Aktualisierung: Das Papier sorgte mittlerweile für heftige Diskussionen, in einzelnen Punkten räumten die Autoren Fehler ein. Details dazu finden Sie in diesem Bericht von Thomas Maul auf meiner Seite (Nebelkerzen gegen die Aufklärung des Intensivbettenschwindels).
Die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen war seit Beginn der Corona-Krise immer das wichtigste Argument für die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und dann den Lockdown. Nun legt ein Forscherteam um Matthias Schrappe ein Papier vor, das die Sprengkraft einer Bombe enthält. Zu lesen ist darüber nur in der „Welt“. Aber auch dort nur hinter einer Zahlschranke – obwohl es maximale Aufmerksamkeit verdient hätte. Der Arzt und Ökonom erklärt, dass er Zweifel daran habe, dass hier „redlich gespielt“ wurde.
Schrappe ist kein Irgendwer. Er ist Gesundheitsökonom und war von 2007 bis 2011 Vize-Chef des Sachverständigenrates Gesundheit. Inzwischen gilt er als einer der angesehenen Spezialisten, die durchaus auch kritische Töne an der Corona-Politik der Bundes- und Landesregierungen wagen. Auch wenn das in Deutschland 2021 mit hohen Risiken für das Ansehen verbunden ist. Sein neues Papier (siehe hier) veröffentlicht er am heutigen Sonntag gemeinsam mit neun anderen Wissenschaftlern. Es lässt bei nüchterner Betrachtung eigentlich nur einen Schluss zu: Dass es Manipulationen gab in den offiziellen Statistiken, gepaart mit Subventionsbetrug sowie einer zweifelhaften Verwendung von Fördermitteln.
„Eine fachliche Fundierung der offiziellen Kampagne und der Interventionen einiger Fachgesellschaften, die auf der individuellen Angst vor nicht möglicher Aufnahme auf Intensivstation basiert, kann daher nicht abgeleitet werden“, heißt es in dem Papier. Und weiter: „Sowohl in Bezug auf das Verhältnis von Intensivpflichtigkeit und Melderate (Intensiv-Melderaten-Quotient), als auch in Bezug auf das Verhältnis von intensivpflichtigen zu hospitalisierten Patienten (Quotient Intensivpflichtigkeit/Hospitalisierung) nimmt Deutschland eine Sonderstellung ein: in keinem Land werden im Vergleich zur Melderate so viele Infizierte intensivmedizinisch behandelt, und in keinem Land werden so viele hospitalisierte Infizierte auf der Intensivstation behandelt. Diese Situation nimmt im Zeitverlauf sogar zu und bedarf dringend einer genaueren Untersuchung (drohende Überversorgung). Die Datengrundlage ist auch hier äußerst widersprüchlich (z.B. mehr intensivpflichtige als hospitalisierte Patienten).“
„Die Zahl der Intensivbetten nimmt seit Sommer letzten Jahres ab, obwohl angesichts der „Triage“-Diskussion Anstrengungen zur Ausweitung der Intensivbettenkapazität zu erwarten gewesen wären“, so das Urteil der Experten: „Diese Abnahme entspricht genau der Abnahme an freien Betten, sodass der Abfall der freien Betten eher als Folge einer Abnahme der Gesamtkapazität denn als eine Folge einer vermehrten Inanspruchnahme durch Covid-19-Patienten zu interpretieren ist. Es hat eine rückwirkende „Korrektur“ der Intensivkapazitäten stattgefunden, die nicht mit der veränderten Zählweise zusammenhängt. Die Zahl der belegten Intensivbetten hat sich nicht verändert. Fragen zur Finanzierung, zur Bedeutung des Krankenhausplans und zu Freihalteprämien sowie deren Anreizwirkung bleiben offen.“
Datenlage nicht belastbar
