Wie modelliert man wissenschaftlich 3.000 Hitzetote pro Jahr? Anleitung für Medien und den Gesundheitsminister

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Ich wiederhole mich ungern, aber manchmal muss es sein.

Im Juli 2023 hatte ich gezeigt, dass es keinen Anlass zur Panik wegen der kommenden Zahl der sommerlichen Hitzetoten gibt, da erstens die panikerzeugende hitzebedingte Übersterblichkeit ausschließlich auf Modellrechnungen beruht und zweitens ein Vergleich der Sterblichkeitsraten der Winter- und Sommerhalbjahre der letzten Jahre zeigt, dass die Anzahl der Toten im Sommerhalbjahr keineswegs steigt, sondern im Gegenteil die Winterhalbjahre im Hinblick auf die Sterblichkeit eine leicht steigende Tendenz zeigen. Die kalten Monate sind gefährlich, nicht die warmen.

Das ficht den „Focus“ nicht an, irgendeine Schlagzeile braucht der Mensch. Am 30. September fand man dort die Meldung, es seien in diesem Jahr bisher 3100 Menschen „im Zusammenhang mit Hitze gestorben“. Die Formulierung fällt auf, denn auch bei der regelmäßigen Bekanntgabe der Covid-Toten neigte man gern zu der Formulierung, die Menschen seien im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben und nicht etwa an Covid-19, was jeden verstorbenen Herzinfarkt-Patienten mit einem positiven PCR-Test zu einem Covid-Toten beförderte. Und tatsächlich haben sie diese Information vom RKI erhalten, das seit einer Weile Wochenberichte zur hitzebedingten Mortalität veröffentlicht, und der Bericht mit dem Stand vom 17. September enthält die angegebene Zahl von 3100 Hitzetoten. Warum man sich beim „Focus“ nicht noch ein wenig gedulden konnte, da man nach Auskunft des Artikels in der nächsten Woche mit dem letzten Wochenbericht rechnen dürfe und irgendwann im Herbst mit einer zusammenfassenden Bilanz zum Sommer, erschließt sich nicht unbedingt – endgültige Daten wären besser als irgendwelche Erklärungen zwischendurch, aber das muss man beim „Focus“ mit sich selbst ausmachen.

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Es handelt sich allerdings, das weiß man auch beim „Focus“, um eine „geschätzte Anzahl der hitzebedingten Sterbefälle“, worauf ich gleich noch zurückkomme. Wirft man zunächst einen Blick in den RKI-Wochenbericht, so stellt man fest, dass von den geschätzten 3100 Sterbefällen etwa 1800 der Gruppe der mindestens 85-Jährigen entstammen und 860 der nächstjüngeren Altersgruppe zwischen 75 und 84 Jahren, das sind insgesamt mehr als 85%. Die derzeitige durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Deutschland für Frauen bei knapp über 83 Jahren, für Männer bei wenig über 78 Jahren. Es mag sein, dass unter diesen 2660 eher betagten Verstorbenen auch hitzebedingte Todesfälle vorkommen, aber wenn ein 85-Jähriger bei 28 Grad Celsius stirbt, dann ist er zwar tatsächlich im Zusammenhang mit Hitze gestorben, weil es zum Zeitpunkt seines Todes sehr warm war, aber noch lange nicht an der Hitze: Bei Menschen mit einem Alter über der durchschnittlichen Lebenserwartung soll es vorkommen, dass sie auch bei 28 Grad an anderen Krankheiten oder auch an Altersschwäche sterben.

