Das Narrativ von den Schulen als Corona-Hotspots Expertin übt scharfe Kritik am Anhörungsverfahren des Bundesverfassungsgerichts

Von Kai Rebmann

Rückblende: Am 23. April 2021 tritt die sogenannte Bundesnotbremse („Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) in Kraft. Dieses Gesetz sieht unter anderem die Schließung aller Schulen in Gemeinden oder Städten vor, in denen die 7-Tage-Inzidenz über 165 liegt. In den Tagen nach Inkrafttreten der Bundesnotbremse gehen beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe zahlreiche Eilanträge und Verfassungsbeschwerden ein. Am 20. Mai 2021 lehnt das BVerfG sämtliche Eilanträge ab und verweist auf ein anhängiges Hauptverfahren. Am 30. Juni 2021 lädt Merkel die Richter des Ersten und Zweiten Senats des BVerfG zum Abendessen ins Kanzleramt ein – auf Kosten des Staats, sprich des Steuerzahlers. Zu den Rednern bei dieser Veranstaltung gehört unter anderem die damalige Bundesjustizministerin und heutige Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), die bei dieser Gelegenheit über die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung referiert. Unter den Zuhörern befinden sich unter anderem Susanne Baer, Richterin im Ersten Senat, und Stephan Harbarth, ehemaliger CDU-Bundestagsabgeordneter, Merkel-Vertrauter und Vorsitzender des Ersten Senats am BVerfG. Am 30. November 2021 kommt der Erste Senat unter Beteiligung des Vorsitzenden Stephan Harbarth und der Richterin Susanne Baer schließlich auch im Hauptverfahren zu der Überzeugung, dass die Bundesnotbremse rechtens sei.

Was damals schon allein aufgrund der offensichtlichen Tatsachen gewaltig zum Himmel gestunken hat, wirkt umso entlarvender, wenn man einen genaueren Blick darauf wirft, wie das Anhörungsverfahren des BVerfG zur Bundesnotbremse abgelaufen ist und welche Abwägungen die Richter dabei getroffen haben. Prof. Dr. med. Ursel Heuberg, ehemalige stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamts in Frankfurt hat im Hessischen Ärzteblatt eine tiefgründige Analyse zu dieser Frage veröffentlicht, die die ohnehin schon bestehenden Zweifel bezüglich der Unbefangenheit der Karlsruher Richter bei ihrer Entscheidung über die Bundesnotbremse noch einmal untermauern. Ein zentraler Aspekt galt dabei den Kindern und Jugendlichen, die seit über zwei Jahren mit am stärksten unter den Corona-Maßnahmen zu leiden hatten und haben und nicht selten als „Virusschleudern“ und „Pandemietreiber“ dargestellt werden. Die insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern völlig unverhältnismäßigen Eingriffe in die Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, allen voran die Schulschließungen im Zuge der Bundesnotbremse, wurden nicht zuletzt von der Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatović (Bosnien-Herzegowina) mit deutlichen Worten kritisiert. Auch zahlreiche Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und Kinderärzte hatten die politischen Entscheidungsträger mehrfach auf die Unverhältnismäßigkeit der Schließung von Schulen und Kindergärten hingewiesen.

Bundesverfassungsgericht stützt sich weitgehend auf Stellungnahme der Charité

Das vom BVerfG eingeleitete Anhörungsverfahren begann mit zwei grundsätzlichen Ungereimtheiten. Zunächst wurde auf eine mündliche Verhandlung verzichtet, was bei einer Klage dieser Tragweite zumindest sehr außergewöhnlich ist. Dann forderten die Richter schriftliche Stellungnahmen bei insgesamt 31 sachverständigen Stellen an, unter anderem dem Institut für Virologie der Charité in Berlin. Direktor dieses Instituts ist bekanntlich ein gewisser Christian Drosten, seines Zeichens Chefberater der Bundesregierung in Sachen Corona.

Die Stellungnahme der Charité ging beim BVerfG als letzte aller Stellungnahmen ein – und zudem deutlich nach Ende der vorgesehenen Frist. Mit etwas gutem Willen könnte man den Richtern in Karlsruhe unterstellen, dass sie im Interesse der vollumfänglichen Abwägung, insbesondere in einem so wichtigen Fall, ein Auge zugedrückt haben und die Stellungnahme der Charité trotz dieses formalen Fehlers eben doch noch mitberücksichtigt haben. Doch bei dieser „Mitberücksichtigung“ blieb es nicht. Vielmehr wurde der Stellungnahme der Charité im Laufe des Anhörungsverfahrens ein außergewöhnlich hoher Stellenwert eingeräumt und sie im Zweifel nicht selten über widersprüchliche Darstellungen von anderen Sachverständigen gestellt. In einem Beispiel führt Heuberg aus, dass das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und zahlreiche weitere Fachgesellschaften etwa Tests und Maskentragen in den Schulen als praktikable und sichere Maßnahmen und vor allem „mildere Mittel“ als Schulschließungen bewertet haben. Das BVerfG teilte diese Einschätzung nicht und verwies auf die Stellungnahme der Charité: „Eine flächendeckende Durchführung von PCR-Tests an Schulen ist allerdings nach Einschätzung der Charité aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Nach deren Auffassung spricht insgesamt mehr dafür, dass Infektionen durch Schulschließungen besser eingedämmt werden könnten als durch zweimal wöchentliche Testungen in den Schulen bei Durchführung von Hygienemaßnahmen.“

