Wenn Ampelparteien aus den Landtagen fliegen, war’s das in Berlin? Optimismus versus Realität: eine düstere Prognose

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Leider muss ich Julian Reichelt widersprechen.

In einem Video der Reihe „Achtung, Reichelt!“ hat der frühere Bild- und heutige Nius-Chefredakteur mit der Ampelkoalition abgerechnet. In dieser Hinsicht hat er meine volle Zustimmung. Doch er geht weiter: Er möchte zeigen, „wie wir, wir alle miteinander, diese Regierung friedlich stürzen können“. Sehen wir also zu, wie er das bewerkstelligen will.

Haushaltslücke zum Kinderbuchproblem

Zunächst verdeutlicht er anhand mehrerer Beispiele das katastrophale Niveau der Bundesregierung. Und ohne Frage können seine Beispiele beeindrucken. Von Habecks „Boah – wie soll ich sagen – is halt so, ne?“, mit dem er die Haushaltslücke zum Kinderbuchproblem macht, über Scholzens Aussage, seine Regierung habe die illegale Migration in den letzten Jahren gesenkt, was man nicht einmal mehr mit der bekannten Vergesslichkeit des Kanzlers entschuldigen kann, bis hin zu weiteren offensichtlichen Fehlinformationen Habecks und selbstverständlich auch Lauterbachs – ich will hier natürlich nicht das böse Wort „Lüge“ verwenden – dokumentiert er, dass man es in der Regierung mit Wahrheit und Redlichkeit nicht übermäßig genau nimmt.

So weit, so unbestreitbar. Doch dann nimmt Reichelt die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ins Visier und äußert eine Prognose: „Meine Prognose ist: Wenn alle drei Ampelparteien aus beiden Landtagen fliegen, in Thüringen und in Sachsen, dann war’s das in Berlin. Dann ist Schluss, dann stürzt diese Regierung, ganz friedlich, wenn die Menschen im Osten eine unmissverständliche Botschaft nach Berlin gesandt haben: Wir sind das Volk, und wir ertragen diese Regierung nicht mehr. … Einmal fröhlich aus dem Fenster ‚Wir sind das Volk’ rufen und zur Wahl gehen – das ganze Land wird es Ihnen danken.“ Und am Ende noch einmal: „Wählt, was ihr wollt, aber bitte wählt diese Regierung ab!“

Zu meinem Bedauern kann ich seinen Optimismus in diesem Punkt nicht teilen. Zwar wäre es mir eine besondere Freude, wenn die drei Parteien des größtmöglichen Unsinns, SPD, Grüne und FDP, vom Wähler aus beiden Landtagen gejagt würden, und sicher liegt das im Bereich des Möglichen. Doch mir den nachfolgenden Rücktritt der Ampelregierung vorzustellen, übersteigt meine Phantasie.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit katastrophalen Niederlagen umzugehen. Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen, marschierte im Juni 1812 in Russland ein, in der Erwartung eines schnellen und sicheren Sieges. Unter enormen Verlusten gelangte er bis Moskau, nur um dort festzustellen, dass man die Stadt in Brand gesteckt hatte und ein Rückzug unvermeidlich war. Von den ursprünglich 600.000 Mann der Grande Armée kehrten bei großzügiger Rechnung 80.000 zurück. Ihr Kaiser, der sie während des Rückzugs nicht begleitet hatte, sondern bequem mit Schlitten und Kutsche nach Paris geeilt war, ließ verlauten: „Die Gesundheit Seiner Majestät war niemals besser.“ Die Niederlage war katastrophal. Zurückgetreten ist er nicht, im Gegenteil. Er machte alles nur noch schlimmer, indem er ein neues Heer aufstellte, um seine Kriege weiterführen zu können.

Im Verlauf des Ostfeldzuges während des Zweiten Weltkriegs erklärte Hitler 1942 Stalingrad „zum Symbol von deutschem Siegeswillen“. Es war völlig aussichtslos, die deutschen Truppen waren eingekesselt, ohne Material und ohne nennenswerte Verpflegung. Das interessierte Hitler nicht, er verlangte, bis zum Heldentod weiterzukämpfen. Anfang Februar 1943 kapitulierten die verbliebenen Truppen dennoch, gegen den Willen ihres obersten Führers. Es war eine vernichtende Niederlage. „Ein Großteil der von der Dimension dieser Niederlage erschütterten Deutschen erkannte den Wendepunkt des Krieges an der Ostfront.“ Zurückgetreten ist Hitler nicht, im Gegenteil. Unmittelbar danach ließ er Goebbels den Totalen Krieg ausrufen, um den Endsieg doch noch zu erreichen. Die Folgen sind bekannt.

Zwei Beispiele des Umgangs mit verheerenden Niederlagen, weitere ließen sich finden. Ich darf nur an Nicolás Maduro erinnern, der sich den Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela gestohlen hat und nun „in stalinistischer Manier … Regimegegner zu jeder Tages- und Nachtzeit von den Schergen des Regimes in ihren Wohnungen“ abholen lässt. Nur am Rande will ich bemerken, dass die neue Lichtgestalt Sahra Wagenknecht „noch 2014 Sympathien für die Regierung von Präsident Maduro geäußert“ und sich klar hinter ihn gestellt hat.