Denn woran diese Toten, ob Senioren oder nicht, gestorben sind, das weiß weder das RKI noch der Focus. „In einigen Fällen“, so verrät uns das RKI, „zum Beispiel beim Hitzeschlag, führt die Hitzeeinwirkung unmittelbar zum Tod, während in den meisten Fällen die Kombination aus Hitzeexposition und bereits bestehenden Vorerkrankungen zum Tod führt. Daher wird Hitze auf dem Totenschein normalerweise nicht als die zugrunde liegende Todesursache angegeben.“ Und genau deswegen weiß man auch nicht, ob die angeblichen Hitzetoten wirklich Hitztote sind oder nur bei Hitze Verstorbene. In den Worten des Focus: „Stattdessen schätze das RKI das Ausmaß hitzebedingter Sterbefälle mit statistischen Methoden ein, in die Lufttemperatur und Sterbedaten einfließen.“

 

Die Prüfung an der Realität

Man schätzt, man verwendet ein Modell, man zählt nicht, weil man gar nicht wüsste, wie man zählen soll, und dieses Modell „kombiniert Mortalitätsdaten des Statistischen Bundesamtes und Temperaturmessungen des Deutschen Wetterdienstes“. Üblicherweise ist ein Modell aber nicht die Realität. Man kann ein Modell, meistens mathematischer Natur, aufstellen, um festzustellen, wie sich die Realität unter diesen oder jenen Voraussetzungen verhalten würde. Dazu braucht man ein theoretisches Gerüst, das den Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsdaten beschreibt, und selbstverständlich auch genau diese Eingangsdaten. Die Ergebnisse des Modells sind daher abhängig von den theoretischen Annahmen, die seinem Algorithmus zugrunde liegen, und von den Werten, mit denen man die Eingangsparameter belegt. Sie entsprechen somit also keineswegs automatisch der Realität, sondern sind zunächst hypothetisch, weshalb man sie dringend an der Realität prüfen muss. Schöne Beispiele für diese Notwendigkeit findet man bei dem bekannten Modellierer Neil Ferguson vom Imperial College in London, der unverdrossen Todeszahlen bei Covid-19-Erkrankungen modelliert hat und ebenso unverdrossen meilenweit neben der Realität lag.

Die Prüfung an der Realität hat man im Falle der Hitzetoten nicht vorgenommen, man hat einfach nur modelliert und geschätzt und das Ergebnis dann für die Realität gehalten. Das Modell wird in der Ärztezeitung beschrieben. Man habe Wirkungskurven erstellt, „die den relativen Einfluss der mittleren Temperatur auf die Mortalität der gleichen Woche und der drei folgenden Wochen quantifizieren“, was aber ein wenig schwierig sein dürfte, eben weil die Modellierer gar nicht die reale Zahl der Hitzetoten kennen, sondern immer nur eine geschätzte, und deshalb auch der quantifizierte Einfluss immer geschätzt ist. Ausgehend von diesen modellierten Kurven habe man einen Temperatur-Schwellenwert identifiziert, „oberhalb dessen die Temperatur relevant auf die Mortalität einwirkt“. Und diese Schwellenwerte finde man bei mittleren Temperaturen von etwa 20 Grad Celsius, weshalb man in solchen Fällen auch von Hitzewochen spreche. Ab einer mittleren Temperatur von etwa 20 Grad hat man eine Hitzewoche, das wusste ich noch nicht. Zieht man nun „die Mortalität, die zu erwarten wäre, wenn die Wochenmitteltemperatur stets unterhalb des Schwellenwerts verbliebe“, von dem „modellierten Mortalitätsverlauf“ ab, so ergibt sich die „hitzebedingte Mortalität“. Noch einmal: Man modelliert sich eine bestimmte Anzahl von Toten in sogenannten Hitzewochen zusammen, bildet die Differenz zur Anzahl der Toten, die bei Werten unter 20 Grad zu erwarten gewesen wären, und findet damit die hitzebedingte Mortalität. Das kann man machen. Nur sollte man danach an die empirischen Daten gehen und beispielsweise durch repräsentative Erhebungen versuchen festzustellen, wie denn wohl die wirkliche Zahl der Hitzetoten ausgesehen haben mag. Das ist unterblieben, das RKI bleibt sich treu, Neil Ferguson lässt grüßen.

