Energie statt Raketen – mit Gas zur Großmacht Neue "Gazprom-Liebesgrüße aus Moskau"

„Gazprom will den Betrieb von Nord-Stream-Pipeline nicht garantieren“, titeln die großen deutschen Medien heute fast unisono. „Erstes Anzeichen für Gas-Stopp?“, munkelt die „Bild„. Die Handschrift hinter den „Gazprom-Liebesgrüßen aus Moskau“ ist alles andere als neu. Umso bemerkenswerter ist es, dass viele Journalisten und Politiker in Deutschland überrascht sind, wenn Wladimir Putin Gas als Waffe einsetzt. Denn Putin hat aus seiner Strategie nie einen Hehl gemacht. Schon 1999 beschrieb er sie ganz offen. Hier ein Auszug aus meinem Buch „Putins Demokratur“, in dem schon 2006 klar beschrieben steht, was jetzt so viele überrascht:

Nischni Lars ist ein Paradies, das streng bewacht wird. Wer in das winzige Bergdorf hoch oben im Kaukasus fahren will, sollte seinen Pass immer griffbereit haben: An der alten georgischen Militärstraße, die Russland mit Georgien verbindet, stehen beinahe mehr Milizionäre als Laternen. Schwer bewaffnete Männer mit Kalaschnikows verbarrikadieren sich hinter brusthohen Betonmauern. Das Tal quetscht sich hier eng zwischen die Berghänge auf beiden Seiten. Die Kontrollen an der Grenze etwas weiter oben sind streng, nur vereinzelt überlagert das Geräusch von brummenden Diesel- und krächzenden Lada-Motoren die Stille. Die Lage im christlichen Nordossetien gilt zwar als stabil; doch von hier ist es nicht mehr weit bis ins islamische Inguschetien, das als Rückzugsgebiet tschetschenischer Freischärler gilt.

In der Nacht auf Sonntag, den 22. Januar 2006, reißt um 2.35 Uhr ein gewaltiger Knall die Dorfbewohner aus dem Schlaf. 700 Meter südlich von Nischni Lars ist ein Sprengsatz explodiert. 20 Minuten später durchdringt schon wieder ein donnerndes Krachen die nächtliche Ruhe. Eine neue Explosion, diesmal nördlich vom Dorf. Weiter unten im Tal bemerken die Techniker der Nachtschicht an einer Pumpstation einen starken Druckabfall in der Gaspipeline in Richtung Süden. Hastig drehen sie den Hahn zu. Als die Feuerwehr an der Unglückstelle eintrifft, brennen zwei Pipelines lichterloh. Die Männer können die zwei riesigen Gasfackeln nicht löschen, sie müssen warten, bis der Katastrophenschutz den Gasfluss stoppt. Die russische Pipelinefirma »Kawkastransgas« schickt eilig ein Ingenieurteam an die Brandherde. Zuerst glauben die Männer, dass sie schnell provisorisch etwas reparieren können. Doch die Explosion war so stark, dass selbst der Tunnel zerstört ist, in dem die Leitungen liegen. Eines der Bombenlöcher hat einen Durchmesser von einem Meter.1

Gut 100 Kilometer weiter südlich und einige Stunden später erwartet den georgischen Staatspräsidenten Michail Saakaschwili ein arbeitsreicher Sonntag: Ein neues Gaskraftwerk, gebaut mit georgischem und russischem Geld und mit amerikanischer Technik, soll heute feierlich den Betrieb aufnehmen. Doch der Tag beginnt mit einem Schock für den Präsidenten: Durch die russischen Gasleitungen strömt kein Gas mehr nach Georgien. Die Hiobsbotschaft trifft mitten in einem ungewöhnlich kalten georgischen Winter ein. In der Hauptstadt Tiflis, die auf einem südlicheren Breitengrad liegt als Florenz, werden an diesem Tag Minustemperaturen von 5 Grad gemessen. Den ganzen Tag über bekommt die georgische Regierung »von den Kollegen aus Moskau keine Antwort auf die Frage, was passiert ist mit der Gasleitung«, klagt Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse.2 Erst später wird bekannt, dass eine Explosion hoch oben in den Bergen die Pipeline beschädigt hat – und eine zweite Bombe die parallel verlaufende Ersatzleitung.

Michail Saakaschwili und seine Landsleute müssen nicht nur verkraften, dass sie ohne Gas nicht mehr heizen können. Am Tag vor den Explosionen an der Pipeline bei Nischni Lars hatte plötzlich die Spannung im georgischen Stromnetz rapide abgenommen. Es habe eine »Havarie« an einer Hochspannungsleitung gegeben, hieß es aus Russland. Später stellte sich heraus, dass in Karatschajewo-Tscherkessien, hoch oben in den Schluchten des Kaukasus, mehrere Bomben in die Luft gegangen waren. Unbekannte hatten insgesamt acht Sprengkörper an zwei Strommasten angebracht und damit erstaunliche Sachkenntnis bewiesen – waren die Punkte doch so gewählt, dass die einstürzenden Träger die Leitung auf zwei Kilometern Länge zu Boden rissen und eine schnelle Reparatur nicht möglich war: Es ist die Hochspannungsleitung, die Georgien mit russischem Strom versorgt. Die Täter waren nicht nur fachkundig, sondern auch gründlich. Insgesamt findet die Miliz später zwölf Kilogramm Sprengstoff.

