Ein Gastbeitrag von Sören Padel (Västerbotten, Schweden)
Wir hatten bereits vor drei Jahrzehnten eine Periode in Deutschland, in der jeder zweite Gedanke zur politischen Lage im Lande mit dem Wort „Wahnsinn“ akkompagniert wurde. Die Mauer ist gefallen – Wahnsinn, die SED gibt ihr Machtmonopol auf – Wahnsinn, die DDR verschwindet – Wahnsinn. Wir hatten fast vergessen, was das Wort eigentlich bedeutet, so besoffen waren die meisten vor Freude und unendlichem Optimismus, ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können, frei von ideologischer Bevormundung und Eingesperrtsein. Wahnsinn.
Zweiunddreißig Jahre später, die Hälfte davon unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, einer ehemaligen SED-Blockflöte und bekennenden Bürgerrechtsaktivisten-Skeptikerin, ist das Wort wieder da, wo es sprachlich seinen Ursprung hat, und daher wieder geeignet, den politischen Zustand des Landes prägnant zusammenzufassen. Wer so wie ich die DDR noch bewusst und reflektiert miterlebt hat, kommt nicht umhin, täglich mehr Parallelen zu entdecken und sich zu fragen, wie es so weit kommen konnte. Dabei hilft es ein wenig, die Dinge mit Abstand betrachten zu können.
Es hat Vor- und Nachteile, in einer fremden Kultur zu leben. Einerseits ist man nicht mit allen Feinheiten des Gastlandes vertraut, hat auch viele Informationen zum Geschehen im eigenen Land nur aus der Ferne. Andererseits hat man gerade deshalb einen geschärften Blick für Ungereimtheiten und Widersprüche. Man befindet sich schlicht und ergreifend in keiner Blase. Wer auch nur mal länger als ein halbes Jahr in Berlin gelebt hat, weiß wovon ich rede, wenn miefiger Provinzialismus und permanente Selbstbefruchtung den Diskurs dominieren und beim Tanz im Kreis jede Idee von außerhalb als Gefahr wahrgenommen wird, mit entsprechend radikalen und ignoranten Reaktionsmustern.
Nun ist es keinesfalls so, dass man längere Zeit in Schweden leben kann, ohne mitzubekommen, was hier alles nicht ist, wie es uns jahrzehntelang medial eingeimpft wurde. Die Schweden machen ganz einfach keine Anstalten, die besseren Menschen zu werden und eine gesellschaftliche Utopie zu verwirklichen. Warum sollten sie auch. Aus der deutschen Perspektive vor 2015 ist Schweden kein Land, das sich hinsichtlich rechts- und sozialstaatlicher Normen mit Deutschland messen kann. Vieles im Alltag ist dysfunktional (man versuche nur, sich ein Paket aus Deutschland schicken zu lassen), es gibt keine Kultur des Hinterfragens und gar der Konsequenzenabwägung. Auch ist die kulturelle Dominanz aus Übersee erdrückend, das Desinteresse für europäische Kultur befremdlich. Was die Haltung zu Bargeld oder Datenschutz sowie die ungebrochene Technik- und Fortschrittsgläubigkeit angeht, sind die Schweden von einer geradezu unfassbaren Naivität.
Aber all das ist seit spätestens 2020 Klagen auf hohem Niveau. Mit Beginn der Covid-Krise begab sich Schweden in der Tat auf einen Sonderweg, der nach anfänglich hoher Mortalität letztendlich nicht zu schlechteren Ergebnissen führte als beispielsweise in Deutschland. Inzwischen kann man nicht mehr ernsthaft von einem Sonderweg reden, da auch andere Länder ähnliche Wege eingeschlagen haben, mit ähnlichen Resultaten.