Es ist allerdings erstaunlich, wie sehr die Angaben der deutschen Modellierer von den Werten des bekanntermaßen mit ausgesprochen kühlen Sommern gesegneten Spaniens abweichen. Glaubt man der Tagesschau, so hatte man dort im Jahr 2022 gerade 355 Hitzetote zu beklagen und nicht etwa Tausende wie im offenbar heißeren Deutschland. Sollte man dort etwa gezählt haben anstatt zu modellieren? Andere haben sich auch in Spanien mit Modellen befasst und sind zu ganz anderen Ergebnissen gekommen: Mehr als 11000 Hitzetote musste man in Spanien 2022 verzeichnen, und natürlich hat man das durch Einsatz von Computermodellen herausgefunden. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass gelegentlich ein Abgleich zwischen Modellierungen und Empirie nicht schaden kann.

Wir wissen also in Wahrheit nichts oder sehr wenig über die wirklichen Hitzetoten. Aber das schadet nichts, es gab ja einen Hitzeplan, den unser großartiger Bundesgesundheitsminister initiiert hat. Der sah beispielsweise „bundeseinheitliche Empfehlungen für den Hitzeschutz in Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten“ vor, weil es bekanntermaßen im Deutschland der vergangenen Jahre noch nie heiß gewesen ist und kein Pfleger in diesem Land bisher wusste, dass man bei Hitze vielleicht etwas anders vorgehen sollte als bei Kälte. Und man wollte Ärzte dafür gewinnen, „besonders hitzeanfällige Menschen bei Hitzewellen zu warnen – also etwa Kinder, schwangere, ältere oder vorerkrankte Personen“, da es bis zur Einführung des Hitzeplans niemand bemerken konnte, wann es heiß wird. Am schönsten war vielleicht das Plakat, das Lauterbach nach Angaben des ZDF entwickeln ließ, versehen mit sechs Tipps gegen die Hitze: ausreichend Wasser trinken, im Schatten bleiben, leichte Kost essen, die Wohnung kühl halten, Anstrengung vermeiden und auf sich und andere achten. Bei solchen originellen Tipps konnte der Plan nur ein Erfolg werden.

Und genau das musste er auch, wie hätte sonst der Minister dagestanden? Jetzt hat er die Meldungen, die er braucht, um seine geliebten Tweets abzusetzen:

Nur darum geht es, der Minister braucht eine Erfolgsmeldung, weil er sonst keine hat, und der „Focus“ und andere Medien spielen munter mit. Leider ist aber auch schon anderen Leuten aufgefallen, dass es sich wieder einmal um Scharlatanerie handelt, denn direkt unter dem Jubelausbruch findet man die Gegenposition:

Aber so genau will es der Minister der Herzen nicht wissen; er freut sich, wenn er wieder einmal so tun kann, als habe er etwas geleistet.

Es soll Leute geben, die ihm das immer noch glauben.

Unter Beschuss – aber umso wichtiger ist Ihre Unterstützung!  

„Verschwörungsideologe“, „Nazi“ oder „rechter Hetzer“: Als kritischer Journalist muss man sich heute ständig mit Schmutz bewerfen lassen. Besonders aktive dabei: die öffentlich-rechtlichen Sender. Der ARD-Chef-Faktenfinder Gensing verklagte mich schon 2019, der Böhmermann-Sender ZDF verleumdete mich erst kürzlich als „Verbreiter von Verschwörungserzählungen“ – ohne einen einzigen Beleg zu benennen, und in einem Beitrag voller Lügen. Springer-Journalist Garbor Steingardt verleumdete mich im „Focus“, für den ich 16 Jahre lang arbeitete, als „Mitglied einer Armee von Zinn­soldaten“ und einer „medialen Kampf­maschine“ der AfD. Auf Initiative des „Westdeutschen Rundfunks“ wurde ich sogar zur Fahndung ausgeschrieben. Wehrt man sich juristisch, bleibt man auf den Kosten in der Regel selbst sitzen. Umso wichtiger ist Ihre Unterstützung. Auch moralisch. Sie spornt an, weiter zu machen, und nicht aufzugeben. Ich danke Ihnen ganz herzlich dafür, dass Sie mir mit Ihrem Beitrag meine Arbeit ermöglichen – ohne Zwangsgebühren und Steuergelder.
Aktuell sind (wieder) Zuwendungen via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

 

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