Subversive Weihnachten Wir brauchen die richtigen Fragen und nicht die falschen Antworten

Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen

Was soll ich zu diesem Weihnachtsfest sagen? Ich sortiere Familienbilder zum Jahresende. Auffällig viele mit Maske, aber auch genug ohne. Ich überlege, ob ich unsere Masken-Portraits einfach aussortiere. Aber dann ist das Jahr nicht bebildert, wie es war.

Ich denke an die Krankenschwester in Camus‘ Roman „Der Fremde“. Sie trug auch eine Art Maske, um den Tumor in ihrem Gesicht zu verbergen. Camus schildert das ohne jede Bewertung. Ich könnte ja auch von jeder Bewertung absehen.

Die Maske ist dann einfach der weiße Fleck in der Wahrnehmung, hinter dem sich Mund, Kinn und Nase befinden, ein Teil der Wangenpartie noch. Die kann das Gehirn des Betrachters schon irgendwie ergänzen, ich sehe einfach davon ab, wie mein Gehirn es schon eine ganze Weile tut. Ich betrachte jemanden, der in der Mitte weiß ist, manchmal auch schwarz oder blau. Ich denke die Nase einfach bis zum Abschluss und die Wangenpartie von den Augen abwärts dazu. Der Mund ist dann mein freier Einfall.

Derart reduziert kann man Menschen wahrnehmen, irgendwie einsortieren. Aber kann man sie auch erkennen? Ich bin da unsicher. Der Mund fehlt. Er spricht auch dann noch, wenn er nichts mehr sagt. Die vielen Mitteilungen haben sich an den Lippen festgesetzt, sie geformt, oft auch verformt. Ohne den Mund lässt sich nicht viel sagen über den Anderen. Er bleibt verschlossen und unzugänglich.

Mir fällt es in der S-Bahn auf, morgens, wenn es noch dunkel ist. Da sitzen und stehen alle mit Maske, die eine Gemeinsamkeit herstellt und die Leute zugleich anonymisiert. Die Menschenmenge, in der man sich befindet, muss man in Zukunft ohne Münder malen, dafür mit Augen.

Ich habe noch nie so viele Augen gesehen! Manche trüb, andere starr, wieder andere eigentümlich feucht vor Schmerz. Eine junge Frau, die mir gegenüber sitzt und deren Augen schmerzgetränkt in die Dunkelheit jenseits des Fensters sehen. Ein Bild, das ich wohl nicht so schnell vergesse. Selten sieht man solche Augen.

Eine Andere in einer roten Steppjacke, ein Weihnachtsmannrot. Die Jacke hat sie geöffnet und zeigt ihr Dekolleté, auf dem ein Palmzweig prangt. Ich betrachte das kleine Kunstwerk, das sehr fein in die Haut über ihrer Brust tätowiert ist. Die Farbe wirkt frisch, das Tattoo kann sie noch nicht lange haben. Der Palmzweig ist ein Symbol der Hoffnung und des Schutzes. Ein christliches Symbol, an das man auch zu Weihnachten denkt. „Viel Ausdruck unter dieser roten Jacke“, denke ich bei mir und bemühe mich, sie nicht zu genau zu betrachten. Hinter der Maske wollen wir doch wenigstens ungestört bleiben.

Ein junger Mann, dessen Augen unruhig flackern, tippt nervös mit dem Fuß auf dem Kabinenboden, während sein Knie auf und ab hüpft. Ein anderer Mann, neben ihm, wendet sich ab und schaut zur Seite. Die meisten Leute hier schauen auf ihre Smartphones, um die Zeit zu überbrücken. Die Zeit, von der sie sich nichts erwarten, außer von dem einen zum anderen Ort gefahren zu werden. Ich erwarte mehr. Mein Handy bleibt in der Tasche.

