Ein Gastbeitrag von Markus Lesweng
„Sonderweg“, „Experiment“, „gescheitert“ – wer sich mit der Corona-Krise intensiver beschäftigt, kommt an Schweden genauso wenig vorbei wie an diesen unvermeidlichen Charakterisierungen. Für alle, die es interessiert, möchte ich daher einen unaufgeregten Einblick in das Leben in Schweden bieten, wie es sich wirklich darbietet – aus Sicht eines Deutschen, dem es daheim zu viel wurde.
Mein ungeschönter Eindruck: Obwohl mich nur gut 100 Kilometer vom deutschen Festland trennen, könnte ich mich genauso gut auf einem anderen Planeten befinden.
Die Abwesenheit der Hysterie
Als ich im Januar nach Schweden entflohen bin, erreichte die Hysterie in Deutschland gerade ihren (vorläufigen) Höhepunkt. Umso größer war der Kulturschock nach der Ankunft in Stockholm: Nach zwei Stunden Flug ist man plötzlich, ohne sanften Übergang, aus dem vollverschleierten Söder-Arabien katapultiert in eine Welt, in der sich Menschen wieder wie Menschen verhalten, so, wie man es aus 2019 kennt. Der Schaffner im Flughafenzug kommentiert nicht das Fehlen einer Maske oder das Ticket, sondern begrüßt lächelnd mit einem „Willkommen in Schweden“ – schärfer könnte der Kontrast kaum sein.
Die ersten ein, zwei Tage in der neuen Umgebung sind herausfordernd, wenn auch im positiven Sinne. Meiner persönlichen Erfahrung nach dauert es rund 48 Stunden, um sich zu „deprogrammieren“ und sich die merkwürdigen Verhaltensweisen, die den deutschen Alltag dominieren, wieder abzugewöhnen. Danach kehrt die Lebensfreude zurück.
Die Abwesenheit von Hysterie ist derzeit der frappierendste Unterschied zwischen beiden Ländern. Nicht nur scheinen die Schweden im Umgang mit Corona generell entspannter – durch die Sprachbarriere bin ich zudem der medialen Beeinflussung nicht mehr ausgeliefert. Nach ein paar Tagen ist dann der Wetterbericht wieder interessanter, wichtiger, relevanter als der Rest der Nachrichten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen: Auch in Schweden ist „wenig los“, nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch, weil tiefster Winter herrscht. Auf der Straße tummelt sich vor allem ein junges Publikum.
Statusbericht: Öffnungen ja, Orgien (bislang) nein
Um es vorweg zu nehmen: Ein Aufenthalt im schwedischen Süden, mitten in einem ungewöhnlich knackigen Winter, ist kein klassischer Erholungs- oder Abenteuerurlaub. Doch verglichen mit der Situation daheim gibt es nahezu unzählige Möglichkeiten, sich den Alltag zu versüßen. Kapazitätsbeschränkungen und angepasste Öffnungszeiten hin oder her: Im letzten Monat war ich in mehreren Hotels, dutzenden Cafés und Restaurants, zahllosen Geschäften, mehreren Einkaufszentren, im Kino, im Museum, beim Sport, in der Sauna, zu Besuch in anderen Städten, beim Frisör – und auch bei der Massage bin ich längst ein bekanntes Gesicht („Na, immer noch hier?“). Nicht alles ist offen, aber doch eine ganze Menge; Schließungen betreffen vor allem staatliche Einrichtungen, wie z.B. Museen.
All dies funktioniert ohne Masken, aber unter Einhaltung grundlegender Hygieneregeln, allen voran der Abstandsregel, sowie der Minimierung von Kontakten. Restaurants dürfen derzeit nur vier Leute an einem Tisch bedienen (und Alkohol nur bis acht Uhr abends ausschenken), Geschäfte dürfen pro zehn Quadratmeter nur einen Kunden zulassen und natürlich wird auch Desinfektionsmittel literweise zur Verfügung gestellt. Polizei und Ordnungsamt kontrollieren die Einhaltung dieser Maßnahmen durchaus, aber es geschieht auf eine unaufgeregte Art und Weise. Dass sich die Menschen untereinander anpöbeln oder maßregeln, habe ich im vergangenen Monat kein einziges Mal erlebt. Die Blockwartmentalität scheint ein vorwiegend deutsches Phänomen zu sein.
Die sichtbarste Einschränkung betrifft den Handel mit Alkohol: Alles über 3,5 % Umdrehungen darf in Schweden schon zu guten Zeiten ausschließlich bei der staatlichen Monopolgesellschaft, Systembolaget, verkauft werden, um dem exzessiven Konsum Einhalt zu gebieten. Freitags und samstags reichen die Schlangen vor diesen Spirituosenläden dann gerne einmal um den Block, ein kleines bisschen wie einst in Moskau bei McDonald’s. Der Schwede erträgt es stoisch, selbst wenn der eisige Wind pfeift.
Alternative zur Alternativlosigkeit
Mal wieder in der Buchhandlung zu schmökern oder im nächsten Café zu verweilen, ist sicher nicht das Aufregendste, was ich jemals erlebt habe, doch sind es diese kleinen – eigentlich selbstverständlichen – Freiheiten, die das Leben in Schweden gerade so attraktiv machen.
Aber: Es ist eines, über die Lage in anderen Ländern zu lesen, die Bilder zu sehen oder persönliche Erfahrungsberichte zu hören. An einem sonnigen Samstag durch die Innenstadt Malmös zu flanieren und eine Überdosis Normalität verabreicht zu bekommen, ist jedoch ein anderes Kaliber.
Ich kann nur erahnen, welcher Schlag Menschen diesen Text bis zu dieser Stelle lesen wird. Nichts würde ich daher lieber tun als jeden einzelnen dieser Leser wenigstens für fünf Minuten hierher zu beamen. Ich bin mir sicher, jeder einzelne müsste lachen, schreien oder würde in Tränen ausbrechen – das deutsche Narrativ der Alternativlosigkeit zerschellt hier in Sekunden an der schwedischen Realität.
Lesen Sie morgen hier Teil 2: Freilaufende Kinder
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Markus Lesweng, Baujahr 1985, studierte in seiner Heimatstadt erfolgreich Volkswirtschaftslehre mit den nur scheinbar gegensätzlichen Schwerpunkten Statistik und Prostitution. Nach dem Abschluss verbrachte er den besseren Teil von zwei Jahren mit einer Rundreise durch Australien, Neuseeland und Polynesien. Während dieser Zeit verdiente er seine Brötchen unter anderem als Cowboy, als Ziehvater für verwaiste Kängurus und mit der Zucht australischer Salzwasserkrokodile.
Neben einer zehnjährigen Tätigkeit im Flughafenmanagement veröffentlicht er seit 2014 Reisebücher, darunter „How to Kill Yourself Abroad“, den ironischen Guide zu den gefährlichsten Zielen der Welt.
Bild: Alexanderstock23/Shutterstock
Text: Gast
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