Von Kai Rebmann
Auf reitschuster.de wurde bisher einmal (!) über den selbst ernannten „Anzeigenhauptmeister“ berichtet. Was streng genommen genau einmal zu viel ist. Das sehen auch viele unserer Leser so, die uns in zahlreichen Zuschriften gefragt haben, weshalb wir diesem Menschen eine so prominente Plattform bieten. Andererseits wäre ein Verschweigen dieses besonders krassen Falls von zwanghafter Denunziation wohl ebenso verkehrt.
Vielmehr stellt sich die Frage, weshalb insbesondere der Mainstream aktuell kein anderes Thema mehr zu kennen scheint. Die „Bild“ berichtet quasi täglich und verkauft gefühlt jedes neue Knöllchen, das auf das Konto des 18-Jährigen geht, als Breaking News. Noch seltsamere Blüten treibt das „RND“, das regelrecht als Anwalt von Niclas M. auftritt.
Kritik am Denunziantentum unerwünscht
Es ist bezeichnend, dass ein einmaliger – und ja, durchaus kritischer – Artikel von Boris Reitschuster ausreicht, um diesem vorzuwerfen, er habe sich auf M. „eingeschossen“ und hege Gewaltfantasien gegen diesen. Das „RND“ schreibt:
„Auch rechte Blogger haben sich auf M. eingeschossen und fantasieren, wie man eigentlich mit dem 18-Jährigen umgehen sollte. In Osteuropa wäre einer wie M. ‚schlecht vorstellbar‘, meint etwa der frühere Russland-Korrespondent Boris Reitschuster in seinem Blog. ‚Dass dort jemand solche Zwänge entwickeln könnte, ist zwar sicher nicht auszuschließen. Aber die Gesellschaft würde das nicht hinnehmen und er würde aller Wahrscheinlichkeit nach derart unter Druck gesetzt, bis hin zu Gewalt oder deren Androhung, dass er seinen Zwang bald nicht mehr ausleben könnte.“
Wie das „RND“ eigentlich korrekt festgestellt hat, handelt es sich hier um eine Meinungsäußerung („meint etwa […] Boris Reitschuster“) – nicht mehr und nicht weniger. Jedoch folgt dieser Absatz im Fließtext unmittelbar auf die Zwischen-Überschrift „Morddrohungen auf Instagram“, wodurch beim Leser wohl sehr bewusst ein gänzlich anderer Eindruck erweckt wird.
Sehnsucht nach der Stasi
Die Frage ist doch, weshalb jemandem wie Niclas M. genau die mediale Aufmerksamkeit geschenkt wird, die dieser sich wünscht – und die er ganz offensichtlich auch braucht. Der Hilfssheriff aus Sachsen-Anhalt träumt offen von einer Rückkehr der Stasi und schmückte sein Profilbild in den sozialen Medien auch schon mit dem Konterfei von Erich Honecker.
Einige glauben, dass es eben diese Sehnsucht eines jungen Mannes nach der Stasi ist – die er ironischerweise nicht selbst erlebt hat –, die ihn zum Liebling des Mainstreams macht. Ganz nach der lateinischen Maxime „Divide et impera“ („Teile und herrsche“), die im Lauf der Geschichte von Julius Cäsar über Ludwig XI. bis hin zu Napoleon einer ganzen Reihe prominenter Regenten zugeschrieben wurde – und ganz offensichtlich auch heute (wieder) gelten soll.
Eine andere mögliche Antwort auf diese Frage wäre, dass man sich davon genau eine solche Entwicklung erhofft, die jetzt in Neumünster eingetreten ist. Und aus diesem Grund haben wir uns – abermals unter Zurückstellung sicherlich berechtigter Bedenken – dazu entschlossen, über die Folgen des pedantischen Wirkens unseres Mitbürgers aus Gräfenhainichen zu berichten.
Niemand hat die Absicht …
Im Rathaus von Neumünster (Schleswig-Holstein) scheint der „Anzeigenhauptmeister“ bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Via Facebook und Instagram ruft die Verwaltung die Bürger dazu auf, selbstverständlich in feinstem Gender-Sprech, „Falschparker*innen an uns (zu) melden“ und fragt dazu noch: „Steckt nicht in allen von uns ein kleiner Anzeigenhauptmeister?“
Offensichtlich scheint in Neumünster, immerhin 80.000 Einwohner, jeder jeden zu kennen, denn in der vertrauten Duz-Form geht die Aufforderung zur Denunziation von Nachbarn und Freunden weiter: „Als Teil unserer Gemeinschaft könnt ihr jedoch helfen! Wenn ihr einen Verstoß bemerkt, könnt ihr den Sachverhalt in einem Formular auf unserer Website schildern und […] senden, am besten mit Fotos.“
Wenn Honecker und Mielke das noch erleben dürften, wie sich die Gesinnung im Rathaus einer westdeutschen Stadt ganz in ihrem Sinne gewandelt zu haben scheint. Wie weit man auch in Neumünster von der Lebenswirklichkeit der eigenen Bürger entfernt ist, unterstreichen die folgenden Sätze. Auf einen Shitstorm als Folge des öffentlichen Aufrufs zum Petzen angesprochen, will ein Sprecher der Stadt die „Bild“-Leser allen Ernstes glauben machen, dass man von diesen Reaktionen „überrascht“ sei: „Das Angebot eines Meldeportals haben wir seit zehn Jahren, und wir bewerben regelmäßig die Angebote unseres Ordnungsdienstes in den sozialen Netzwerken.“
Wer soll hier für dumm verkauft und wem dieses doch sehr spezielle „Angebot unseres Ordnungsdienstes“ schmackhaft gemacht werden? Inzwischen musste selbst die Stadt Neumünster einsehen, dass sowohl die zeitliche Nähe zur Medien-Kampagne als auch die direkte Bezugnahme auf den „Anzeigenhauptmeister“ allzu offensichtlich ist bzw. war. Denn eben dieser Hinweis wurde nachträglich wieder aus dem Post entfernt.
Oberbürgermeister Tobias Bergmann (SPD) versteht die ganze Aufregung ohnehin nicht. Gegenüber den „Kieler Nachrichten“ behauptet der Rathaus-Chef doch glatt: „Keineswegs möchte die Stadt dazu animieren, dass sich ihre Bürger gegenseitig überwachen und anschwärzen.“
Auch dieser Satz atmet mit jedem Buchstaben den Geist der DDR, denn genau das, wovon der OB jetzt nichts mehr wissen will, wurde in Neumünster ganz offensichtlich gemacht. Ebenso gut hätte Bergmann seinen Satz so beginnen können: „Niemand hat die Absicht …“
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