Das Grundgesetz ist eindeutig: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, besagt es in Artikel 16a, Absatz 1, um dann in Absatz 2 hinzuzufügen: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“
Doch die Ampel-Koalition pfeift offenbar auf das Grundgesetz. Entgegen den oben zitierten Bestimmungen – die auf die entsprechenden Vereinbarungen im so genannten Dublin-Abkommen berühren – erkennt die Bundesregierung jetzt auch Asylanträge von Menschen an, die zuvor bereits in Griechenland Asyl beantragt und dort einen Schutzstatus erhalten haben. Also faktisch handelt es sich um ein Zweit-Asyl in Deutschland.
„Laut Innenministerium haben so bis Ende Juni 49.841 bereits in Griechenland anerkannte Flüchtlinge (meist aus Syrien, Afghanistan und dem Irak) bei uns Asyl beantragt“, schreibt die „Bild“. Der Hintergrund: Wer in der EU als Schutzbedürftige anerkannt ist, darf innerhalb der Union 90 Tage reisen. Also etwa auch aus Griechenland nach Deutschland. Die Anerkennungsquote liegt dem Bericht zufolge bei 88 Prozent.
Illegal? Legal? Egal!
Laut dem Dubliner Abkommen, das gültiges EU-Recht ist, ist für jeden Asylbewerber das Land zuständig, in dem der Betreffende seinen Erstantrag stellte. „Doch deutsche Verwaltungsgerichte haben entschieden, dass man die Menschen nicht zurückschicken dürfe, weil die Unterbringung vor Ort so schlecht sei. Die Bundesregierung toleriert die Zuwanderung“, schreibt die „Bild“.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Recht wird außer Kraft gesetzt wegen „zu schlechter Unterkünfte“. Was kommt als Nächstes? Darf man sich auch einfach selbst in einer anderen Wohnung einquartieren, wenn man zu schlecht untergebracht ist? „Mit dieser Praxis hebelt die Ampel-Regierung das europäische Asylrecht vollkommen aus“, klagt Stefan Müller, Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, gegenüber „Bild“. Müller betont: „Wenn anerkannte Asylbewerber aus anderen europäischen Staaten in Deutschland mit einer weiteren Anerkennung belohnt werden, bleibt vom Dublin-System nichts mehr übrig. Europäische Regeln müssen für alle gelten.“
Die „Bild“ schreibt weiter: „Dazu kommt: Die Griechen fühlen sich von den EU-Partnern im Stich gelassen, fordern ein gesamtgültiges Asylsystem. Flüchtlinge könnten nicht mehr Geld vom Staat bekommen als bedürftige Griechen, heißt es offiziell.“ Nach offiziellen Angaben sind dem Bericht zufolge in den vergangenen zehn Jahren bereits mehr als 530 000 Griechen ausgewandert. Eine unglaubliche Zahl für ein Land mit nur rund zehn Millionen Einwohnern.
Was in dem „Bild“-Artikel allerdings nicht steht: Das Problem ist nicht neu. Und schon die Merkel-Regierung lieferte den Grundstein dafür. „Mehr als 17.000 Flüchtlinge haben in Griechenland Asyl erhalten, leben aber in Deutschland. Zurückschicken kann man sie bisher nicht“, schrieb Rudi Wais, den ich noch aus gemeinsamen Zeiten in der Redaktion kenne und schätze, schon im Juni 2021 schrieb die „Augsburger Allgemeine“: „Die Situation ist grotesk: Weil die Flüchtlinge in Griechenland angeblich zu schlecht behandelt werden, verbietet ein deutsches Gericht ihren Rücktransport – dabei haben diese Menschen nicht den Hauch einer Chance, hier noch eine Art Zweit-Asyl zu bekommen.“
‘Freizügigkeit ad absurdum geführt‘
Dass die Ampel nun einknickt und es statt dem „Hauch einer Chance“ auf ein Zweit-Asyl nun eben dieses Zweit-Asyl von der Regierung gibt, konnte sich Wais vor einem Jahr noch nicht vorstellen. Es ist atemberaubend, wie unter Rot-grün-gelb selbst Sachen real werden, die man noch gestern für undenkbar hielt. Wais schrieb 2021: „Wenn 17.000 Flüchtlinge, die in Griechenland schon Asyl erhalten haben, ungehindert nach Deutschland einreisen und dort auch bleiben können, wird der Gedanke der europäischen Freizügigkeit ad absurdum geführt. In Europa Schutz und Sicherheit zu finden, bedeutet nicht, sich ein Land nach Wunsch wählen zu können.“
Aus den 17.000 sind fast 50.000 geworden; aus der Warnung Wirklichkeit. Was Wais der Politik im vergangenen Jahr ins Stammbuch schrieb, ist heute aktueller denn je: „Nach dieser Logik könnten die Südländer der EU jedem ankommenden Flüchtling einen Asylbescheid ausstellen – im Wissen, dass dieser ohnehin nach Deutschland weiterreist. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung mit der griechischen Regierung nicht nur redet, sondern sie zu einer Korrektur ihres laxen Kurses zwingt, und sei es mit finanzieller Hilfe. Andernfalls wird das Thema Migration auf dem öffentlichen Radar schneller wieder auftauchen, als es vielen Politikern in Deutschland lieb ist.“
Bild: nitpicker/ShutterstockText: br