Zugespitzt bedeutet das: Der vermeintliche Mangel an Intensivbetten kam dadurch zustande, dass einfach die freien Betten abgebaut wurden – und nicht durch die vermehrte Einlieferung von Covid-19-Patienten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat auf meine Nachfrage in der Bundespressekonferenz darauf verwiesen, das Problem sei der Mangel an Pflegekräften. Aber auch das lassen die Experten so nicht gelten. Sie schreiben: „Die objektive Datenlage bezüglich der zur Verfügung stehenden Anzahl von Pflegekräften ist nicht belastbar. Es fehlen Institutionen, die zu diesem Thema unabhängige Informationen generieren. Eine Abnahme der aktiv tätigen Pflegekräfte lässt sich statistisch nicht nachweisen. Aktuelle Daten der Bundesagentur für Arbeit sprechen sogar für eine deutliche Zunahme der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Bereich, allerdings entspricht nach Insiderinformationen die fachliche Qualifikation nicht in jedem Fall den Anforderungen. Öffentlichkeitswirksame und nachhaltig verfolgte Appelle der politisch Verantwortlichen zur Rückgewinnung von Pflegekräften aus dem Ruhestand, zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit oder zur Qualifikation von Pflegepersonal aus anderen Bereichen haben nicht stattgefunden, obwohl solche Programme eigentlich die naheliegendsten Maßnahmen gewesen wären. Solche Appelle hätten auch ohne Umstände Anreize finanzieller oder immaterieller Natur beinhalten können.“
„Laut Bundesagentur für Arbeit hat im Jahr 2020 (bis Oktober) die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege um 43.000 Kräfte zugenommen. Der Anstieg war zweistellig“, heißt es in dem Papier: „Die Zahl der beschäftigten Kranken- und Altenpfleger hat um 14 Prozent zugelegt (auf 1,11 Mio. bzw. 615.000). Nichtsdestotrotz ist die ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal, insbesondere in der (Intensiv- und Alten-)Pflege, seit Jahren Diskussionsthema. Versprochene, reduzierte und am Ende mitunter dann doch nicht ausgezahlte Boni sind da sicher nicht hilfreich.“
Zwar sei es „zu Engpässen, zu Ballungen in einigen Kliniken“ gekommen, so Schrappe in der Welt, „weil die Covid-Patienten nicht gleichmäßig verteilt worden waren über die Krankenhäuser. Aber war die Drohung begründet, wonach es jedem blühen könnte, zu Hause oder vor der Notaufnahmen zu ersticken, wenn wir nicht gegensteuern? Wir haben uns die Zahlen angesehen und sind zu dem Schluss gekommen: Es war nicht begründet. Im Gegenteil. Es gab in den Krankenhäusern offensichtlich die Tendenz, Patienten ohne Not auf die Intensivstation zu verlegen – während der Pandemie.“ Die Zahlen in dem Papier zeigen, dass gemessen an der Sieben-Tage-Melderate nirgendwo sonst auf der Welt so viele Covid-Kranke auf Intensivstation behandelt worden sind, wie in Deutschland. Hinzu komme, so Schrappe: „Ende April 2021 wurden 61 Prozent der Covid-Patienten in Krankenhäusern auf Intensivstationen behandelt. In der Schweiz waren es nur 25 Prozent, in Italien elf Prozent. Auch da sind wir weltweit die Nummer eins.“
‘Nicht in Einklang zu bringen‘
Das führt zu Fragen, so der frühere Vize-Chef des Sachverständigenrates Gesundheit: „Erkranken Bundesbürger schwerer als die übrigen Menschen in Europa? Oder könnte es sein, dass manche Krankenhäuser sich in Erlösmaximierung versuchen? Oder ist es für manche Krankenhäuser einfacher, Corona-Patienten sofort auf die Intensivstation zu bringen, obwohl sie noch nicht intensivmedizinisch betreut werden müssen? Die Zahlen sind auffällig, und sie werfen Fragen auf.“ Intensivbetten bringen höhere Erlöse als Normalbetten: „Ein Patient auf der Intensivstation muss auch nicht zwingend ans Beatmungsgerät. Klar ist nur: Es gibt Zweifel an einem zielgerichteten, adäquaten Einsatz unserer Ressourcen. Es gibt sogar einzelne Tage, an denen offiziell mehr Patienten auf Intensivstationen lagen, als überhaupt hospitalisiert waren. Mit dem Satz ‘Wir laufen voll‘ lässt sich das nicht in Einklang bringen.“
