Wer (sich) nicht (hinter)fragt, bleibt dumm (Un-)Freiheit an Universitäten

Von Matthias Heitmann

Das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ will der kränkelnden Debattenkultur und der zunehmend beschnittenen Forschungsfreiheit an deutschen Universitäten auf die Sprünge verhelfen. Doch reicht es aus, gegen radikale Zensur-Auswüchse zu protestieren, oder sind diese nicht eher logische Begleiterscheinungen der seit mehr als 25 Jahren betriebenen Bildungsfreiheitsberaubung?

„Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!“ Wer kennt ihn nicht, den Refrain aus dem Sesamstraßenlied? Alles hinterfragen, alles wissen und herausfinden wollen, neugierig sein – das sind seit jeher die Tugenden, die „aufgeweckten Kindern“ zugeschrieben werden. Und die sie, so das Ideal der universitären Bildung, an der Universität in vollster Freiheit entwickeln sollen. Um dies zu ermöglichen, ist die Universität als von der Gesellschaft abgesonderter Raum der Freiheit gedacht worden, als ein Ort, an dem die Gesetzmäßigkeiten der unmittelbaren Verwertbarkeit und praktischen Nützlichkeit, wenn nicht gänzlich aufgehoben, so doch zumindest stark gelockert werden.

Die Universitäten als Hort der Neugierigen und der Querdenker, aber auch der Nerds, Bücherwürmer und Stubenhocker – so etwas muss sich eine Gesellschaft nicht nur leisten können, sie muss es auch wollen. Denn eine solche Institution kann nicht „gewinnbringend wirtschaften“ wie ein Unternehmen, sie muss daher gesellschaftlich gewollt und entsprechend finanziert sein. Dazu bedarf es in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, dass sie selbst aus der Schaffung dieser akademischen und, ja, auch elitären und weltfremden Freiheitsräume einen Nutzen zieht – nicht unbedingt direkt und kurzfristig ökonomisch, aber langfristig und auch hinsichtlich ihres eigenen kulturellen und intellektuellen Horizonts.

Dieses soziale Bewusstsein ist nicht in Stein gemeißelt, denn das Verständnis der akademischen Freiheit und die Toleranz ihr gegenüber verändert sich ständig und hängt entscheidend vom gesellschaftlichen Klima, vom „Zeitgeist“ ab. Eine Gesellschaft, in der persönliche Freiheit und Vertrauen in die Menschen, deren Neugier und deren Wissens- und Lernfähigkeit einen hohen Stellenwert haben, wird vieles dafür tun, dass Universitäten ihrem Ideal der freien Wissenschaft nahekommen. Eine unfreie und autoritäre Gesellschaft wird hingegen gerne Mittel zur Trockenlegung dieser sündigen Sümpfe zur Verfügung stellen.

Unsere Gesellschaft zeichnet sich nicht durch ein gegenseitiges Grundvertrauen der Menschen, durch eine offene Streit- und Debattenkultur oder durch eine besondere Wertschätzung persönlicher Freiheiten aus. Der moderne Zeitgeist schürt Misstrauen gegenüber allem, was als menschlich und menschgemacht gilt: Er fordert strikte Regulierung und eine enge Kontrolle unserer Freiheiten, unseres Handelns und Wirtschaftens, unseres Denkens und Redens, unseres Forschens und Lehrens, unseres Freizeitverhaltens – kurz gesagt: Freiheit ist heute nur als streng abgeschirmtes Freigehege für Exoten und Querulanten vorstellbar. Um die Gesellschaft vor den Gefahren des „Freiheitsmissbrauchs“ zu schützen, müssen diese Zonen möglichst hermetisch abgeriegelt werden.

Die Angst vor Freiheit und vor jenen, die sich ihrer bedienen wollen, ist an Hochschulen und Universitäten mit Händen zu greifen – und das nicht erst seit Corona, auch nicht erst seit zehn Jahren, sondern bereits seit den 1990er-Jahren. Und sie zeigt sich eben nicht nur in krassen Auswüchsen etwa dann, wenn provokante Redner ausgeladen und Veranstaltungen gestört werden – was es früher auch schon gab. Die Wurzeln der Unfreiheit gehen viel tiefer. Wenn Lehrstühle und Professoren Drittmittel von Wirtschaftsunternehmen einwerben müssen, um die universitäre Ausstattung zu sichern, wenn von Hochschulen verlangt wird, Profite zu erwirtschaften um, wie es so schön heißt, der Gesellschaft „etwas zurückzugeben“, sprich, wenn sie „liefern“ sollen, wenn Lehrpläne zusammengestrichen und zunehmend verschult werden, um nützliche Absolventen zu produzieren, wenn Soft Skills und deren Anwendung wichtiger werden als erworbenes Wissen, dann wird deutlich: Die Freiheit der Bildung ist zu einer Freiheit der Bildungsverwertung geworden. Und bei Bildung gilt – auch wenn es manch einer nicht hören mag: Wer auf ihre Verwertung pocht, betreibt aktiv ihre Entwertung.

