Rettungsdienste im Ausnahmezustand EXKLUSIV: Insiderbericht aus dem Krankenwagen

Von Kai Rebmann

Vor wenigen Wochen berichtete reitschuster.de über eine Krisensitzung der Berliner Feuerwehr. Der sprunghafte Anstieg der Rettungseinsätze sowie massive Engpässe beim Personal hatten insbesondere in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass der Ausnahmezustand bei den Floriansjüngern in der Hauptstadt zur Regel geworden ist. Ein Feuerwehrmann fand in einer Personalversammlung deutliche Worte und warnte: „Wenn wir so weitermachen, wie wir gerade fahren, dann wird es Tote geben.“ Da Rettungswagen und -sanitäter immer öfter wegen Bagatellen gerufen werden, fehlen die entsprechenden Kapazitäten oftmals bei „echten“ Notfällen, so der Tenor.

Die beklagenswerten Zustände bei der Berliner Feuerwehr sind aber offenbar nur die Spitze des Eisbergs. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Artikels erreichte unsere Redaktion die Zuschrift eines Lesers, der eigenen Angaben zufolge selbst seit mehreren Jahren im Rettungsdienst tätig ist. Der Insider kann die Einschätzung seiner Kollegen aus Berlin nicht nur bestätigen, sondern holt bei dieser Gelegenheit zum Rundumschlag über die seiner Meinung nach viel tiefer liegenden Ursachen der Missstände im deutschen Rettungswesen aus. Seiner Erfahrung zufolge seien „70 bis 80 Prozent der Einsätze nicht inzidiert für Notfälle“. Seit einigen Jahre gebe es die stark zunehmende Tendenz, auch dann den Rettungswagen zu rufen, wenn dies eigentlich nicht erforderlich wäre. Früher sei das noch anders gewesen, da hätten sich „die Leute irgendwie mehr zu helfen“ gewusst, so der Rettungsdienstler.

Wer über Bauchschmerzen klage, spreche am Telefon von Herzschmerzen und Atemnot, damit ihm ein Rettungswagen samt Besatzung geschickt werde. Besonders kritisch sieht der Insider die Tatsache, dass dieses Spiel, sprich die Verwendung entsprechender „Codes“, auch von immer mehr Pflegeheimen und Hausärzten mitgespielt werde. Der weithin bekannte Personalnotstand in Pflegeheimen führe nicht selten dazu, dass einem „nervigen Bewohner“ ein medizinisches Problem angedichtet werde, um ihn wenigstens für eine Nacht loszuhaben. Hier komme der Grundsatz „OMW“ (Oma/Opa muss weg) zum Tragen. Die Folge sei in den meisten dieser Fälle dann, dass der Heimbewohner nur wenige Stunden später wieder auf der Matte steht, weil im Krankenhaus eben kein Notfall festgestellt worden sei. In gewisser Weise kann der Rettungsdienstler dabei sogar Verständnis für die Pflegekräfte aufbringen. „Ich durfte schon beobachten, wie Pflegeheime mit Fachpersonal unterbesetzt sind und für Nachtschichten im gesamten Haus mit mehreren Stockwerken nur eine Pflegefachkraft mit ein paar Pflegehelfern eingesetzt wurden“, so der Informant.

Familienvater stirbt, weil kein Rettungswagen verfügbar war

Zwei Fälle aus seiner beruflichen Laufbahn sind dem Leser in besonders leidvoller Erinnerung geblieben. Im ersten Fall sei ein Familienvater gestorben, der nach Einschätzung des Insiders womöglich noch leben könnte. Da er zuvor aber zu einem „Notfall“ wegen eines verstauchten großen Fußzehs gerufen worden war, habe die Anfahrt zum Einsatzort deutlich länger als üblich gedauert. Ähnlich sei es in einem weiteren Fall gewesen, als eine ältere Frau mutmaßlich deshalb gestorben ist, „weil der RTW nicht dort war, wo er hätte sein sollen.“

Es sind Schicksale wie diese, die unseren Leser aus der Haut fahren lassen, wenn er über den auch von einigen Ärzten praktizierten Umgang mit den ohnehin schon knapp bemessenen Kapazitäten bei den Rettungswagen schreibt. So seien RTW (Rettungswagen) ausschließlich für Notfälle vorgesehen, während planbare medizinische Fahrten – etwa Verlegungen oder die Fahrt zur Dialyse – eigentlich von KTW (Krankentransportwagen) durchgeführt würden. In der Praxis sei es aber oft so, dass der Hausarzt ein „Notfallgeschehen“ konstruiere, um den Patienten schneller ins Krankenhaus zu bringen und deshalb einen RTW anfordert. Auch Bereitschaftsärzte würden Anrufer, die nachts oder an den Wochenenden die 116 117 wählen, gerne pauschal auf den RTW verweisen, obwohl eigentlich kein akuter Notfall vorliege. Auch bei der Verlegung von Patienten ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit sowie Nachtfahrten würden RTW oft zu KTW umfunktioniert und könnten dann im Ernstfall fehlen, wenn es wie in den oben beschriebenen Fällen wirklich um Leben und Tod geht.

