Von Kai Rebmann
Man hat es halt nicht besser wissen können. Im Großen und Ganzen sind wir gut durch die Pandemie gekommen. Die Schulschließungen in Deutschland haben viel Schlimmeres verhindert. So oder so ähnlich hören sich die Argumente an, mit denen die verantwortlichen Politiker eines der größten Verbrechen zu rechtfertigen versuchen, das Kindern und Jugendlichen in der jüngeren Vergangenheit angetan wurde. Abgesehen davon, dass die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft von Beginn an als Pandemietreiber und Virusschleudern stigmatisiert wurden und teilweise immer noch werden, werden Kinder und Jugendliche noch Jahre und Jahrzehnte mit den Nachwirkungen der im Namen der Volksgesundheit verhängten Schulschließungen und Lockdowns zu kämpfen haben. „Viele dieser Dinge sind wahrscheinlich auch nicht mehr zurückzudrehen“, weist der Kinderarzt Dr. Reinhard Berner auf möglicherweise irreversible Schäden hin, die von Politik und Gesellschaft bei Millionen von Schülern billigend in Kauf genommen worden sind. Berner ist inzwischen Mitglied des einberufenen Expertenrats der Bundesregierung und Leiter der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Dresden und hat im Rahmen einer Meta-Analyse mehrere internationale Studien über die Folgen von Schulschließungen und Lockdowns ausgewertet.
Wie erschreckend nutzlos das Tragen von Masken im Speziellen und Schulschließungen im Allgemeinen waren, zeigen zwei Beispiele aus Finnland und der Schweiz besonders eindrücklich. Im Spätjahr 2021 habe es, so Berner, in Helsinki im Gegensatz zum nur knapp zweihundert Kilometer nördlich gelegenen Turku eine Maskenpflicht in der Schule gegeben. Die Inzidenzen bei Schülern lagen über einen Zeitraum von sechs Monaten hinweg jedoch stets auf einem vergleichbaren Niveau. Ähnlich ernüchternd fällt ein Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz aus. Während in der Bundesrepublik seit dem Frühjahr 2020 die Schulen insgesamt 38 Wochen lang vollständig oder teilweise geschlossen blieben, war das bei den Eidgenossen einer Unesco-Studie zufolge nur acht Wochen lang der Fall. Die höchst unterschiedliche Herangehensweise in den beiden Nachbarländern zeigte bei den jeweiligen Inzidenzen der unter 19-jährigen aber keine nennenswerten Abweichungen. Sehr große Unterschiede konnten hingegen bei den Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Schüler beobachtet werden, die in Deutschland weitaus dramatischer ausfielen als in der Schweiz.
Life-Child-Studie aus Leipzig wurde von der Politik ignoriert
Auch die Erkenntnisse einer weiteren Studie aus Sachsen hätten dabei helfen können, den Kindern und Jugendlichen in Deutschland viel Leid zu ersparen. Die Life-Child-Studie unter Leitung von Prof. Wieland Kiess läuft unabhängig von Corona schon seit mehr als zehn Jahren und beobachtet die Entwicklung der psychischen und körperlichen Gesundheit von Schülern. Kiess ist Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universität Leipzig und damit das Pendant zu seinem eingangs vorgestellten Kollegen aus Dresden. In einem Welt-Interview beklagt Kiess, dass Kinder im Jahr 2020 teilweise nicht mal mehr auf den Spielplatz gehen durften. Der Experte betont, dass die im Sommer 2020 vorhandene Datenlage es hergegeben hätte, die Schulen wieder zu öffnen. Neben der Regierung in Sachsen habe er auch die Regierungen in Mecklenburg-Vorpommern und Hessen auf die aus seinen Prävalenzstudien gewonnenen Erkenntnisse hingewiesen, so Kiess. Er habe aber den Eindruck, „dass sich nur noch wenige Politiker trauen, Entscheidungen abseits vom Mainstream zu treffen“, nannte der Professor einen möglichen Grund dafür, dass ihm damals niemand zuhören wollte.
Kiess und sein Team haben vor und nach den Sommerferien 2020 Abstriche von Schülern genommen, um auf diese Weise Rückschlüsse auf deren Infektiosität zu gewinnen. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchung konnte der Kinderarzt aus Leipzig nicht nur das Narrativ von Kindern als Virenschleudern ins Reich der Fabel verweisen, sondern sogar das Gegenteil beweisen. „Wir kamen zu dem Schluss, dass Kinder nicht die Treiber der Pandemie sind, (sondern) sie sich sogar bei den Erwachsenen anstecken.“ Mit der Schließung von Schulen könne man nichts gewinnen, dafür aber Probleme für die Kinder erzeugen, so Kiess. Trotz der Erkenntnisse dieser und weiterer Studien, die schon im Sommer 2020 auf dem Tisch lagen, lief das Schuljahr 2020/21 in Deutschland nahezu durchgängig ohne den regulären Präsenzunterricht ab, stattdessen wurden Homeschooling und Wechselunterricht zur Normalität erklärt.
Gewichtszunahme bei bis zu einem Drittel der Kinder
Erhebungen wie die Life-Child-Studie aus Leipzig erlauben einen langfristigen Vergleich der Auswirkungen der in Deutschland verhängten Lockdowns und Schulschließungen. Mitte 2020 ist es demzufolge zu einem „sprunghaften Gewichtsanstieg“ bei Kindern gekommen, insbesondere bei den unter 13-jährigen und solchen, die schon vor Corona übergewichtig waren. Diese Erkenntnisse werden auch durch eine aktuelle Forsa-Umfrage gestützt, wonach jedes sechste Kind in Deutschland zugenommen hat, bei den 10- bis 12-jährigen ist es sogar jedes dritte Kind. Dr. Berner von der Uniklinik Dresden warnt, dass Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen schon früh zu Bluthochdruck, einer Fettleber oder Diabetes führen kann.
Prof. Kiess aus Leipzig hat dagegen vor allem die psychischen Schäden der Schüler im Blick. Als Folge des fehlenden Kontakts zu Gleichaltrigen und Freunden sei eine starke Zunahme von Vereinsamung, depressiven Verstimmungen und Verhaltensauffälligkeit zu beobachten, wie der Experte betont. „Kinder und Jugendliche spielen weniger Instrumente, gehen weniger in Sportvereine und die Bereitschaft, sich im Klassenverband zu engagieren, ist gesunken. Das einzige, was mit den Corona-Maßnahmen angestiegen ist, das ist die Smartphone-Nutzung“, sagte Kiess der Welt.
Schulen und Kindergärten fungieren, sofern sie geöffnet sind, auch als eine Art Frühwarnsystem. Nicht selten werden Anzeichen von körperlicher oder psychischer Gewalt, denen Kinder insbesondere in sozial schwächeren Elternhäusern ausgesetzt sein können, von Lehrern oder Erziehern entdeckt. Ähnliches gilt für Kinder, die an Diabetes, Leukämie oder sonstigen Krankheiten leiden, deren Symptome oft zuerst den dafür geschulten Augen von Pädagogen auffallen. Kleinkinder mit Schütteltrauma, Kinder mit chronischen oder lebensgefährlichen Krankheiten bekamen in den vergangenen zweieinhalb Jahren oft erst Hilfe, als es schon zu spät war. Daher richtet Professor Kiess mit Blick auf die schleppende Evaluation der Corona-Maßnahmen einen klaren Appell an die Politik: „Das muss aufgearbeitet werden, die Maßnahmen sollten auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Wir sehen ja, dass Kindern geschadet wurde, indem man sie einsperrte, obwohl sie am wenigsten betroffen waren.“
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: ShutterstockText: kr
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