Die Angst, die Krankenhäuser könnten es nicht schaffen, habe es tatsächlich gegeben, und sie wurde politisch transportiert, so der Gesundheitsökonom in dem Interview: „Nach unseren Auswertungen kam sie in der Befürchtung, kein Intensivbett mehr zu bekommen, besonders drastisch zur Geltung. Die irrationalen und die kostspieligen Konsequenzen spiegelt das DIVI-Intensivregister.“ Inzwischen stehe aber fest, dass diese Angst vor knappen Intensivkapazitäten oder gar der Triage unbegründet war: „Und es steht weiter fest, dass das vielen Entscheidern während des gesamten Pandemieverlaufs bewusst gewesen sein muss. Die Bundesregierung nahm immerhin eine halbe Milliarde Euro in die Hand, um den Aufbau zusätzlicher Intensivbettenkapazitäten zu finanzieren. Nach unseren Recherchen scheinen diese Betten aber nicht existent zu sein. Sie sind offensichtlich niemals geschaffen worden, oder wurden beantragt, obwohl es keine Pflegekräfte dafür gab.“
Schon das ist schwerer Tobak. Die Vorwürfe des früheren Vize-Chefs des Sachverständigenrates Gesundheit gehen aber noch weiter: „Auch auf den Höhepunkten aller drei Wellen waren nie mehr als 25 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt“, so der Mediziner in dem Interview mit der „Welt“. Deutschland habe weltweit „die längste Liegedauer, die höchste Krankenhausdichte, die höchste Zahl von Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, wir haben mehr als dreimal mehr Intensivbetten als Frankreich mit 7000 Betten. Wir haben zusätzlich 11.000 Betten als Notfallreserve, die wir freilich nie aufgebaut und nie in Betrieb genommen haben. Wir ängstigen uns auf hohem Niveau.“
In Cellophan verpackte Betten
Nach dem Krankenhausentlastungsgesetz wurden für jedes neu aufgestellte Intensivbett 50.000 Euro zur Verfügung gestellt, so Schrappe zur „Welt“: „Auffällig ist, dass diese Betten plötzlich im Oktober von einem Tag auf den anderen vorhanden waren, in den Zahlen gibt es dort eine Stufe. Aber offensichtlich sind es in Cellophan verpackte Betten geblieben, die nicht einsatzfähig und auch später nie eingesetzt worden waren.“
Auch Berichten, wonach immer mehr junge Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren auf den Intensivstationen mit Covid-19 behandelt werden, steht Schrappe skeptisch gegenüber: „Die Zahlen dazu lieferten die Verantwortlichen von RKI und DIVI erst Anfang Mai. Jetzt steht fest: Diese Altersgruppe macht keine drei Prozent aller Covid-Patienten auf Intensivstation aus.“ Weiter sagte Schrappe der „Welt“: „Aber nicht nur die Datenlücken sind problematisch. Es wird auch nicht sorgfältig mit den Zahlen umgegangen. Es sind nicht nur 10.000 Intensivbetten seit Sommer verschwunden, sondern man hat offensichtlich retrospektiv die Zahlen vom letzten Sommer korrigiert. Wenn wir diese Daten mit den heutigen Zahlen im DIVI-Archiv vergleichen, sind da plötzlich nicht mehr in der Spitze knapp 34.000 Betten gemeldet, sondern nur noch rund 30.000. Man hat rückwirkend systematisch eingegriffen, sodass überall 3000 Betten weniger verzeichnet sind. Das ist anrüchig, weil diese Zahlen politische Konsequenzen hatten. Die Betten stehen in Krankenhausbedarfsplänen, und diese Betten werden finanziert.“
Das bittere Fazit des früheren Vize-Chefs des Sachverständigenrates Gesundheit: „Im Rückblick tun sich Fragezeichen auf, ob da redlich gespielt wurde.“
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
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Text: br
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