Auf der Arbeit habe ich eine Kollegin, die gern über Bibelverse diskutiert. Sie ist Adventistin. Ich tue ihr den Gefallen und diskutiere über Mose, Paulus und Samuel. Wir sitzen ohne Maske in ihrem kleinen Büro und es bringt mir Spaß, zu sehen, wie ihre Wangen sich füllen und ihre Augen leuchten, wenn ihre Lippen biblische Weisheiten formen. Dabei essen wir Kekse.

Wir grinsen, als wir vom Flur Weihnachtslieder hören. Unsere Chefin singt für die Mitarbeiter. Ein besonderer Service zu Weihnachten. Ihre Stimme ist glockenklar.

„Ist Jesus ein Mensch oder Gott?“, fragt sie mich unvermittelt. „Was sein Leiden angeht, ist er sicher ein Mensch“, gebe ich zur Antwort, „überhaupt scheinen die Kinder von Göttern sehr viel leiden zu müssen. Ich denke an Sisyphos und Prometheus.“ „Aber Sisyphos war kein Gott und Prometheus ein Titan“, antwortet sie schnell, „beides keine Halbgötter.“ Was denn der Sinn der Frage sei, gebe ich leicht gekränkt zurück. „Es gibt keine Antwort darauf“, antwortet sie, „die Bibel ist ein Mysterium. Das ist der Sinn der Frage.“

„Keine Antwort“, bemerke ich und nehme mir einen Keks, „was für ein Sinn!“ „Du magst enttäuscht sein“, sagt sie und holt dabei tief Luft, was ihren Wangen ein noch runderes Aussehen gibt, „aber keine Antwort geben zu können, ist ein sehr guter Sinn. Wenn es auf jede Frage eine Antwort gäbe, würden wir die Lust verlieren. Das Leben ist erst interessant, wenn man Fragen stellen kann, auf die es keine Antworten gibt.“

Ich finde das sehr eigenwillig, obwohl ich sagen muss, dass etwas dran ist. Schnelle Antworten haben wir in diesem Jahr genug gehört. Viele Antworten stimmten nicht oder waren Täuschungsmanöver. Fragen waren unerwünscht. Nur wenige haben dann weiter gefragt und das ist vermutlich die Ursache dieser allgemeinen Gereiztheit und Bedrückung, die ich in diesen Tagen wahrnehme. Wir leben in einer sehr unverständlichen Situation und sollten viele Fragen stellen. Genau dabei werden die Leute abgebügelt und entmutigt. Womit haben wir es eigentlich zu tun? Mit einem einfachen Virus oder einem gezüchteten Monster? Was, wenn es jetzt mit Varianten und Mutationen munter weitergeht, eine giftiger als die andere? Unerwünschte Fragen. Das weiß jeder. Die Antworten gibt es nicht oder sie werden geheim gehalten.

Kein schönes Weihnachten, aber wir machen das Beste draus.

Vorhin am Abendbrottisch hat sich meine Frau über die neue Frisur von unserem Jungen gefreut. Ich habe ihn zum Friseur geschleppt und der war, trotz 2G, großzügig und hat ihm die Haare geschnitten. Eine halbe Stunde lang hat er rasiert, geschnippelt und gestylt und eine Mutter glücklich gemacht. Übermorgen will sie mit ihm Weihnachtseinkäufe machen. „Das klappt schon irgendwie“! Das glaube ich auch. Meine Frau hat viel Verhandlungsgeschick. In Berlin wird ja schon gegen 2G geklagt, in Niedersachsen wurde die Regelung gekippt.

Ich entscheide mich, dass die Familienbilder mit den Masken in diesem Jahr dazugehören und ins Album kommen. Sie kommen neben die Fotos, auf denen wir frech und ohne Masken grinsen. Subversion nennt man das wohl und der Mensch ist subversiv. Er findet immer seinen Weg. Früher oder später.

Vielleicht wird es ja ein subversives Weihnachten mit einem noch subversiveren „Novij God“ (Silvester für Russen)? Wie auch immer. Die Jahresendflügelpuppen haben wir schon aufgehängt. Böller gibt es noch vom letzten Jahr.



Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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