Von Annette Heinisch
Mit Beschluss vom 16.12.2021 hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Nds. OVG) die sogenannte 2G-Regel im Einzelhandel vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Antragstellerin war eine Betroffene, die auch in Niedersachsen im Einzelhandel Filialbetriebe mit einem Mischsortiment betreibt. Sie hatte sich an das Gericht mit einem Normenkontrolleilantrag gewandt und geltend gemacht, die Infektionsschutzmaßnahme sei nicht notwendig und auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar.
Dem schloss sich das Gericht weitgehend an. In der Pressemitteilung heißt es:
„Die 2-G-Regelung im Einzelhandel in der konkreten Ausgestaltung nach § 9a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 bis 3 der Corona-VO sei derzeit keine notwendige Schutzmaßnahme. Die Eignung zur Erreichung der infektiologischen Ziele sei durch die – fraglos erforderlichen – zahlreichen Ausnahmen in § 9a Abs. 1 Satz 2 Corona-VO bereits reduziert. Allein im von der 2-G-Regelung nicht umfassten Lebensmitteleinzelhandel finde der weit überwiegende Teil täglicher Kundenkontakte statt. Auch die Erforderlichkeit sei zweifelhaft. Der Senat habe bereits mehrfach beanstandet, dass verlässliche und nachvollziehbare Feststellungen zur tatsächlichen Infektionsrelevanz des Geschehens im Einzelhandel fehlten. Es sei nicht ersichtlich, dass die Erforschung von Infektionsumfeldern auch durch das Land Niedersachsen intensiviert worden wäre, um die Zielgenauigkeit der Schutzmaßnahmen zu erhöhen … Zudem könnten die Kunden, wie in vielen anderen Alltagssituationen, auch im Einzelhandel verpflichtet werden, eine FFP2-Maske zu tragen. Nach neueren Erkenntnissen dürften Atemschutzmasken dieses Schutzniveaus – eine in Betrieben und Einrichtungen des Einzelhandels durchaus durchzusetzende richtige Verwendung der Maske vorausgesetzt – das Infektionsrisiko derart absenken, dass es nahezu vernachlässigt werden könne. Auch das Robert Koch-Institut sehe in seiner ControlCOVID-Strategie zur Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22 selbst für die höchste Warnstufe nicht den Ausschluss ungeimpfter Kunden vom Einzelhandel vor…
Demgegenüber stünden durchaus erhebliche Eingriffe in die Grundrechte der ungeimpften Kunden und der Betriebsinhaber. In dieser Relation – beherrschbares Infektionsgeschehen, geringe Wirkung der Infektionsschutzmaßnahme und erhebliche Grundrechtseingriffe – erweise sich die 2-G-Regelung im Einzelhandel derzeit als unangemessen. Eine andere Bewertung gebiete – bei objektiver Betrachtung des dem Senat bekannten oder vom Land Niedersachsen präsentierten aktuellen Erkenntnisstands – auch die neue Omikron-Variante nicht.
Die 2-G-Regelung im Einzelhandel in der konkreten Ausgestaltung nach § 9a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 bis 3 Corona-VO dürfte auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren sein. Nachvollziehbare sachliche Gründe dafür, dass beispielsweise zwar Gartenmarktgüter, Güter des Blumenhandels einschließlich der Güter des gärtnerischen Facheinzelhandels und Güter zur Reparatur und Instandhaltung von Elektronikgeräten zu den von der 2-G-Regelung ausgenommenen „Gütern des täglichen Bedarfs oder zur Grundversorgung der Bevölkerung“ gezählt würden, aber Baumärkte uneingeschränkt der 2-G-Regelung unterworfen blieben, seien nicht erkennbar.“
Diese Entscheidung ist allgemeinverbindlich für das Land Niedersachsen. Das Gericht setzt der Exekutive damit basierend auf den Grundrechten rote Linien im Kampf gegen Corona, die nicht überschritten werden dürfen.
Die ausdrückliche Erwähnung der neuen Omikron-Variante lässt hoffen, dass zukünftig nicht allein der Hinweis auf immer neue Varianten ausreicht, um der Exekutive einen Freibrief zu geben.
