Verkalkuliert? Putin, die Banderas und das „faschistische“ Volk

Ein Gastbeitrag von Thomas Spahn

In der Hektik des russischen Überfalls auf die Ukraine meldeten sich gestern die beiden Köpfe des Regimes zu Wort. Außenminister Lawrow war im Sprachduktus unerwartet zurückhaltend – was ihn nicht daran hinderte, die russischen Märchen vom angeblichen Genozid an dem russisch-sprachigen Teil der Ukrainer zu wiederholen.

Bemerkenswert hingegen war der Auftritt Putin, der bereits bei seinen jüngsten Auftritten aufgeschwemmt und unkonzentriert wirkte. Doch der Auftritt am Nachmittag des Donnerstag zeigte deutlich mehr. Putin wirkte nicht nur unbeherrscht, er wirkte fast schon verzweifelt. Und machte mit seinen Äußerungen deutlich, dass er zwar weder wahnsinnig noch verrückt geworden ist, wie manche westeuropäischen Medien unsinniger Weise behaupten, jedoch tatsächlich in der von ihm oder seinen Geheimdiensten gestrickten Gegenwirklichkeit lebt. Sein Auftritt war mehr als die übliche Kriegspropaganda – es war der Ausfall eines Mannes, dessen Weltbild vor dem Zusammenbruch steht.

Putin ist offensichtlich fest davon überzeugt, dass er es in der Ukraine mit einem CIA-gesteuerten „Nazi-Regime“ zu tun hat, welches die ukrainische Bevölkerung unterdrückt und ausblutet. Das wiederum hat ihn unverkennbar zu der festen Überzeugung gelangen lassen, dass die russische Armee tatsächlich von einer überzeugenden Mehrheit als Befreier begrüßt werden würde. Doch es ist ganz anders gekommen.

Das ukrainische Militär, welches Putin fast schon verzweifelt ein weiteres Mal aufgefordert hat, eilends die Seiten zu wechseln, erweist sich trotz militärtechnischer Unterlegenheit unerwartet widerstandsfähig. Ganz offensichtlich hat Putins Echokammer mit diesem Widerstand nicht gerechnet und ist überfordert, damit umzugehen.

Schlimmer noch jene Ukrainer, die statt der russischen Befreiungsarmee zuzujubeln selbst Waffen in die Hand nehmen und die Invasoren offensichtlich in einen Häuserkampf zwingen, auf den sie nicht vorbereitet sind. Die russische Führung ging offensichtlich davon aus, dass ihr die ukrainischen Metropolen gleich reifen Trauben ohne nennenswerten Widerstand in die Hände fallen würden. Doch Putins Auftritt belegt: Die Armee sieht sich mit unerwarteten Aktionen seitens der Ukrainer konfrontiert. Aktionen, die die Eroberer dazu zwingen, ihre hübsch erfundene Legende von einer „Militäraktion ohne zivile Opfer“ zur erkennbaren Lüge werden zu lassen.

Für Putin sind diese ukrainischen Bürger durchweg neonazistische Bandera-Leute, benannt nach jenem Ukrainer, der im Zweiten Weltkrieg auch mit den Deutschen gegen die Sowjets kämpfte, um so die Freiheit seines Volkes zu erlangen. Die Banderas gelten vielen Russen bis heute als die Inkarnation des Vaterlandsverrats – wohingegen sie in der Ukraine selbst als Nationalhelden gefeiert werden. In der Weltsicht des Wladimir Putin besonders abstrus: Für ihn ist der gewählte Präsident Wolodymir Selenskyj der Anführer der „Rechtsfaschisten“ – ausgerechnet ein Jude als Führer einer Bande von „faschistischen“ Untergrundkämpfern, die tatsächlich selbst Antisemiten waren!

Für Putins sowjetische Weltsicht kann es dennoch nicht anders sein: Ukrainer, die die Waffe in die Hand nehmen, um gegen Russland für ihr Land zu kämpfen, sind „Faschisten“ und „rechte Nazi-Terroristen“. Doch es scheinen unerwartet viele zu sein, auf die dieses fragwürdige Etikett nun angewandt werden muss. Angeblich, so Putin, versteckten sich diese Banderas auf Anraten ihrer erdachten US-Berater hinter Frauen und Kindern als lebenden Schutzschilden – der verzweifelte und mehr als durchschaubare Versuch, die nun durch die russischen Invasoren unvermeidlich gewordenen „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung den Angegriffenen anzulasten.

