Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Nein, es war kein Softwarefehler.
„Wat is en Dampfmaschin?“, fragt der berühmte Professor Bömmel mit deutlich rheinischem Akzent im nicht minder berühmten Film „Die Feuerzangenbowle“. „Da stelle mer uns mal janz dumm und sagen: En Dampfmaschin, dat is ene jroße, runde, schwarze Raum. Und de jroße, runde, schwarze Raum, der hat zwei Löcher. Dat ene Loch, da kömmt der Dampfe rein, und dat andere Loch, dat krieje mer später.“ Damit dürfte er das inhaltliche Niveau manch einer Berliner Schule und sicher auch des Podcasts von Christian Drosten während der sonderbaren PCR-Pandemie einigermaßen überschritten haben.
Vor allem aber hat er ein Muster für eine wichtige Frage geliefert: „Wat is en Softwarefehler?“ Oder auf Hochdeutsch: Was ist ein Softwarefehler? Das ist nicht so schwer zu beantworten wie die Frage nach der Dampfmaschine, denn ein Softwarefehler liegt dann vor, wenn die verwendete Software fehlerhaft ist, also nicht das leistet, was sie sollte. Verwendet ein Computerprogramm beispielsweise eine mathematische Formel, um etwas auszurechnen, und wird diese Formel falsch einprogrammiert, so wird das Programm fehlerhafte und deshalb untaugliche Ergebnisse liefern. Solche Fehler sind lästig und können je nach Anwendung zu teuren oder auch tragischen Folgen führen – ganz vermeiden kann man sie nicht.
Nun wurde am Sonntag der sächsische Landtag neu gewählt. Noch in der Wahlnacht hat man das vorläufige amtliche Endergebnis der Wahl verkündet, einschließlich der daraus resultierenden Sitzverteilung, doch tags darauf hat der Landeswahlleiter „das vorläufige Endergebnis der Landtagswahl korrigiert. Demnach sei wegen eines Softwarefehlers eine falsche Sitzzuteilung veröffentlicht worden, hieß es in einer Pressemitteilung am Montagvormittag.“ SPD und Grüne erhielten jeweils einen Parlamentssitz mehr, CDU und AfD dagegen jeweils einen weniger. Für die AfD war das unschön, weil sie nur noch 40 statt 41 Sitze für sich beanspruchen konnte und damit ihre Sperrminorität verlor: „Wer über mehr als ein Drittel der Parlamentssitze verfügt, kann bestimmte Entscheidungen blockieren, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig ist.“ Und diese Sperrminorität lag nun einmal bei 41, denn ein Drittel der zu vergebenden 120 Sitze besteht aus genau 40 Sitzen.
Billige Ausrede
Kein Wunder, dass mancher vermutet hat, irgendjemand habe die Existenz einer AfD-Sperrminorität als unverzeihlich betrachtet und gefordert, sie sofort rückgängig zu machen. In Anbetracht des Demokratieverständnisses unserer regierungsamtlichen Würdenträger wäre das problemlos vorstellbar. Doch der Landeswahlleiter spricht von einem „Softwarefehler“, also einem Fehler in der Programmierung. Das stimmt nicht. Um Wählerstimmen in Mandatszahlen umzurechnen, braucht man ein Rechenverfahren, und es kann sein, dass verschiedene Verfahren zu leicht unterschiedlichen Ergebnissen führen. Früher hat man das altehrwürdige D’Hondt-Verfahren oder auch die Methode von Hare/Niemeyer benutzt, in Sachsen sogar noch 2019, bei der diesjährigen Sachsenwahl sollte das Verfahren nach Sainte-Laguë zum Zuge kommen; So steht es im Wahlgesetz. Aber so war es nicht. Allem Anschein nach hat man ein Programm, das Mandate nach D’Hondt ausrechnet, mit den Wahlergebnissen versorgt und dann freudig und sorglos die Sitzverteilung veröffentlicht. Die Software dürfte dabei tadellos funktioniert haben, aber das nützt nichts, wenn man das falsche Verfahren anwendet, auch wenn es korrekt programmiert ist. Wer ein „Wiener Schnitzel“ bestellt, erwartet ein Schnitzel aus Kalbfleisch. Erhält er dagegen ein einwandfrei aus Schweinefleisch zubereitetes „Schnitzel Wiener Art“, dann ist das kein Zubereitungsfehler, sondern schlicht das falsche Schnitzel, und man kann weder den Koch noch das Rezept dafür verantwortlich machen.