Dabei gibt es zwischen Schweden und Deutschland mehr Parallelen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Auch in Schweden ist die mediale Panikmache erheblich, die Auswahl der Meldungen tendenziös, will sagen, permanent im Katastrophenmodus. Auch in Schweden ist jeder positive PCR-Test eine „Erkrankung“, jeder mit oder an C19 Verstorbene ein Corona-Toter, werden „Erkrankungszahlen“ in einer Art statistisch dargestellt, mit der jedes Erstsemester im sozial-medizinischen Proseminar grandios scheitern würde. Auch in Schweden wird der Meinungskorridor immer enger. Auch in Schweden sind die Einschnitte im Alltag spürbar, weil erheblich. Nicht zuletzt ist die Impfgläubigkeit – siehe oben – eher noch größer als in Deutschland, zumal es hier keine Wodargs, Bhakdis oder Arveys gibt, welche die Risiken eines binnen Wochen aus dem Hut gezauberten Vakzins und die Sinnhaftigkeit des Impfens gegen eine Zoonose (mutationsfreudig!) thematisieren würden.
Aber es gibt Unterschiede. Es fängt bei Feinheiten an: In Schweden wurde behördlicherseits von Anfang an von „an und mit Covid-19 Verstorbenen“ geredet (auch wenn die Medien sich schwertaten, diese Wortwahl zu übernehmen). Noch wichtiger ist, dass in Schweden von Anfang an verschiedene Alters- und Risikogruppen untersucht wurden. Daher weiß man, dass Kinder weder ein Risiko haben, schwer zu erkranken noch eine Infektionsgefahr für ihre Mitmenschen darstellen. Daher geht hier der Schulbetrieb weiter, ohne Masken, ohne offene Fenster, mit Schulsport, ohne Panik (s.a. www.corona-schwede.de/schulbetrieb.html). Man hat beispielsweise auch festgestellt, dass die Ansteckungsrisiken in gastronomischen Betrieben und im Handel überschaubar sind. Daher hat man sich statt für Schließungen für eher moderate Maßnahmen entschieden. Ein anderer Unterschied betrifft die Kontakt-Regeln. Die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind noch wesentlich radikaler als in Deutschland, andererseits gibt es keine Beschränkungen für private Treffen. Dass es auch nur sehr bedingt Maskenempfehlungen gibt (für Kinder gar keine), ist Teil des Paketes.
Hier würde auch kein Politiker einem Kind erzählen, dass es schuld an Großmutters Tod sei, wenn es die AHA-Regeln nicht befolgen würde. Die Medien schweigen Andersdenkende tot, würden diese aber nicht als Leugner, Alu-Hüte oder Nationalsozialisten bezeichnen. Und dass die »SÄPO« (Säkerhetspolisen) hier Corona-Maßnahmen-Kritiker überwachen könnte, ist schlicht und ergreifend nicht vorstellbar, genauso wie Hausdurchsuchungen bei Richtern, die missliebige Urteile fällen, oder bei Ärzten, die ihre Arbeit machen und Erkrankten Atteste ausstellen. Ich kann mir auch bei aller Phantasie nicht vorstellen, dass hier ein Demonstrant, der auf dem Sergels Torg, einem Platz in Stockholm, aus der Verfassung vorliest, hinterrücks von der Polizei niedergeknüppelt wird, wie in Sachsen geschehen. All das ist jedoch Deutschland. All das ist Wahnsinn.
Bezeichnend für das neue Deutschland sind die Reaktionen auf #allesdichtmachen. Als gelernter DDR-Bürger hat mich die mediale Reaktion auf diese Videos mehr als nur etwas an die medialen Reaktionen auf die Biermann-Solidarisierungen (nach der Ausbürgerung des Barden) mutiger DDR-„Kulturschaffender“ (auch dieses Wort ist zurückgekehrt) erinnert. Würde ein schwedischer Politiker in ähnlicher Situation Berufsverbote für die Beteiligten fordern, würde das einen Sturm der Entrüstung auslösen.