Kurz gesagt: Wer ideologisch verbohrt, von seiner eigenen Großartigkeit und Bedeutung besessen oder von der Macht berauscht ist, wird sich von einer Niederlage nicht unbedingt beeindrucken lassen, und sei sie auch noch so deutlich. Und wer wollte bestreiten, dass diese Kriterien auf die Ampelregierung zutreffen? Ich befürchte daher für den Fall einer totalen Wahlniederlage der Berliner Regierungsparteien bei den Landtagswahlen ein völlig anderes Szenario als Reichelt.

Böse Wähler, gute Politik

Dass sie an etwas Schuld sind, sehen diese Leute nicht; eigene Verantwortung kommt in ihrem Denken nicht vor. Wenn man sie aus dem Landtag verbannt hat, dann kann das nicht an ihrer großartigen Transfomationspolitik gelegen haben, sondern muss auf der geistigen Indolenz der Wähler beruhen, unterstützt von böser rechter Propaganda und Desinformation. Auf keinen Fall handelt es sich bei dem Wahlergebnis um die Quittung für eine von Grund auf verfehlte Politik, denn sie können ja nicht sehen, dass ihre Politik verfehlt ist. Zunächst einmal muss klargestellt werden, dass der eigentliche Wille der Menschen doch ein ganz anderer ist, und dafür gibt es ein probates Mittel: die Straße. In Windeseile wird man Demonstrationen und Aufmärsche gegen „Rechts“ organisiert haben, linke und linksradikale Tagediebe stehen schließlich immer zur Verfügung, von „Omas gegen rechts“ ganz zu schweigen. Parolen wie „Wir bleiben bunt“ wird man skandieren, ohne zu bedenken, dass auch das Blut der niedergestochenen Opfer von Solingen und anderswo mit seiner roten Farbe zum Spektrum des Bunten gehört. Oder die altbewährte Parole „Wir sind mehr“, obwohl man doch gerade schmerzlich am Wahlergebnis erfahren musste, dass „wir“ nicht mehr sind, sondern weniger.

Niemand erwartet, dass solche Aufmärsche gewaltfrei bleiben; der Lehrsatz, Antifa sei Handarbeit, hat auch heute noch seine Gültigkeit. Selbstverständlich werden sogenannte demokratische Politiker die Demonstrationen anführen, weil die Demokratie viel zu wichtig ist, um wegen einer verlorenen Wahl die Macht abzugeben. Eventuelle Gegendemonstrationen wird man unterbinden, das ist man der Demokratie schuldig. Sollte es in Anbetracht der nötigen Verhaftungen zu Engpässen in den Gefängnissen kommen, kann man auf das neue britische Modell zurückgreifen, nach dem man einfach Verbrecher aus den Gefängnissen entlässt, um Platz für Demonstranten gegen die Regierung zu schaffen.

Dabei wird es nicht bleiben. Dass die Wähler sich derart undemokratisch und unsolidarisch verhalten haben, kann nur daran liegen, dass man die eigene Politik nicht gut und ausführlich genug erklärt hat. Die Propagandamaschinerie wird man deshalb verstärken müssen, keine Fernsehsendung darf ohne entsprechende Hinweise auskommen, keine Zeitung darf ohne Lob der Regierung ausgeliefert werden, kein Tag darf vergehen ohne dramatische Warnungen vor dem Klimawandel und vor den Rechtspopulisten, verbunden mit dem Lob uneingeschränkter Migration. Bisher war man dabei viel zu zögerlich.

Die Gründung eines neuen Ministeriums für Aufklärung und Desinformationsverhinderung kann man nicht ausschließen. Schließlich gibt es zu viele angeblich unabhängige Medien, die nichts Besseres zu tun haben, als von früh bis spät das segensreiche Wirken der Regierung zu kritisieren. Die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen haben gezeigt, wohin das führt. Publikationen wie reitschuster.de, Tichys Einblick oder die Achse des Guten – um nur wenige Beispiele zu nennen – müssen scharf kontrolliert, am besten verboten werden. Das hat bisher noch nicht übermäßig gut funktioniert, aber man wird aus den Fehlern beim Verbot des Magazins „Compact“ lernen und sich passende Gesetze über Hass und Hetze ausdenken, die dann vom neuen Ministerium interpretiert und ausgeführt werden. Sollte externe Unterstützung nötig sein, steht Thierry Breton, der EU-Kommissar zur Unterbindung der Meinungsfreiheit, sicher gerne als Berater zur Verfügung.

Um ganz sicher zu gehen, wird man vermutlich erwägen, nicht nur Publikationen zu verbieten, sondern auch die Betreiber und Redakteure zu verhaften. Auch dazu gibt es Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Man muss nicht einmal an Russland denken, ein Blick nach Paris, wo man den Telegram-Gründer Pavel Durov verhaftet hat, weil er der Zensur keinen Vorschub leisten wollte, genügt vollauf. Von Macron lernen, heißt siegen lernen.

Es freut mich nur selten, wenn ich mich irre. In diesem Fall ist es anders. Sollte Julian Reichelt recht behalten, werde ich voller Freude darauf anstoßen. Doch seine Prognose setzt so etwas wie Einsicht, ein wenig Realitätssinn und anständiges Verhalten beim Regierungspersonal voraus.

Darauf würde ich mich nicht verlassen.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Juergen Nowak/Shutterstock

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