Acht Experten um den ehemaligen Vize-Chef des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung, Matthias Schrappe, haben in einem 151-seitigen Papier die Corona-Politik der Bundesregierung auseinandergenommen. „Eine falsche Politik führt zu einer chaotischen Unübersichtlichkeit von Folgeregelungen“, heißt es in dem Dokument mit dem Namen „Thesenpapier 8“: „Reste von ‘Inzidenzregelungen‘, eindimensionale Ersatzparameter, ‘3G‘, Sanktionen gegen nicht geimpfte Personengruppen, ‚2G‘, Bundesland-spezifische Verlautbarungen, unterschiedliches Handling von öffentlichen und privaten Stellen, eine Schulpolitik, die die Last den Masken-tragenden Kindern aufbürdet, tägliche Zahlenmeldungen weiterhin ohne jegliche Angabe von Altersbezug oder Impfstatus, Verunglimpfung der Wissenschaft (Beispiel STIKO)“. Das bittere Fazit der Experten der „Autorengruppe zu Corona“, die sich bereits im März 2020 zusammengefunden hatte: „Ein unwürdiges Schauspiel des Scheiterns.“
„Die Folgen einer einseitigen Lockdown-Politik (nämlich deren Perpetuierung) und eines einseitigen Setzens auf die Impfkampagne (z.B. der nicht lösbare Konflikt mit Ungeimpften bei mangelnden flankierenden Maßnahmen)“ seien klar vorhersehbar gewesen, schreiben die Experten: „Es fehlt jegliche Perspektive für die Bevölkerung, es fehlt jegliche Perspektive für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, und die Schäden für das demokratische System sind unabsehbar. Eine Bilanz, die guten Rat erschwert.“
Die acht Experten aus dem Gesundheitsbereich (Mediziner, Universitätsprofessoren und Vertreter medizinischer Interessenverbände) fordern ein Umdenken im Umgang mit dem Virus. Nach ihrer Auffassung herrscht eine vereinfachende Wahrnehmung der Pandemie vor: „Die Grundannahme eines linearen, oligo-kompartimentellen Verhaltens der Epidemie kann nicht sinnvoll aufrechterhalten werden – eine Epidemie entwickelt sich nicht entlang einzelner (noch dazu nicht genau zu bestimmender) Parameter („Inzidenz“, „R größer 1“), auch nicht, wenn man einzelne zusätzliche Parameter mit einschließt (multivariate Modelle).“ Als Alternative schlagen die Wissenschaftler ein Konzept vor, „das die Epidemie als komplexes System (analog Vogelschwarm, Wetter) versteht“.
„Wir verfügen über zahlreiche Zahlen zum Virus, aber wir verstehen nicht das Geringste“, steht in dem Papier. Wenn man den Verlauf der Pandemie an einzelnen Parametern („Inzidenz“, „Hospitalisierungsrate“) bemesse, sowie auf einseitige Lösungsansätze (Impfkampagne) setze, ist das nach Ansicht der Autoren Irrsinn. Stattdessen wäre notwendig, über die „wesensmäßigen Eigenschaften“ der Pandemie (z.B. Altersabhängigkeit) und die Wirksamkeit von Interventionen (z.B. Schulschließungen) zu forschen.
Die neue und nun entscheidende „Hospitalisierungrate“ ist nach Ansicht der Experten genauso wenig zielführend wie die bisher alles beherrschende „Inzidenz“. Aus der Zahl der Krankenhausaufnahmen könne man zwar in der Altersgruppe der 36- bis 65-Jährigen durchaus wichtige Informationen ableiten. Aber nicht bei älteren und jüngeren Patienten, weil diese generell nicht so oft hospitalisiert würden. Der Vorschlag der Autoren: Ein Setzen auf „multidimensionale Indikatoren-Sets“. Etwa ein Meldesystem, das aufgefächert nach unterschiedlichen Altersgruppen Angaben zu folgenden Indikatoren macht: Impfstatus, Nebenerkrankungen, sozioökonomische Faktoren, Positivrate, Testfrequenz sowie Hospitalisierung, Intensivbettenbelegung und Beatmungspflichtigkeit.