Die Rede von einem Softwarefehler ist somit nur eine billige Ausrede, um das Problem auf ein anonymes Programm oder gar einen kaum weniger anonymen Programmierer schieben zu können. In Wahrheit war es Schlamperei. Doch wenn nun schon die schlafenden Hunde geweckt sind und der Verdacht im Raum steht, es könnte sich um Wahlmanipulation handeln, sollte man vielleicht einen genaueren Blick auf das – spät, aber doch noch nicht zu spät – zur Anwendung gekommene Verfahren nach Sainte-Laguë werfen. Es genießt den Ruf, zu gerechteren Ergebnissen zu führen als die beiden älteren Methoden, obwohl kein Verfahren der Welt ganz gerecht sein kann, wie sich gleich zeigen wird.
Zunächst will ich einen Blick auf das Zuteilungsproblem werfen, nicht abstrakt-allgemein, sondern anhand der sächsischen Wahlergebnisse. 120 Sitze sind im Landtag zu vergeben. Um sich an der Verteilung der sogenannten Listenstimmen beteiligen zu dürfen, muss man die 5%-Hürde gemeistert oder mindestens zwei Direktmandate errungen haben, denn in diesem Fall werden auch Wählerstimmen in Höhe von weniger als 5 % der insgesamt abgegebenen Stimmen vollständig berücksichtigt. Das war bei der Linkspartei der Fall: Die umbenannte SED wurde von 4,5 % der Wähler mit ihrer Stimme bedacht, kam aber zu genau den zwei Direktmandaten, mit deren Hilfe die 5%-Klausel außer Kraft gesetzt wird, weshalb die 4,5 % Linksstimmen nicht wegfallen, sondern gezählt werden. Ein weiteres Direktmandat erhielt ein Kandidat der Freien Wähler, allerdings nur eines. Das darf er behalten, aber weitere Mandate für die Freien Wähler kamen nicht hinzu. Damit sind nur noch 119 Sitze unter den anderen Parteien zu verteilen.
Relevant für die Sitzverteilung sind CDU, AfD, Linke, Grüne, SPD und BSW. Ihre Stimmenzahlen sind im Folgenden zu bewundern.
Gezählte Wählerstimmen | ||||||
Parteien | CDU | AfD | Linke | Grüne | SPD | BSW |
Stimmen | 749.216 | 719.274 | 104.888 | 119.964 | 172.002 | 277.173 |
In der Summe geht es also um 2.142.517 für die Sitzverteilung bedeutsame Wählerstimmen, alle anderen spielen keine Rolle und werden nicht berücksichtigt. Nun lautet beispielsweise der Anteil der CDU an diesen Stimmen genau 749.216/2.142.517, womit ihr – rein rechnerisch betrachtet – exakt 749.216/2.142.517*119 = 41,61 Mandate zustehen, denn 119 Mandate sind noch zu vergeben. Rechnet man das für alle Beteiligten aus, so findet man die folgenden theoretischen Mandatszahlen.
Mandate | ||||||
Parteien | CDU | AfD | Linke | Grüne | SPD | BSW |
Mandate | 41,61 | 39,95 | 5,83 | 6,66 | 9,55 | 15,39 |
Das Problem ist deutlich zu sehen. Es dürfte nicht ganz leicht sein, 41,61 Mandate zu besetzen, von 9,55 oder 15,39 Mandaten ganz zu schweigen. In irgendeiner Weise muss man ganzzahlige Werte finden, und die Art, wie man sie findet, ist eben das gewählte Verfahren zur Berechnung der Mandate. Die einfachste Idee wäre sicher, nach den üblichen Rundungsregeln zu runden: Ist die erste Stelle nach dem Komma 5 oder größer, wird aufgerundet, ist sie kleiner als 5, rundet man ab. Aber das kann zu Problemen führen, wie man hier sieht.