Ein anderes interessantes Thema ist das Gendern. Obwohl viele Schweden ihr Land als das Saudi-Arabien des Feminismus bezeichnen, würde hier keiner auf die Idee kommen, so etwas wie das Gendern der Bevölkerung von oben aufzwingen zu wollen. Dabei gibt es im Schwedischen sogar zwei Möglichkeiten, das weibliche Geschlecht sprachlich zu markieren. Trotzdem dominiert das generische Geschlecht (ähnlich wie im Deutschen ist hier die maskuline Form überrepräsentiert) und niemand stellt das in Frage. Nein, auch dieser Wahnsinn ist Merkel-Deutsch.
Als Resultat dieser Unterschiede ist das gesellschaftliche Klima in Schweden immer noch ruhiger als in Deutschland. Bei aller Impfbegeisterung, bei aller Panik – hier gibt es keine gewalttätigen »Antifanten«, keine prügelwütigen Polizisten, keine Klabauterbäche, keine aggressiven Masken-Fetischisten, keine Banken, die Oppositionellen die Konten kündigen. All das vermisse ich auch nicht.
Aber ich vermisse das „alte“ Deutschland, das ich wohl zum letzten Mal im August 2020 erlebt habe. Unter anderem auf der Demonstration in Berlin, wo ich erfahren durfte, wie unzählige Menschen friedlich und gemeinsam, dem pöbelnden, gewaltbereiten Mob ruhig und würdig entgegentretend, ihre Meinung demonstriert haben. Ich vermisse die Freiheitsliebe, die Toleranz, das nachhaltige Denken, den menschlichen Respekt. Kurzum, das zukunftsfähige, demokratische Deutschland.
Schaut man auf die Ergebnisse in offiziellen Corona-Statistiken, sieht man, dass zumindest seit August 2020 die Anzahl der Intensivpatienten mit positivem PCR-Test und der An-und-mit-Verstorbenen in Schweden in Relation zur Bevölkerungsgröße sich in etwa auf deutschem Niveau bewegen. Man fragt sich, warum der deutsche Weg, trotz aller erheblichen Kollateralschäden und der ausgeprägten Übergriffigkeit gegen die Zivilbevölkerung – und hier ausdrücklich gegen die Kinder – eine so hohe Akzeptanz erfahren kann. Warum der Zerfall nicht nur demokratischer Errungenschaften, sondern auch zivilisatorischer Grundlagen in Kauf genommen wird, warum gerade linke Kräfte die Interessen der Großkonzerne vor das Gemeinwohl stellen.
Für mich ist das – so aus der Ferne und aus einem völlig anderen Alltag heraus – nur schwer nachvollziehbar. Aber es scheint mir eines zu sein: Wahnsinn.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sören Padel lebt seit einigen Jahren in Schweden, im nördlichen Västerbotten. Er hat an der Hochschule auf Gotland (heute Universität Uppsala, Campus Gotland) Humangeographie und an der Mittuniversität (Sundsvall und Härnösand) Geschichte studiert. Außerdem ist er ausgebildeter Schülerassistent. In Schweden hat er u.a. in der öffentlichen Verwaltung und als Lehrer (Grundschule und Gymnasium) gearbeitet. Darüber hinaus war er als Tourismusunternehmer und Projektentwickler sowie als Übersetzer und Fachbuchautor tätig.
Auf seinem Portal corona-schwede.de betrachtet er die schwedische Strategie zur C-Krise mit deutschen Augen, aber mit gediegener Landeskenntnis, fern vom Elch. Wichtige Fragen sind u.a.: Was unterscheidet Schweden von Deutschland, was ist gut vergleichbar? Was sagen die Behörden? Welche Quellen gibt es? Alle Aussagen sind zu den entsprechenden Quellen verlinkt und ins Deutsche übersetzt, so dass man sie prüfen kann, ohne des Schwedischen mächtig zu sein. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild von der Situation in Schweden!
Bild: Elzbieta Krzysztof/Shutterstock
Text: Gast
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