Bereits zuvor hatte das Nds. OVG die 2G-Plus-Regel bei körpernahen Dienstleistungen vorläufig außer Vollzug gesetzt. Wenig beachtet wurde, dass das Gericht die Befugnis des Landes, die tatsächlichen Werte für den Leitindikator „Hospitalisierung“ und den Indikator „Intensivbetten“ selbst nach eigenen Maßgaben zu ermitteln, in Abrede stellte. Darüber hinaus führte es aus:
„Unabhängig von der Frage, ob der Antragsgegner danach überhaupt berechtigt ist, die tatsächlichen Werte für den Leitindikator „Hospitalisierung“ und den Indikator „Intensivbetten“ selbst nach eigenen Maßgaben zu ermitteln, bestehen Zweifel, ob der Indikator „Intensivbetten“ in der derzeitigen praktischen Anwendung durch den Antragsgegner zur Beurteilung des Infektionsgeschehens im Land Niedersachsen (noch) geeignet ist.
Dies gilt zum einen für den – gegenüber der Intensivbettenkapazität von 2.424 Betten nach § 2 Abs. 5 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 24. August 2021 gekürzten – Ansatz einer Intensivbettenkapazität von 2.350 Betten in § 2 Abs. 5 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung als Berechnungsbasis. Der Verweis auf fehlendes Krankenhauspersonal in der Begründung zur Verordnung vom 23. November 2021 (S. 21 der Onlineverkündung) und im laufenden Verfahren (vgl. Anlage 1 – Antworten auf den Fragenkatalog – zur Antragserwiderung v. 3.12.2021, S. 6 f.) ist für den Senat nicht nachzuvollziehen, spielte dieses nach der Begründung zur Verordnung vom 24. August 2021 (S. 17 der Onlineverkündung) doch keine maßgebliche Rolle. Sollte nunmehr maßgeblich auf tatsächlich verfügbares Krankenhauspersonal abgestellt werden, bedürfte die Aufnahme einer Intensivbettenkapazität als statische Größe in der Niedersächsischen Corona-Verordnung einer nachvollziehbaren Begründung, die bisher fehlt.
Dies gilt zum anderen aber auch für die Ermittlung der Intensivbettenauslastung. Für den Senat steht außer Zweifel, dass es geboten sein kann, freie Intensivbettenkapazitäten in niedersächsischen Krankenhäusern zu nutzen, um Patienten aus Ländern, in denen diese Kapazitäten bereits jetzt erschöpft sind oder in absehbarer Zeit erschöpft sein werden, eine erforderliche intensivmedizinische Behandlung zu ermöglichen. Werden diese Patienten bei der Ermittlung der Intensivbettenauslastung aber berücksichtigt, wie es der Antragsgegner vornimmt (vgl. Anlage 1 – Antworten auf den Fragenkatalog – zur Antragserwiderung v. 3.12.2021, S. 7: von 239 Personen auf niedersächsischen Intensivstationen sind 30 Personen bzw. 12,5 % Patientenverlegungen aus anderen Bundesländern), dürfte der Indikator „Intensivbetten“ zur Beurteilung des Infektionsgeschehens im Land Niedersachsen nicht (mehr) geeignet sein. Fraglos besteht die abgebildete Intensivbettenauslastung tatsächlich, nur lässt sie keine verlässlichen Rückschlüsse mehr auf das Infektionsgeschehen im Land Niedersachsen zu und kann daher kaum ein Indikator für notwendige Infektionsschutzmaßnahmen im Land Niedersachsen sein.“
Das Gericht bezweifelt weiter die Validität der Angaben der Schwellenwerte:
„Zum anderen bedürfen die Schwellenwerte für den Indikator „Intensivbetten“ (mehr als 5, mehr als 10, mehr als 15%) weiterer Begründung durch den Antragsgegner. Schon seine Angabe, im durchschnittlichen Regelbetrieb (Sic!) einer Intensivstation entfalle neben 50% Akutbehandlungen und 25% elektiver Nachsorge nach Operationen ein Anteil von 25% auf COVID-19-Behandlungen (vgl. Anlage 1 – Antworten auf den Fragenkatalog – zur Antragserwiderung v. 3.12.2021, S. 7), steht im Widerspruch zu den deutlich niedrigeren Schwellenwerten. In § 2 Abs. 2 der Verordnung vom 24. August 2021 hatte der Verordnungsgeber noch in der Warnstufe 2 eine Auslastung der Intensivbettenkapazität von bis zu 20% für hinnehmbar erachtet. Sachliche Gründe, warum dies nun nicht mehr hinnehmbar sein soll, sind bisher nicht benannt worden.“
Mit anderen Worten: Der Blick auf das Handeln der Exekutive wird zunehmend kritischer, die Beachtung der Grundrechte der Bürger bekommt (wieder) mehr Gewicht.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
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