Heuberg weist darauf hin, dass die Stellungnahme mit nur 17 Quellen auskomme, während zum Beispiel in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) auf mehr als 100 Quellen verwiesen werde. Darüber hinaus stammten die Studien, die in der Charité-Stellungnahme aufgeführt werden, größtenteils aus dem Jahr 2020 und seien in den wenigsten Fällen „in wissenschaftlichen Zeitschriften mit Peer-Review erschienen“. In vielen Fällen würden zudem falsche „epidemiologische und statistische Schlussfolgerungen“ gezogen. Als Beispiel hierfür nennt Heuberg die Tatsache, dass die Charité „Infektionen in der Gruppe der schultypischen Jahrgänge“ mit „Infektionen in Schulen oder Infektionen durch den Schulbetrieb“ gleichsetze. Als weiteren handwerklichen Mangel der Charité-Stellungnahme führt die Expertin falsche Interpretationen von Daten aus England an. Dort habe sich gezeigt, so die Charité, dass das Maskentragen in Schulen im Winter nicht geeignet gewesen sei, einen Inzidenzanstieg in den „schultypischen“ Altersgruppen zu verhindern. Da in England kurz vor Weihnachten 2020 in den Klassenräumen aber überhaupt keine Masken getragen wurden, habe der Anstieg der Inzidenzen auch nicht die Unwirksamkeit einer Maskenpflicht in Schulen belegen können, so Heuberg. Sie weist zudem darauf hin, dass es in England im November 2020 einen allgemeinen Lockdown gegeben hat, von dem die Schulen ausgenommen waren und es während dieser Zeit „gerade nicht zu einem Anstieg der SARS-CoV2-Nachweise in schultypischen Jahrgängen, sondern sogar zu einem leichten Abfall“ gekommen ist. Zum von der Charité erwähnten Anstieg der Inzidenzen ist es in England tatsächlich erst nach der allgemeinen Öffnung im Dezember 2020 gekommen.

Ähnliches Bild zeigt sich bei den Schulen in Deutschland

Zusammen mit ihrem Kollegen, Prof. Dr. Dr. med. René Gottschalk, Leiter des Gesundheitsamts Frankfurt, hat Heuberg die Schulschließungen in Deutschland aufgrund der Bundesnotbremse bereits vor rund einem Jahr kritisiert. Im Hessischen Ärzteblatt führten die beiden Experten aus, weshalb die Schulschließungen damals auf völlig falschen Annahmen und Interpretationen von Inzidenzen erfolgten. Heuberg und Gottschalk untersuchten dazu die Inzidenzen im gesamten Bundesland Hessen sowie exemplarisch in Frankfurt am Main (vergleichsweise hohe Inzidenz) und im Landkreis Bergstraße (vergleichsweise niedrige Inzidenz). In der KW 16, also mit Wiederbeginn des Schulbetriebs nach den Osterferien sind in Hessen insbesondere die 7-Tage-Inzidenzen in den Altersgruppen der 5- bis 9-jährigen und der 10- bis 14-jährigen steil angestiegen, während die Inzidenz in der Gesamtbevölkerung nur moderat angestiegen ist. Da aber in fast allen Stadt- und Landkreisen der Wert von 165 übersprungen wurde, mussten die Schulen in Hessen auf Grundlage der Bundesnotbremse wieder geschlossen werden.

Heuberg und Gottschalk stellten daher die rhetorische Frage, ob diese Daten nicht den Beweis dafür erbrächten, dass die „Schule der Hotspot ist“ – und erläuterten, warum das gerade nicht der Fall war und ist. Nach den Osterferien 2021 fand in Hessen für die Schüler der 1.- 6. Klasse Wechselunterricht statt, während ab der 7. Klasse Distanzunterricht vorgeschrieben war. Voraussetzung für die Teilnahme am Wechselunterricht war eine Testpflicht (zweimal pro Woche). Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden also nahezu 100 Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter (1.- 6. Klasse) getestet, so dass für diese Altersgruppe praktisch eine 7-Tage-Inzidenz ohne Dunkelziffer ermittelt wurde. „Diese Zunahme an Tests und die erstmalige Erfassung der Dunkelziffer führt zwingend zu einer Zunahme an Meldungen und damit der Inzidenz“, so Heuberg und Gottschalk. In allen anderen Altersgruppen wurden weiterhin nur anlassbezogene Tests durchgeführt, was die deutlich niedrigeren Inzidenzen gegenüber der Altersgruppe der verpflichtend getesteten Schulkinder durchaus plausibel erklärt.

Darüber hinaus wiesen Heuberg und Gottschalk noch auf einen anderen ganz wesentlichen Aspekt hin. Da die Pflichttests, die zu dem massiven Anstieg der Inzidenzen in den schultypischen Altersgruppen geführt hatten, erstmals in der Woche unmittelbar nach den Osterferien durchgeführt worden sind, müssen diese Infektionen in den Ferien erworben worden sein, also außerhalb der Schule. Das Fazit der beiden Experten fällt dementsprechend ernüchternd aus: „Die Testpflicht hat nicht das Ziel erreicht, den Unterricht in Schulen sicherer zu machen, sondern sie hat in vielen Kreisen bewirkt, dass die Schulen erneut geschlossen wurden.“ Heuberg fordert daher, dass „dem bis heute vorherrschenden Narrativ der gefährlichen Schulen und der Kinder als Virenschleuder ein Ende“ gesetzt werden muss. Folge dieses Irrtums sei, dass „Kinder und Jugendliche in Deutschland auch heute noch stärker eingeschränkt werden als Erwachsene – wie nach unserer Kenntnis in kaum einem anderen europäischen Land.“

DAVID
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Shutterstock
Text: kr
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