedew wurde als „Putins Sprechpuppe“ verspottet.

Putin hütet sich derweil sorgsam davor, irgendjemand als Nachfolger aufzubauen. Oder auch nur irgendjemanden in der politischen Landschaft über Gebühr Kredit gewinnen zu lassen. Unter seinen Gefolgsleuten herrscht fast schon panische Angst, mit Ehrgeiz aufzufallen: „Wer den Kopf rausstreckt, bekommt ihn abgeschlagen“, berichtet ein Insider.

Der Hintergrund ist einfach: Putins Politiksystem basiert in erster Linie auf Dominanz. Selbst wenn er es nicht (mehr) wollte: Er muss auf Teufel komm raus den starken Mann spielen. Und deshalb auch noch so kleine Demonstrationen niederknüppeln lassen. Auch auf der Krim und in der Ostukraine kann er kaum zurückweichen – weil es als Schwäche ankäme und damit seiner Macht gefährlich werden könnte. Aus eben diesem Grund hütet er sich auch, jemand in seinem Umfeld zu bevorzugen und damit aufzubauen: die Loyalität der Hofschranzen und der Sicherheitsdienste könnte schnell auf diesen „Favoriten“ übergehen. Böse Zungen behaupten gar, Putin habe mit Michail Mischustin absichtlich einen charismafreien Politiker auf den Sessel des Premiers gehievt, damit niemand auf die Idee käme, in ihm einen Nachfolger zu sehen. Formell rückt der Ministerpräsident geschäftsführend in den Kreml nach, wenn der Präsident ausfällt. Ein Kreml-Insider bringt es auf den Punkt: „Das ist wie in einem Wolfsrudel, der Leitwolf kann auch kein zweites Alpha-Männchen hochkommen lassen, sonst beißt ihm das irgendwann die Kehle durch.“

Stärke und Dominanz

Putin ist insofern also auch Opfer des Systems, das jahrhundertealte Tradition in Russland hat, und auf das auch er setzt: In dem nicht Recht und Gesetz beziehungsweise Verfassung entscheidend sind, sondern Stärke und Dominanz. Aus eben diesem Grund ist ihm auch ein Rückzug von der Macht kaum möglich. Er bräuchte dazu eben so einen Garanten, der ihm Freiheit und Sicherheit vor Strafverfolgung garantiert, wie er selbst das 1999 für den greisen Boris Jelzin war. Zumindest nach außen hin ist da niemand in Sicht.

Aber Wladimir Putin hat in seinen zwanzig Jahren an der Macht vor allem eines gezeigt: dass er unvorhersehbar ist. Er liebt es, auch die engste Umgebung im Unklaren zu lassen über seine Pläne, und sie dann zu überraschen. „Putin weiß schon, wer sein Nachfolger wird“, er sage es nur niemandem, glaubt etwa die Politologin Tatjana Stanowaja. Gut möglich. Aber woher will sie es wissen?

Wenn Putin wirklich ausfällt, wird ein heftiger Machtkampf entbrennen. In dem es um alles oder nichts geht. Und die politische Zukunft des Landes wird dabei unsicher sein. Sicher scheint nur, wer bei der Neuverteilung der Macht keine Rolle spielen wird, etwa die orthodoxe Kirche. Spätestens seit Peter dem Großen ist der Klerus kein Faktor der Macht mehr, sondern deren Anhängsel. Putin inszeniert zwar gerne eine vermeintliche Wiedergeburt der Kirche – faktisch geht es dabei in erster Linie aber um Machtpolitik. Und die Füllung des ideologischen Vakuums nach dem Ende des Kommunismus.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

 


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Bild: Rido/Shutterstock (Symbolbild)
Text: br 

 

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