Mandate | ||||||
Parteien | CDU | AfD | Linke | Grüne | SPD | BSW |
Mandate | 42 | 40 | 6 | 7 | 10 | 15 |
Ich habe genauso gerundet, wie es sich gehört, und mir dabei eine Gesamtzahl von 120 Sitzen eingehandelt. Leider habe ich nur 119 zur Verfügung, denn einer ging schon an den erfolgreichen Kandidaten der Freien Wähler. Einer der Parteien muss man deshalb einen Sitz wegnehmen, und wie man diese Partei findet, das regelt eben das Verfahren zur Mandatszuteilung.
Es gibt mehrere Methoden, das Verfahren nach Sainte-Laguë in die Praxis umzusetzen; sie unterscheiden sich in den Rechenschritten, aber nicht im Ergebnis. In Sachsen hat man sich gesetzlich für eine bestimmte Methode entschieden. Im sächsischen Wahlgesetz heißt es in § 6, Absatz 3: „Die nach Absatz 2 verbleibenden Sitze werden auf die gemäß Absatz 1 berücksichtigungsfähigen Parteien nach dem Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë verteilt: Es werden die für jede Landesliste einer Partei insgesamt abgegebenen Listenstimmen zusammengezählt und die Gesamtstimmenzahl einer jeden Landesliste nacheinander solange durch 0,5, 1,5, 2,5, 3,5 und so weiter geteilt, bis so viele Höchstzahlen ermittelt sind, wie Sitze zu vergeben sind. Jeder Landesliste wird dabei der Reihe nach so oft ein Mandat angerechnet, als sie jeweils die höchste Teilungszahl aufweist.“
Das klingt auf den ersten Blick vermutlich nicht unmittelbar einleuchtend. Dass dieses Verfahren funktioniert, haben Statistiker und Mathematiker schon vor mehr als 100 Jahren bewiesen, ich werde das nicht in Zweifel stellen. Hier will ich nur zeigen, wie die Rechnung durchzuführen ist, und feststellen, ob die inzwischen errechnete Sitzverteilung im sächsischen Landtag korrekt ist. Ich werde dabei nicht die gesamte Rechnung vorführen, das würde die Anzahl der Leser recht schnell gegen Null gehen lassen. Die folgende Tabelle zeigt die ersten Schritte der Rechnung.
Gezählte Wählerstimmen | ||||||
Parteien | CDU | AfD | Linke | Grüne | SPD | BSW |
Stimmen | 749.216 | 719.274 | 104.888 | 119.964 | 172.002 | 277.173 |
Stimmen/0,5 | 1.498.432,00 | 1.438.548,00 | 209.776,00 | 239.928,00 | 344.004,00 | 554.346,00 |
Stimmen/1,5 | 499.477,33 | 479.516,00 | 69.925,33 | 79.976,00 | 114.668,00 | 184.782,00 |
Stimmen/2,5 | 299.686,40 | 287.709,60 | 41.955,20 | 47.985,60 | 68.800,80 | 110.869,20 |
Stimmen/3,5 | 214.061,71 | 205.506,86 | 29.968,00 | 34.275,43 | 49.143,43 | 79.192,29 |
Zuerst werden in der dritten Zeile wieder die Stimmenzahlen aufgelistet. In den nachfolgenden Zeilen werden dann diese Stimmenzahlen erst durch 0,5, dann durch 1,5, durch 2,5 und durch 3,5 geteilt. Für die AfD zeigt beispielweise der Taschenrechner, dass 719.274/3,5=205.506,86 ist, und genau dieser Wert findet sich in der letzten Zeile der AfD-Spalte.
Um die Verteilung vollständig zu berechnen, muss man diese Tabelle noch deutlich weiterführen, also noch durch 4,5 und 5,5 und so weiter dividieren. Warum? Jetzt erst beginnt das Zählen. Hat man nämlich die Tabelle in einem hinreichend großen Maß berechnet, sucht man einfach stets nach den größten vorkommenden Zahlen unter den Divisionsergebnissen. In der kleinen Teiltabelle ist zu erkennen, dass das größte Divisionsergebnis 1.498.432 ist, und diese Zahl schmückt die CDU-Spalte: Also erhält die CDU das erste Mandat. Die zweitgrößte Zahl ist dann die 1.438.548 aus der AfD-Spalte, weshalb das zweite Mandat an die AfD geht. Den Millionenbereich haben wir damit verlassen, über das dritte zu vergebende Mandat kann sich das BSW mit einem Divisionsergebnis von 554.346 freuen, denn eine größere Zahl findet sich nicht mehr in der Tabelle der Divisionsergebnisse. Die nächsten fünf Mandate gehören zu den Ergebnissen 499.477,33, dann 479.516, weiterhin 344.004, 299.686,40 und 287.709,60, die sich alle in den Spalten von CDU, AfD und SPD auffinden lassen. Bisher haben wir also jeweils drei Sitze für CDU und AfD gefunden, dazu einen für das BSW und einen für die SPD. Wer möchte, kann sich gerne davon überzeugen, dass die nächste passende Zahl die 239.928 ist, die man bei den Grünen findet, sodass das neunte Mandat den Grünen gehört, so leid mir das auch tun mag.