Bisher würde generell zu wenig nach Altersklassen unterschieden, bemängeln die Autoren. In ihren Augen sind Kinder und Jugendliche die „großen Verlierer der Pandemie“: Sie selbst würden nur selten und meist harmlos erkranken, seien aber am Folgenschwersten von den Corona-Maßnahmen betroffen. Bei einer Infektion blieben Kinder und Jugendliche meist symptomfrei oder würden nur milde Krankheitszeichen an den Tag legen. Zudem bildeten sie einen langfristigen Immunschutz. Nicht einmal ein Prozent der infizierten Kinder und Jugendlichen mussten demnach hospitalisiert werden, extreme Verläufe seien extrem selten. Es ist insbesondere brisant vor dem Hintergrund, dass etwa wirklich Regierungssprecher Steffen Seibert erst kürzlich wieder den Schutz von Kindern vor Corona als einen wichtigen Grund für die harten Corona-Maßnahmen aufgeführt hatte (anzusehen in meinem Video hier).
Die Corona-Maßnahmen und ihre Folgen, wie etwa „Schul- und Kindergartenschließungen, Fehlernährung, Bewegungsmangel und erhöhter Medienkonsum“, haben nach Ansicht der Experten zu einem „deutlich erhöhten gesundheitlichen Risiko“ für die Kinder und Jugendlichen geführt. Zudem hätten „psychische Erkrankungen, Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche, sexueller Missbrauch und Kinderpornographie“ beträchtlich zugenommen. Dem stehe gegenüber, dass nur selten Infektionsketten in Schulen begonnen hätten. Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Reihentestungen, Quarantäneregeln und Maskenpflicht für Schüler das Infektionsgeschehen beeinflussen. Die Maßnahmen seien „hinsichtlich der Risiko-, Aufwands- und Nutzenbewertung weder geeignet, noch verhältnismäßig“.
Weiter beklagen die Autoren einen großen Impfdruck auf Kinder und Jugendliche. Der entstehe weniger durch die Gefahr einer Erkrankung, als durch eine „Politik, die den Lebensalltag der Heranwachsenden in einem unverhältnismäßigen Ausmaß einschränkt“.
Das Virus habe auch die Gesellschaft infiziert, beklagen die Autoren. Die Wissenschaft, die Politik und die Medien hätten ihre Aufgaben – Beraten, Entscheiden, Berichten – durcheinander gebracht. Die Rollen seien verwischt worden: „Von Medien, die für sich in Anspruch nahmen, zwischen guten und schlechten Virologen zu unterscheiden, um Letztere aktiv zu bekämpfen, sich also als Instanz der Ab- und Zuerkennung wissenschaftlicher Reputation gerierten; von einer Politik, die sich mit ihrer Berufung auf die Wissenschaft ihrer politischen Begründungspflicht zu entledigen und zugleich Kritiker moralisch ins Abseits zu stellen suchte, und von Wissenschaftlern, die bereitwillig zur Verfügung standen, politischem ‚Dilettantismus … ein Mäntelchen des Rationalen überzuwerfen‘.“
Die Experten zeigen sich in dem Papier auch politisch kämpferisch: Die „Wiedereinsetzung der Grundrechte“ sei „als unbedingtes Ziel zu bezeichnen“, schreiben sie. „Versuche, über die Argumentation ‘Gesundheitsschutz‘ und ‘Epidemie- Bekämpfung‘ Instrumente der fortgesetzten Orts- und Kontaktkontrolle der Bürgerinnen und Bürger in digitaler Form zu etablieren“, seien „abzulehnen und müssen sofort beendet werden.“
Der ehemalige Vize-Chef des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung Schrappe hatte bereits mit dem so genannten „Schrappe-Papier“ für großes Aufsehen gesorgt. Darin hatte er den Vorwurf erhoben, dass hinsichtlich der Intensivbetten mit verfälschenden Daten gearbeitet wurde (siehe Bericht auf meiner Seite hier).
Alle Verteidiger der Corona-Maßnahmen, die sich auf einen vermeintlichen Konsens der Wissenschaft berufen, sollten die 151 Seiten des neuen Papiers sehr aufmerksam lesen. Und sich selbstkritisch ein paar Fragen stellen. So wenig ich mich als Journalist zum Richter machen kann in medizinischen Fragen – so eindeutig scheint mir doch, dass der so auffallend häufig in Politik und Medien beschworene Konsens der Wissenschaft in Wirklichkeit gar kein solcher ist. Im Gegenteil: Es muss ziemlich viel Dissens geben, wenn so massiv und mit teilweise so manipulativen Mitteln versucht wird, abweichende Meinungen zu unterdrücken.
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