Mehrmals ist auf dieser Seite von tragischen Selbstmorden berichtet worden, die allem Anschein nach in Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen stehen (siehe etwa hier, hier und hier). Auf meine Nachfrage in der Bundespressekonferenz (BPK) nach aktuellen Suizid-Zahlen in Deutschland teilte das Gesundheitsministerium mit, solche lägen derzeit nicht vor. Wie generell keine Studien zu den negativen Auswirkungen der Maßnahmen vorliegen, wie mir ebenfalls aus der BPK mitgeteilt wurde. Man kann deshalb nur aus einzelnen Nachrichten Schlussfolgerungen ziehen. Wie etwa der, dass die Berliner Feuerwehr im aktuellen Jahr einen massiven Anstieg bei Einsätzen unter dem Einsatzpunkt „Beinahe Strangulierung/ Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden“ zu verzeichnen hatte. Während es 2018 sieben solcher Einsätze und 2019 drei gab, waren es 2020 allein bis Oktober 294 Einsätze. Später erklärte die Feuerwehr die Meldung der eigenen Berliner Regierung zur „Fehlinterpretation“. Und das „Frankfurter Projekt zur Prävention von Suiziden mittels Evidenz-basierter Maßnahmen“ meldet geringere Suizid-Raten in der Main-Metropole für 2020 – aber selbst die Autoren der lokal begrenzten Untersuchung schränken deren Aussagekraft massiv ein (siehe hier).
Es macht deshalb Sinn, ins Ausland zu schauen. Etwa nach Japan. Einer der wenigen Industriestaaten, der seine Selbstmordzahlen zeitnah veröffentlicht – im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik. Wie CNN mitteilte, sind dort im Oktober mehr Menschen durch Selbstmord ums Leben gekommen als im ganzen bisherigen Jahr bis November durch Covid-19. Mehr als 2153 Menschen haben sich auf den Inseln demnach im Oktober umgebracht. So viele wie seit Mai 2015 nicht mehr. Die Nachricht ist bereits einige Wochen alt, doch sie hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Zumal sie in den deutschen Medien verschwiegen wird, wie so viele Nachrichten, die nicht in die vorherrschenden Narrative passen.
Dabei wäre ein Blick nach Japan eine Frage des Verantwortungsbewusstseins. Denn eben wie das Kaiserreich als eines von wenigen Staaten zeitnah die Suzidraten bekannt gibt, könnten „die Zahlen aus Japan anderen Ländern Einblicke geben, wie sich die Pandemie-Maßnahmen auf die psychische Gesundheit der Menschen auswirken, und welche Gruppen am verletzlichsten sind“, so der Befund von CNN. Das macht durchaus Sinn. Umso sträflicher ist das weitgehende Verschweigen der Entwicklung in Japan bei uns (Ausnahme siehe hier).
„Wir hatten nicht einmal einen Lockdown und die Auswirkungen von Covid sind bei uns sehr gering im Vergleich zu anderen Ländern…, aber dennoch sehen wir diesen Anstieg der Selbstmordrate“, sagt Michiko Ueda, Assistenz-Professor an der Waseda Universität in Tokio und Selbstmord-Experte, laut CNN: „Das legt nahe, dass die anderen Länder einen ähnlichen oder sogar größeren Anstieg an Selbstmordraten vor sich haben“.
Japan ist generell ein Land mit einer der höchsten Suizid-Raten weltweit, wie aus den Daten der WHO hervorgeht. 2016 lag die Selbstmord-Rate bei 18.5 von 100.000 Menschen, etwa doppelt so viel wie im weltweiten Durchschnitt (10.6 von 100.000 Menschen). In den letzten zehn Jahren bis einschließlich 2019 ist die Zahl der Selbstmorde in Japan allerdings gesunken, auf zuletzt rund 20.000 im Jahr, der geringsten Zahl seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1978, so CNN. Corona hat diese Entwicklung nun offenbar gedreht, schrieb CNN. Vor allem bei Frauen wächst die Selbstmordrate, obwohl bei ihnen generell die Suizid-Zahlen niedriger sind als bei Männern. Im Oktober stieg die Zahl von Selbstmorden bei Frauen um 83 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Bei Männern stieg die Selbstmordrate im gleichen Zeitraum „nur“ um 22 Prozent an.
Einer der Gründe könnte laut CNN sein, dass Frauen öfter Teilzeitstellen haben im Hotel-, Gastronomie- und Handelssektor, die besonders betroffen sind. Eine weltweite Studie mit mehr als 10.000 Personen der gemeinnützigen Organisation CARE, kam zu dem Ergebnis, dass 27 Prozent der Frauen sich durch die Pandemie vor größeren psychischen Herausforderungen sehen, gegenüber zehn Prozent der Männer. Gründe könnten unter anderen auch die Schließung von Schulen und Kindergärten sein, durch die zusätzliche Belastungen für Frauen entstehen.
Dass all diese Themen in Deutschland weitgehend tabuisiert sind, wirft kein gutes Licht auf die Medien und die Diskussionskultur. Kaum beleuchtet werden auch die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen auf unterentwickelte Länder in Folge des Lockdowns in den Industriestaaten. Hier ist mit einem massiven Anstieg von Armut und Hunger zu rechnen. Kritiker fürchten, die Maßnahmen, die bei uns mit Lebensrettung begründet werden, könnten in der Dritten Welt mehr Menschenleben kosten als sie bei uns retten. Ein bekannter russischer Politiker sagte mir dieser Tage im Telefonat: „Die erste Welt rettet ihre Senioren und dafür muss ein Vielfaches an jungen Menschen in den armen Ländern sterben.“ Ich kann nur hoffen, dass er sich irrt. Aber wir sollten dieses Thema zumindest nicht ausblenden. Schon gar nicht diejenigen, die sonst bei jeder Gelegenheit Rassismus und eine Benachteiligung der armen Länder beklagen.
PS: Ich habe mich in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten – insbesondere, weil eine große gesellschaftliche und politische Relevanz vorhanden ist. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111oder 0800 1110222.
Bild: Cryptographer/Shutterstock
Text: red
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