Es ist also nichts weiter als das Aufstellen einer langen Tabelle – sie hört zur vollständigen Berechnung erst nach der Division durch 41,5 auf – und das anschließende Sortieren der Divisionsergebnisse nach der Größe, wobei man notieren muss, in welcher Parteispalte sich das nächste passende Ergebnis findet. Das macht man so lange, bis die nötigen 119 Mandate verteilt sind. Und dabei stellt sich heraus: Die CDU erhält tatsächlich 41 Sitze, die AfD 40, das BSW 15, die SPD 10, die Grünen 7 und die Linke 6. Die korrigierte Sitzverteilung ist korrekt, zumindest bei dieser Berechnung wurde nichts manipuliert. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass das nichts über die Korrektheit der eigentlichen Stimmenauszählung sagt, insbesondere der Briefwahlstimmen.
Weder Softwarefehler noch Manipulation
Ich darf also festhalten: Die Korrektur der Sitzverteilung und der damit verbundene Verlust der Sperrminorität der AfD beruhte weder auf einem Softwarefehler noch auf einer Manipulation, sondern auf einer – allerdings kaum verständlichen – Schlamperei. Kaum hat man das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren angewendet, war die Anwendung korrekt, die Anzahl der jeweiligen Mandate wurde zutreffend berechnet. Dass sie vorher geschludert hatten, hat man bei der Landeswahlleitung nicht bemerkt. „Zuerst hatten Experten der Website wahlrecht.de auf Unstimmigkeiten hingewiesen, die Landeswahlleitung überprüfte dann das Ergebnis.“ Die Ergebnisse gleich zu überprüfen, kam wohl niemandem bei der Wahlleitung in den Sinn.
Ist das überraschend? Nein. Wir haben eine Bundesregierung, die von Regierungshandwerk oder gar Staatskunst so viel versteht wie Annalena Baerbock von Diplomatie, Robert Habeck von Wirtschaft, Nancy Faeser von der Verfassung und Olaf Scholz von Gedächtnistraining. Wir haben ein Robert Koch-Institut, das zur Zeit der sonderbaren PCR-Pandemie nicht in der Lage war, brauchbare Daten zu erheben und die Bevölkerung zuverlässig zu informieren. Wir haben eine Deutsche Bahn, die ihre Fahrpläne nicht mehr berechnet, sondern schätzt. Beispiele von Unfähigkeit gibt es viele; überraschend ist es schon lange nicht mehr, wenn etwas schiefläuft – im Gegenteil: Man wundert sich über alles, was in Deutschland noch funktioniert.
In Thomas Bernhards Stück „Der Schein trügt“ findet man die Worte:
„Wir dürfen uns nicht umwerfen lassen
gerade jetzt nicht
in dieser scheußlichen Zeit
Vielleicht ist sie gar nicht so scheußlich
Auf die Virtuosität kommt es an
auf den Charakter
Wenn wir uns zum Narren machen lassen
sind wir verloren“
Umwerfen lassen dürfen wir uns nicht, gerade nicht von diesen Leuten, die alles daransetzen, das Land zu ruinieren und alles in der gleichen Unfähigkeit erstarren zu lassen, die sie selbst auszeichnet. Scheußlich ist sie allerdings schon, diese Zeit, und umso mehr kommt es auf den eigenen Charakter an, auch ein wenig auf die Virtuosität, denn dem Irrsinn auszuweichen, erfordert schon etwas virtuoses Verhalten.
Und wenn wir uns von den Machthabern und ihren Zuträgern zum Narren machen lassen, dann sind wir wirklich verloren.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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