Der Geist der Unfreiheit, der heute durch die akademischen Elfenbeintürme spukt, die heute eher stromlinienförmig optimierten Akademiker-Brutkästen gleichen, ist aber nicht gewalttätig von außen in funktionierende Bildungsparadiese eingedrungen. Vielmehr kam der Wunsch nach mehr sozialer und ökonomischer Anerkennung aus der akademischen Welt selbst. Man versprach sich dadurch sicherlich auch die Auflösung ideologischer Verkrustungen und Blockaden, denen man auf andere Art nicht beizukommen schien. Die in dieser Sinnkrise von innen heraus betriebene Öffnung hatte dann zur Folge, dass sich die universitäre Bildung nicht nur ökonomischen Standards anglich, sondern sich auch zunehmend gesellschaftlichen Stimmungslagen unterwarf und diese nur allzu bereitwillig in die eigenen Lehrpläne einbaute, um ja nicht als strukturkonservativ zu gelten. Was als modernisierender Ausbruch aus verknöcherten akademischen Ritualen gedacht war, geriet zur endgültigen Aushöhlung universitärer Autonomie und akademischer Standards.

„Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. … Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.“ Diese Zeilen stammen aus dem am 3. Februar 2021 veröffentlichten Manifest des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“. Die Beschreibung ist akkurat und zeigt, wie weit die Öffnung der Universitäten und deren Unterwerfung unter nichtakademische Standards bereits gediehen ist. Es müssen heute nicht mehr nur Drittmittel zur Finanzierung eingeworben, sondern auch moralisch-ideologische Pluspunkte gesammelt werden, um auf dem Campus einigermaßen ungestört agieren zu können.

Auch in dieser Hinsicht wird die Uni immer mehr zum Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn heute Akademiker unter dem Druck der öffentlichen Meinung oder radikaler Moralisten leiden, angefeindet oder gecancelt werden, so ist dies ein entsetzliches Beispiel für das, was passiert, wenn Universitäten sich selbst nicht mehr als entrückte und autonome Leuchttürme, sondern als Verkehrsampeln begreifen. So bitter diese Entwicklung ist: Sie ist logisch und in Teilen selbstverschuldet. Dafür kleine ideologisch und moralisch radikalisierte Gruppen verantwortlich zu machen, geht am Thema vorbei. Auch sollte es nicht primär darum gehen, dass einige ohnehin medial hochpräsente Akademiker böse Briefe bekommen oder gelegentlich ausgeladen werden. Die eigentlichen Opfer der Entwicklung sind die Gesellschaft und die Studierenden von heute und morgen. Sie kommen an Bildungseinrichtungen, in denen Unisex-Toiletten wichtiger sind als Universalismus. Die Einrichtungen sind wissensökonomische Durchlauferhitzer, die ihrem Humankapital häufig vorgefertigte Stundenpläne aushändigen und Elternabende veranstalten, damit die vor lauter Überregulierung und Freiheitsberaubung überforderten „Erstis“ nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, sondern sie sich zielorientiert und frei von Flausen im Kopf durch den Ausbildungsbetrieb schleusen lassen.

Die Hochschullandschaft ist mittlerweile derart eingeebnet worden, dass es eigentlich kaum noch rein universitäre Probleme gibt. Zumindest sind Selbstzensur und verengte Meinungshorizonte keine akademischen Belange, sondern spiegeln die gesellschaftliche Realität wider. Insofern bleibt zu hoffen, dass das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ schnell erkennt, dass Wissenschaftsfreiheit ohne Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit und Kunstfreiheit nicht denkbar ist. Es ist wichtig, sich aus den Ruinen der einstigen Elfenbeintürme herauszutrauen und sowohl Austausch als auch Schulterschluss mit jenen Schmuddelkindern zu suchen, die sich an anderen nicht-akademischen Fronten gegen Bevormundung und Freiheitsberaubung wehren. So wichtig es ist, universitäre Freiheiten gegenüber freiheitsfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft zu verteidigen, so wichtig ist es auch, außerhalb der akademischen Welt Verbündete im Ringen um die Freiheit zu suchen. Nie war es deutlicher als heute: Tatsächlich freie Universitäten gibt es nur in einer Gesellschaft, die Freiheit auch für sich selbst anstrebt.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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© Thomas Kießling, www.lichtrichtung.de

Matthias Heitmann (Jahrgang 1971) ist freier Journalist, Buchautor und Kabarettist. Von ihm sind u.a. erschienen: „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (2015), „Zeitgeisterjagd spezial: Essays gegen enges Denken“ (2017) und „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ (2019). Zudem geistert er als „Zeitgeisterjäger FreiHeitmann“ mit eigenen Soloprogrammen über Kleinkunst- und Kabarettbühnen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Sein Podcast „FreiHeitmanns Befreiungsschlag“ erscheint regelmäßig auf www.reitschuster.de.

 

Bild: Andrew Stripes/Shutterstock
Text: Gast

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