„Putins Blicke fühlten sich an wie Blitze“ INNENANSICHTEN AUS RUSSLAND

„Wir planen nicht, weitere Länder zu überfallen. Wir haben auch nicht die Ukraine überfallen“, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow beim Treffen mit seinem ukrainischen Ministerkollegen Dmytro Kuleba gestern in der Türkei.

Ein Satz, der aufhorchen lässt. Der nicht überraschend kommt für jemanden, der die Politik des Kremls seit 22 Jahren verfolgt. Wladimir Putin leugnete bis zuletzt, dass ein Angriff auf die Ukraine überhaupt möglich sei – und diffamierte solche Aussagen als westliche Lügen. Auch beim Überfall auf die Krim hatte er lange geleugnet, dass die Militärs ohne Hoheitsabzeichen dort russische Soldaten waren. Nur, um das Wochen später dann stolz zuzugeben.

Ich musste bei Lawrows Aussage sofort an eine Begegnung mit Putin vor rund 20 Jahren im Kreml denken. Die ich bereits vor einigen Jahren aufschrieb. Voilà:

Kaum hatte ich Wladimir Putin meine Frage gestellt, da wusste ich schon – es wird keine freundliche Antwort. Seine Blicke fühlten sich an wie Blitze.

Dabei war die Frage eigentlich ganz harmlos. Zumindest für deutsche Verhältnisse.

Das Treffen im Kreml mit dem russischen Präsidenten ist schon rund 15 Jahre her. Es war eine von mehreren Begegnungen mit ihm; eine kleine Runde mit einer Handvoll Journalisten, zur Audienz beim Tee.

An seine Antwort von damals muss ich immer wieder zurückdenken. Sie erklärt viele Aussagen des Kreml-Herren von heute.

„Wladimir Wladimirowitsch“, so sprach ich den Präsidenten nach Landessitte an: „Sie sagen immer, dass Sie die Korruption bekämpfen, Sie reden viel von den Erfolgen, aber ich erlebe das Gegenteil, Verkehrspolizisten fordern von mir immer noch regelmäßig Bestechungsgeld.“

Das ohnehin nur angedeutete Lächeln verschwand sofort von seinen Lippen, der ohnehin schon kühle Blick aus seinen Augen wurde eiskalt. 

Er begann Paragraphen aufzuzählen, Regeln, Neuerungen, Vorstöße. Es war ein halber Vortrag, mit so vielen Details, und sehr vielen Schachtelsätzen, dass im Endeffekt nur noch die Richtung klar war.

Das ist Putins Methode – er erschlägt Gesprächspartner mit Details.

Er wurde immer schneller und ungehaltener, redete sich – für seine Verhältnisse – regelrecht in Rage.

Aufgrund all des Aufgezählten, so  belehrte er mich am Schluss, könne ich mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Problem gelöst sei und ich keine Bestechungsgelder in Russland mehr bezahlen müsse. 

Sein Blick war dabei so grimmig, dass ich mir jede Nachfrage verbiss.

Ich wollte ja auch wieder raus aus dem Kreml.

Wenig später fragte ich einen guten Bekannten, damals einen der bekanntesten Politiker und Abgeordneten im Lande: „Kannst Du mir erklären, was das war?“

Er hörte sich schmunzelnd meine Erzählung von dem Wortwechsel, der eigentlich keiner war, an.

„Warum“, fragte ich ihn, „sagt mir Putin, er habe das Korruptionsproblem gelöst? Er ist doch nicht dumm, er weiß doch, dass ich das nicht glaube.“

„Verstehst Du das wirklich nicht?“, fragte mich der russische Abgeordnete: „Du hast massiv gegen die Spielregeln verstoßen! Ganz massiv!“

„Warum?“

„Dem Präsidenten, also dem Zaren, offen ins Gesicht zu sagen, dass er seine Ankündigungen nicht wahr macht, also lügt – das geht nicht, das ist Majestätsbeleidigung! Sei froh, dass Du Ausländer bist, einem Russen wäre das nicht so von der Hand gegangen!“ 

Mein Gegenüber hatte Recht, wie ich heute, rund 20 Jahre später, weiß. 

Glauben die Russen wirklich an die ganze Propaganda, an die ganzen Lügen, werde ich immer wieder gefragt.

Nein, natürlich nicht. Zumindest nicht die Mehrheit. 

Sie wissen, dass Putin lügt. 

Aber sie halten das für normal.

Sie glauben, dass Politiker immer und überall lügen. Und unsere Politiker im Westen tun genug, um sie in diesem Glauben zu bestärken.

In der DDR gab es den Witz: „Der Staat tut so, als ob er uns Lohn zahle, und wir tun so, als ob wir arbeiten würden.“

In Russland könnte man sagen: „Der Kreml tut so, als ob er uns die Wahrheit erzähle, und wir tun so, als ob wir ihm glauben.“

Ich ließ nicht locker bei meinem Gesprächspartner: „Warum sagt mir Putin etwas, was absurd ist?“

Er schmunzelte wieder: „Dafür, dass Du Majestätsbeleidigung begangen hast, ihn öffentlich der Lüge verdächtigst, hat er Dich nach seinen Spielregeln zum Narren gemacht. Seine Stärke gezeigt, und Deine Schwäche. Vor allen, öffentlich!“

„Wie das?“

„Jeder Russe, der da zuhörte, wusste – er bindet Dir einen Bären auf. Und da Du seine Lüge schlucken musstest, hat er Dich erniedrigt. Öffentlich.“

An diese Logik muss ich inzwischen oft denken bei den Aussagen von Putin und seinen Leuten.

Etwa, als er sagte, was seine Truppen in Aleppo angerichtet haben, sei die größte humanitäre Aktion seit Ende des Zweiten Weltkrieges.

Oder als er sagte, er habe keine Männer auf der Krim.  Und genau diese Männer später auszeichnete.

Oder als sein Pressesprecher später plötzlich zugab, den angeblichen Hilfsbrief des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch nach Moskau, mit dem man 2014 seine Intervention mit rechtfertigte, habe es gar nicht gegeben.

Der Kreml bindet uns, dem Westen, einen Bären auf – so wie damals Putin mir im Kreml. Und wir schlucken es. Damit sind wir aus russischer Sicht erniedrigt –  spätestens, wenn Putin später offen zugibt, dass er uns angelogen hat.

Die Russen haben viel an Putin auszusetzen, vieles an seiner Politik gefällt ihnen nicht. Aber viele empfanden gleichzeitig Russlands lange Schwäche als demütigend. Auch heute ist Moskau weder wirtschaftlich noch militärisch stark. Dass es Putin dennoch schafft, den Westen so vorzuführen – das bringt ihm viele Sympathien ein. 

Dass so viele im Westen diese Mechanismen nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, ist nicht nur schade – es ist auch gefährlich.

Leider ist diese jahrealte Analyse heute aktueller denn je. Mehr über Putin und sein System können Sie in meinem Buch „Putins Demokratur“ nachlesen.

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Das Leid in der Ukraine ist unermesslich. Es trifft auch viele Freunde von mir, weswegen es mich ganz besonders bewegt. Bitte helfen Sie den Menschen dort – hier finden Sie eine Übersicht, wie Sie helfen können.

Bild: TPYXA_ILLUSTRATION/Shutterstock
Text: br

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