Deutliche Kritik an den Hilfsorganisationen

Aber auch Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), Malteser, Johanniter oder den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) lässt der Mann aus der Praxis nicht ungeschoren davonkommen. Diese arbeiteten ohne Ausnahme gewinnorientiert, was auch dann gelte, wenn sie anstatt als GmbH als e.V. organisiert sind. Um an lukrative Aufträge zu kommen, würden die Hilfsorganisationen nicht selten „Unfug treiben“ und auf fragwürdige Methoden zurückgreifen. Wie das aussehen kann, beschreibt der Leser anhand eines ihm bekannten Beispiels so: „Im Falle des DRK wurde eine Tochterfirma in einem Landkreis eingesetzt, um sich günstig einzukaufen und die Ausschreibung zu gewinnen. Wie man mittlerweile weiß, wurden die Gehälter mit Krediten von einer Bank bezahlt. Als die Tochterfirma pleiteging, wurde die Hauptfirma nicht in Verantwortung gezogen.“

Und auch beim Personal scheinen einige Hilfsorganisationen bis an die Schmerzgrenze zu gehen, um den finanziellen Gewinn zu maximieren. Im Rahmen ihrer zweijährigen Ausbildung würden die Azubis das erste Jahr zur Schule gehen und im zweiten Jahr den Alltag auf einer Rettungswache kennenlernen, beschreibt der Informant den eigentlich vorgesehenen Lehrplan. Die minimale Besatzung eines RTW bestehe in der Regel aus einem Notfallsanitäter und einem Rettungssanitäter, die Azubis (Rettungsassistenten) sollen eigentlich allenfalls als zusätzliche dritte Person mitfahren, um von ihren Kollegen zu lernen. Häufig sei es jedoch so, dass der Rettungssanitäter eingespart und durch den Rettungsassistenten ersetzt wird, da dieser nur einen Bruchteil verdient und die Hilfsorganisationen so ihre Personalkosten entsprechend drücken können. Gegenüber den Krankenkassen würden bei der Beantragung von Zuschüssen dann aber die Kosten für einen Rettungssanitäter geltend gemacht.

Er selbst habe einen Arbeitsvertrag, der eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden vorsehe. Nicht selten sei er 12 Stunden im Dienst und bekomme davon aufgrund von spezifischen vertraglichen Vereinbarungen aber nur 10 Stunden angerechnet. Am Monatsende stünden regelmäßig „nur“ 200 Stunden auf seinem Konto, obwohl er tatsächlich sogar 210 Stunden und mehr gearbeitet habe, moniert der Rettungsdienstler. Als zusätzliche Belastung empfänden er und viele seiner Kollegen die strikten Corona-Regeln, zum Beispiel die 24/7-Maskenpflicht auf der Wache und im RTW. Diese Regelungen stellen aus Sicht des Informanten einen klaren Verstoß gegen den Arbeitsschutz dar, da die Masken nicht auf derart lange Tragezeiten ausgelegt seien.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Transparenzhinweis – zur Klarstellung der Begrifflichkeiten:

Einige aufmerksame Leser haben inzwischen zu Recht auf einige nicht korrekte Definitionen im Zusammenhang mit Begriffen „Rettungsassistent“ und „Rettungssanitäter“ hingewiesen. Es kam hierbei zu einem Missverständnis zwischen dem Informanten und dem Autor. Von unserem Informanten haben wir hierzu folgende Klarstellung erhalten:

„Ursprünglich war es so, dass laut Gesetz der Rettungsassistent (Führer des Fahrzeugs/Teams) plus ein Rettungssanitäter auf dem RTW eingeteilt waren. Als drittes Besatzungsmitglied wurde ein (Jahres-)Praktikant (Rettungsassistent in Ausbildung) auf dem RTW platziert, so dass diese von dem erfahrenen Team lernen konnten. Gängige Praxis war jedoch, dass der Rettungssanitäter nach zwei bis drei Wochen eingespart und durch den Praktikanten ersetzt wurde. So wurde der Praktikant mit dem Rettungsassistenten auf das Fahrzeug gesetzt und man konnte ungefähr das Dreifache an Lohn für den Rettungssanitäter einsparen.“

Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Shutterstock
Text: kr

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