Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Am 4. Oktober 2020 fanden sich drei renommierte Wissenschaftler zusammen, um die sogenannte Great Barrington Erklärung (Great Barrington Declaration) zu initiieren (reitschuster.de berichtete hier): der schwedische Biostatistiker Prof. Martin Kulldorff von der Universität Harvard und die beiden Epidemiologen Prof. Sunetra Gupta von der britischen Oxford-Universität und Prof. Jay Bhattacharya von der Universität Stanford.
Bhattacharya ist einer der Berater von Floridas Gouverneur Ron DeSantis, der von vielen als Widerpart von Joe Biden und seiner harten Corona-Politik incl. Impfpflicht angesehen wird (reitschuster.de berichtete darüber hier).
In ihrem gemeinsamen Positionspapier sprachen sich die drei Wissenschaftler gegen die generelle Lockdown-Politik zur Bekämpfung der Corona-Pandemie aus. Bis heute haben fast 900.000 Menschen die Erklärung unterzeichnet, darunter über 60.000 Personen aus dem medizinischen bzw. wissenschaftlichen Bereich.
Das 'PLURV-Prinzp'
Bereits wenige Tage, nachdem die Great Barrington Erklärung veröffentlicht worden war, wandte sich Christian Drosten gegen das Papier. Drosten, so die Süddeutsche (20.10.2020), warnte davor, „das Virus wüten zu lassen, wie es die ‚Great Barrington Declaration’ fordert“. Die Deutsche Gesellschaft für Virologie betrachte die Erklärung „mit großer Skepsis“, so die Ärztezeitung noch am selben Tag. Denn so die Welt: „Eine unkontrollierte Durchseuchung“ würde „zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen.“
Das war drastisch, aber in der Wortwahl immer noch höflich. In der 82. Folge des NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“ vom 3. März 2021 legte der Berliner Virologe dann nach. Aufhänger für seine damaligen Ausführungen war das sogenannte „PLURV-Prinzp“, das man bei Wikipedia unter „Wissenschaftsleugnung“ findet. Dort heißt es: „Im Deutschen wird FLICC [fake experts, logical fallacies, impossible expectations, cherry picking und conspiracy theories] für gewöhnlich als PLURV übersetzt (Pseudo-Experten, logische Trugschlüsse, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und Verschwörungstheorien).“
'Pseudoexperten'
In diesem – eigentlich bereits schon beleidigenden – Kontext erklärt der Berliner Virologe dann beim öffentlich-rechtlichen NDR:
„… wir erkennen in der Rückschau auf die Präsentation der Pandemie in den Medien alle diese [PLURV-]Prinzipien wieder. Also, wir haben Pseudoexperten (…) Experten, die gerne im Fernsehen präsentiert werden. Die haben Professoren- und Doktortitel, aber in einem anderen Fach. Häufig sind das Leute, die schon lange Zeit im Ruhestand sind. Ich nenne hier mal ganz absichtlich einen Namen, Wodarg als Paradebeispiel. Es gibt noch viele andere (…) Ich sage hier nur Great Barrington Declaration: Das ist eine ganze Gruppe von Pseudoexperten. Die sind alle nicht aus dem Fach, haben sich aber über infektionsepidemiologische Themen laut geäußert (…).“
Die Verurteilten
Das war dann endgültig unter der Gürtellinie. Zumal der namentlich von Drosten genannte „Pseudoexperte“ Dr. Wolfgang Wodarg in Deutschland offiziell unter dem vernichtenden Label „Verschwörungstheoretiker“ läuft.
Kulldorff, Gupta und Bhattacharya erfüllten somit also nicht nur direkt das P von PLURV für Pseudoexperten, sondern indirekt auch noch das V für Verschwörungstheoretiker.
Drostens Äußerungen wurden von der „Pharmazeutischen Zeitung“ unter dem Titel „Die Tools der Leugner“ (06.04.2021) aufgenommen. Zur Great Barrington Erklärung hieß es in der Fachzeitschrift der deutschen Apotheker weiter: Den Autoren fehle es an „virologischem Sachverstand“. Lediglich „Die Welt“ gab den Angeklagten, die de facto bereits öffentlich Verurteilte waren, die Möglichkeit zur Gegenrede. Allerdings nur in begrenzter Form, denn das Interview mit Martin Kulldorff (15.04.2021) wurde hinter einer Bezahlschranke platziert.
Eine schnelle „Demontage“ muss her
Nun kamen in den USA aufgrund einer FIOA-Anfrage (Freedom of Information Act) interne Emails ans Tageslicht, die belegen, dass man dort mit noch härteren Bandagen gegen die drei Wissenschaftler vorgegangen ist. So hatte der Genetiker und NIH-Direktor (National Institutes of Health) Dr. Francis Collins am 8. Oktober 2020, also nur vier Tage nach Veröffentlichung der Great Barrington Erklärung, folgende Email an den ihm behördlich unterstellten NIAID-Chef (National Institute of Allergy and Infectious Diseases) Anthony Fauci geschrieben:
„Hi Tony… Die Erklärung der drei peripheren Epidemiologen, die auch vom [Gesundheitsminister] Minister empfangen worden sind, scheint viel Aufmerksamkeit zu generieren. Sie haben sogar den Nobelpreisträger Mike Leavitt aus Stanford als Unterzeichner gewonnen. – Es muss eine rasche und vernichtende öffentliche Demontage ihrer Thesen erfolgen. Im Moment sehe ich online noch nichts dergleichen – ist was in der Mache?“
10 Minuten später antwortete Fauci seinem Chef und schrieb zur gewünschten „Demontage“:
„Francis, unten habe ich einen Artikel vom Wired [Magazin] angehängt, der die Theorie [der Great Barrington Erklärung als falsch] entlarvt. Gruß, Tony“
Propagandaangriff 'der eigenen Regierung'
Offenbar hochzufrieden mit Faucis Antwort mailte Collins noch am selben Tag „exzellent“ zurück. Weniger „exzellent“ fanden es allerdings Martin Kulldorff und sein Kollege Jay Bhattacharya, als sie nach nun mehr als einem Jahr von der behördlichen „Demontage“ erfahren mussten. Kulldorff kommentierte den Vorgang am 17. Dezember 2021 eher nüchtern mit: „Eine offene Diskussion wäre sicher besser gewesen. Unsere Einladung dazu steht.“
Sein Kollege Bhattacharya twittert einen Tag später desillusioniert: „Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, von meiner eigenen Regierung mit Propaganda angriffen zu werden.“
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Boris ReitschusterText: Gast
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