Tellkamp sieht DDR-Tendenzen: „Zweiteilung des Verhaltens im Alltag kommt wieder“ Bestseller-Autor über Meinungs(un)freiheit und grüne "Erlösungssehnsucht"

Hier geht es direkt zum Video mit dem Gespräch.

„Auch in der Diktatur gibt es Freiräume, das Problem ist nur – wer testet das aus?“ Deutschland sei zwar keine Diktatur – „noch nicht“ – aber „es gibt andere Formen von Einschränkung der Meinungsfreiheit und es gibt andere Zwänge“, sagt der Schriftsteller Uwe Tellkamp in seinem Gespräch mit mir: „Wir haben eine demokratische Form der Einschränkung der Meinungsfreiheit, mit demokratischen Blockierungsmaßnahmen“, so der Bestseller-Autor, der gerade seinen neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ veröffentlicht hat.

In der DDR habe es eine Zweiteilung gegeben, so der 1968 in Dresden geborene und in der DDR aufgewachsene gelernte Arzt: Zuhause habe man relativ frei sein können, sobald man aber vor die Tür trat, habe man „eine Art Soldatenkleid“ anziehen, in einer feindlichen Umgebung aufpassen und genau abwägen müssen, was man sagt. „Und diese Art der Zweiteilung des Verhaltens im Alltag kommt wieder“, so die Diagnose von Tellkamp: „Dass Menschen bei verschiedensten Themen anders reagieren in ihrem Freundeskreis und auf Arbeit oder im öffentlichen Raum.“

„Ich höre oft gerade auch aus den alten Bundesländern, dass dort Menschen extrem vorsichtig geworden sind und die Einsamkeit im politischen Raum enorm groß geworden ist“, so der Dresdner. Er denke oft darüber nach, woher die Moralisierung komme: „Vermutlich aus dem innersten unserer Gesellschaft selbst, aus unserer Wirtschaft und Lebensweise. Wir sind in einer Demokratie, die nach 70 Jahren in vielerlei Hinsicht an Enden gekommen ist. Und eine Demokratie braucht, wenn sie marktwirtschaftlich geführt ist, immer neue Wachstums- und Produktzyklen. Sie braucht innovative Gedanken. Und innovative Gedanken scheinen mir zu Zeit von der grünen Bewegung auszugehen, die ein Erzählmuster, ein Narrativ, implantiert hat in die Gesellschaft, wie neue Formen des Lebens, bewahrende Formen des Lebens, auch wirtschaftlich gesehen neue Formen des Lebens, von der Solaranlage bis zur Hauswanddämmung. Das ist eine gute Geschichte. Und diese Gutheits-Erzählung fällt auf guten Boden. Weil viele Medienvertreter, was die Grünen betrifft, aus dem gleichen Milieu kommen. Sie haben häufig den reinen Nachrichtenraum verlassen. Das hat tief die Gesellschaft verändert und tut das noch. Und das ist verbunden mit dieser Moral von Gut und Böse. Weniger Wahr und Falsch interessiert, sondern Gut und Böse. Und das ist für mich ein Zeichen von einlaufenden Diktaturen oder von sterbenden Demokratien.“

Religiöser Sensus

Auch das Ersterben des religiösen Sensus spiele eine Rolle: „Man hat alles, aber hat keinen Sinn.“ Die Kirchen hätten sich abgekehrt von der Sinnsuche und seien weitgehend „zum politischen Arm der Grünen und im weitesten Sinne einer Gutmeinungs-Linken“ geworden. „Dann kommt der religiöse Sensus auf andere Ideen und sucht sich andere Betätigungsfelder. Erlösungsphantasien. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass die Deutschen dafür besonders empfänglich sind. Erlöst zu werden von ihrer finsteren und dunklen Vergangenheit.“

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„Ich habe manchmal den Eindruck, viele Deutsche, auch viele Medienschaffende, sind autoritätsgläubig, heilsgläubig und heilsüchtig, der Wagnerbegriff, alle seine Opern sind voll von Erlösungssuchendem und Erlösungssüchtigem, das trifft eine sehr wichtige Problematik heutzutage“, glaubt Tellkamp: „Viele wollen erlöst werden, erlöse uns vom Bösen, das ist hier unsere Vergangenheit, wir wollen endlich weg, wir wollen zu den hellen Ufern, deswegen trifft sich die Erzählung auch mit Glauben in der Kirche, denn das ist ein grundlegendes Kirchending, Erlösung zu suchen, erlöst zu werden, Ablass zu geben. CO2 und Elektroautos sind ja nichts anderes als Ablassgegenstände, wie im Mittelalter. Wenn man vernünftig hinterfragt, was ein E-Auto wirklich bringt, schütteln ja die meisten Ingenieure heillos den Kopf und legen den Finger auf den Mund. Das sind Ablassgegenstände, aber das scheint gut zu funktionieren.“

Sehen Sie sich hier Teil 1 meines Gesprächs mit Uwe Tellkamp an.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

amzn
Bild: Shutterstock

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