Von Kai Rebmann
In einem klassischen „Sommerloch“-Interview – politisch brisante Fragen wurden gar nicht erst gestellt – hat Olaf Scholz (SPD) der „SZ“ tiefe Einblicke in sein Leseverhalten gewährt. Die Leser erfahren unter anderem, dass der amtierende Bundeskanzler während seiner Juso-Zeit von der „Gesamtheit der marxistischen Literatur“ geprägt wurde und in eben dieser auch eine „intensive Science-Fiction-Phase“ durchlebt hat. Ende der 1980er-Jahre wiederum habe Scholz „kreuz und quer (und) ohne System“ gelesen.
So weit, so unerheblich. Und selbstverständlich sprang der Chef der Ampel auch über das Stöckchen, das ihm bei der Frage nach dem Umgang mit vermeintlich problematischer Kinderbuch-Literatur hingehalten wurde. Ein besonderer Dorn im Auge des Kanzlers sind eigenen Angaben zufolge etwa die „rassistischen N-Wörter“ bei Pippi Langstrumpf oder die „stereotypen Darstellungen“ in den Comics von „Tim und Struppi“.
Muss die Geschichte der Literatur neu geschrieben werden?
Die genannten Inhalte ordnet Scholz offenbar als so gefährlich ein, dass sie auf Kinder und Jugendliche nur noch mit entsprechenden Warnhinweisen losgelassen werden können. Es gehe nun darum, „Probleme auf jeden Fall sichtbar zu machen“, und zwar nicht nur in Vor- und Nachworten der betreffenden Bücher, sondern auch durch entsprechende Markierungen direkt im Text. Schließlich sei viel von dem, was vor Jahrzehnten geschrieben wurde, „so heute nicht mehr in Ordnung“, wie der Kanzler glaubt.
Besonders groß werden die Sorgen des SPD-Politikers, wenn es um literarische Werke geht, in denen auch Lerninhalte vermittelt werden sollen: „Wenn es sich um pädagogisches Material für Kinder handelt, sollte es klar unseren heutigen Vorstellungen entsprechen.“
Doch wer bestimmt überhaupt, was „unsere heutigen Vorstellungen“ sind? Man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei um die von den links-grünen Kulturkriegern vorgegebenen Definitionen handelt. Alles außerhalb dieses engen und durchaus sehr einseitig abgesteckten Korridors gilt per se bestenfalls als „nicht mehr zeitgemäß“, deutlich öfter aber gleich als „rechts“ oder „rassistisch“.
Dabei lässt Olaf Scholz – bewusst oder unbewusst – völlig außer Acht, dass literarische Werke, und ausdrücklich auch Kinderbücher, auch immer so etwas wie Zeugen der Zeitgeschichte sind. Der Zeitgeist mag sich ändern, die Geschichte deshalb aber umschreiben bzw. sie nur noch mit belehrenden Hinweisen zugänglich machen zu wollen, sollte in jeder freiheitlich orientierten Gesellschaft als unmissverständliches Warnsignal wahrgenommen werden.
Lindgren-Enkelin weist Vorwürfe zurück
Widerspruch gegen die These des Kanzlers, wonach Kinderbücher, die über Jahrzehnte hinweg unproblematisch waren, plötzlich mit Warnhinweisen versehen werden müssen, kam zuletzt auch aus sehr berufenem Munde. Annika Lindgren, Enkelin der Pippi-Langstrumpf-Erfinderin Astrid Lindgren, nahm ihre Großmutter in einem „Zeit“-Interview gegen den Rassismus-Vorwurf in Schutz. Diese habe es im Gegenteil immer verachtet, „wenn Menschen (ihre) Macht über andere missbraucht haben.“
Man müsse es akzeptieren, wenn die Pippi-Langstrumpf-Bücher vielleicht „irgendwann nicht mehr gelesen“ würden. Aber davon, irgendwelche vermeintlichen oder tatsächlichen „Darstellungen kolonialer Stereotypen“ zu ändern oder zu korrigieren, „indem wir ein Wort streichen“, hält Lindgren nichts.
Und dieser Ansatz scheint tatsächlich auch der vernünftigste zu sein: Wer auch – oder vielleicht gerade – Bücher aus dem letzten Jahrtausend noch für unbedenklich hält, kann sie seinen Kindern vorlesen oder diese selbst lesen lassen. Und wer ein Problem damit hat, der soll es eben sein lassen.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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