Damit beginnt das Lügenkonstrukt, mit dem Putin sich selbst und seine Bürger zu überzeugen suchte, ins Wanken zu geraten. Eine angeblich vom Genozid bedrohte, auf Befreiung vom „faschistischen Nazi-Joch“ wartende Bevölkerung, die sich den Befreiern dann doch massiv entgegenstellt, Straßen mit Zivilfahrzeugen blockiert und ganz offensichtlich nicht kampflos aufgibt, passt nicht in die bereits gedachte Siegesparade von der Befreiung des Brudervolkes, dessen Blut nun von den Russen vergossen wird und an den Händen Putins klebt, der sich dafür vor dem internationalen Menschenrechtsgerichtshof als Kriegsverbrecher verantworten müsste.

Dabei ist es nicht nur die Weltöffentlichkeit, gegenüber welcher Putin nun sein von der unerwarteten Wirklichkeit verzerrtes Gesicht zu verlieren droht. Was er noch mehr fürchten muss, ist das Risiko, dass seine Soldaten, denen der Feldzug gegen die Nachbarn mit jenen Lügen einer „faschistischen“ Gewaltherrschaft erklärt wurde, angesichts der Wirklichkeit in der besetzten Ukraine zu zweifeln beginnen.

Nur Soldaten, die von ihrer Mission überzeugt sind, können gute Soldaten sein. Wenn Putins Armee gewahr wird, dass es nicht gegen kriminelle „Faschisten“, sondern gegen ein friedliches Volk geht, könnte die Kampfmoral der Invasoren darunter erheblich leiden. Das Ausbleiben des offensichtlich erwarteten, massenhaften Überlaufens der ukrainischen Kämpfer wird ein Weiteres tun, um die Soldaten an den Erzählungen ihrer Befehlshaber zweifeln zu lassen.

Sollten sich diese Erkenntnisse und Erfahrungen dann noch bis in die Städte Russlands herumsprechen, dann könnte die Gewaltaktion gegen die Ukraine, mit der Putin sich und seine mafiöse Oligarchie gegen demokratische Bestrebungen zu schützen suchte, zum Bumerang werden.

Russen sind keine Unmenschen – ganz im Gegenteil. Sie mögen manchmal etwas träge im Denken sein und so zu leichten Opfern einer monopolisierten Staatspropaganda werden – doch der normale Russe zeichnet sich aus durch ein Höchstmaß an Herzenswärme und Mitgefühl. Kommt bei den einfachen Menschen im Heimatland der Invasoren die Erkenntnis an, dass es kein Krieg gegen eine „faschistische“ Nazibande ist, sondern dass die Opfer einfache Menschen, Frauen und Kinder sind, die zu keinem Zeitpunkt der fragwürdigen Befreiung durch die russische Militärmaschine bedurften, bekommt Putin vor der eigenen Haustür mehr Probleme, als die Ukraine ihm jemals hätte bescheren können.

Die Unkontrolliertheit, ja fast schon Panik, die den jüngsten Auftritt Putins kennzeichnete, könnte insofern ein Zeichen dafür sein, dass sich der Kreml-Herrscher gründlich verkalkuliert hat. Er ging ganz offensichtlich davon aus, in der Ukraine auf geringen Widerstand zu stoßen und mit Jubel empfangen zu werden. Doch das Gegenteil ist der Fall – eine Fehleinschätzung, die Despoten, die sich von der Wirklichkeit verabschiedet haben, schon des Öfteren in die Selbstvernichtung geführt haben.

Dieser Beitrag wurde zuerst auf „Tichys Einblick“ veröffentlicht. Ich danke Roland Tichy und Tomas Spahn sehr herzlich, dass sie mir den Zweitabdruck gestattet haben … ich halte den Beitrag für sehr wichtig.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Dieser Beitrag erschien zunächst auf Tichyseinblick.de.

Tomas Spahn ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er arbeitete journalistisch als politischer Redakteur für die „Hamburger Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“, „Berliner Kurier“.

Bild: Kremlin.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
Text: Gast

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