Die Vorräte in den georgischen Gasspeichern reichen für einen Tag. Weil Moskau genau drei Wochen zuvor den Ukrainern den Gashahn zugedreht hatte und allen die Folgen noch vor Augen sind, geht nun in Tiflis die Angst um. Die Energieversorger warnen, dass sie die Hauptstadt nur noch für wenige Stunden mit Strom und Gas versorgen können. Per Ukas ordnet Präsident Saakaschwili an, dass die Schüler und Studenten zu Hause bleiben sollen. Die Energie, die so an den Schulen und Universitäten eingespart werde, solle für »lebenswichtige andere Objekte« verwendet werden. Die Menschen beginnen sofort, Gasballons und Brennholz zu kaufen. Die Preise für den Kubikmeter Holz steigen auf 70 Lari, rund 27 Euro. Die Forstverwaltungen erhalten die Genehmigung, mehr Bäume zu fällen. In den Gebirgsregionen Georgiens hat es bis zu minus 15 Grad. Die Behörden versuchen, die Menschen mit Brennholz zu beliefern; vielerorts kommen sie nicht weiter, weil die Bergstraßen völlig verschneit ist.

‘Nicht politisieren‘

Die Reparaturen werden zwei bis vier Tage für die Gaspipeline und eine Woche für die Stromleitung in Anspruch nehmen, heißt es aus Moskau. Die russische Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen wegen »vorsätzlicher Sachbeschädigung« auf. »Gott sei Dank gibt es keine Opfer und auch keine ernsthaften Schäden für die Umwelt«, sagt der Vizegeneralstaatsanwalt. Inoffiziell werden Extremisten als Drahtzieher verdächtigt. Doch offiziell werden zunächst keine Ermittlungen wegen Terrorismusverdachts aufgenommen. Die Reparaturarbeiten laufen auf Hochtouren, versichert Gasprom in Moskau und fordert Georgien auf, die Ereignisse »nicht zu politisieren«.

In Tiflis erscheint Präsident Saakaschwili zu einer eilig einberufenen Pressekonferenz und vergisst jede staatsmännische Zurückhaltung. Er beschuldigt Moskau, selbst hinter den Explosionen zu stecken, spricht von Sabotage auf höchster Ebene und Erpressung. Die offiziellen Erklärungen Russlands seien »nicht überzeugend und widersprüchlich«. Moskau wolle Georgien offenbar zwingen, auf die Forderungen des Kreml einzugehen, alle georgischen Gasleitungen russischer Kontrolle zu unterstellen, empört sich der Staatschef: »Wir haben wiederholt Drohungen von russischen Amtsträgern erhalten, dass man uns das Gas abschalten wird, dass mit den Stromleitungen etwas passieren kann und dass wir im Winter bei eisigem Frost vor Kälte steiffrieren werden.«3

Doch Russland habe sich verrechnet, schimpft der heißblütige Staatschef: »Die Erwartungen derjenigen, die das inszeniert haben, haben sich nicht erfüllt. Wenn so etwas noch vor einem Jahr passiert wäre, würde bei uns heute kein Licht mehr brennen. Doch das ist nicht eingetreten, weil wir uns auf so eine Entwicklung vorbereitet haben.« Tatsächlich hat Georgien seine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gezielt verringert und alternative Versorgungswege, etwa über die Nachbarländer Türkei und Aserbaidschan, aufgebaut, die jetzt in der Krise die Rettung bringen. »Ich glaube, die Welt muss aufwachen und auf so ein Verhalten reagieren. Gestern traf es die Ukraine, heute Georgien, und morgen kann es jedes Land treffen, an das Russland Gas und Strom verkauft«, mahnt Saakaschwili: »Russland macht mit uns das Gleiche, was es mit Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren machte. Es bestraft uns dafür, dass wir frei sein wollen.«

Das russische Außenministerium bezeichnet die Anschuldigungen als »Hysterie« und »Willkür«: »Praktisch alle Mitglieder der obersten Führung Georgiens haben, als ob das untereinander abgesprochen war, die Situation als Gelegenheit genutzt, ihrer antirussischen Kampagne noch eins draufzusetzen«, heißt es in einer offiziellen Erklärung. »In Moskau ist man daran gewöhnt, wie sich die georgische Führung Russland gegenüber verhält. Hier ist eine Mischung entstanden aus Schmarotzertum, Heuchelei und Zügellosigkeit, multipliziert mit einem Gefühl der Straflosigkeit, in der Hoffnung, im Westen Beschützer für die eigene antirussische Linie zu finden.« Georgien wolle durch die Suche nach äußeren Feinden die »Unfähigkeit rechtfertigen, im eigenen Land normale Lebensbedingungen zu schaffen«, unterstellt Moskau dem abtrünnigen Nachbarn – und scheut sich nicht, seine Möglichkeiten zur Vergeltung indirekt zu bestätigen: Wenn Georgien sich entschlossen habe, es sich mit Russland endgültig zu verderben, dann habe man wohl auch alle Konsequenzen bedacht.4

Der Bürgermeister von Tiflis lässt der russischen Botschaft das Gas abdrehen. Vor dem Hauptquartier der russischen Streitkräfte sammeln sich Demonstranten. Die Reparaturarbeiten hoch oben im Kaukasus ziehen sich unterdessen hin; erst nach einer Woche ist die Pipeline wieder in Betrieb. Im Mai 2006 fehlte von den Tätern noch jede Spur. Der russische Geheimdienst FSB äußerte den Verdacht, dass es sich bei den Anschlägen um Sabotage gehandelt habe: »Bestellt vom offiziellen Tiflis.«5

Nach dem Gaskonflikt wird sich das kleine Land im Kaukasus nach Aussagen seiner Führung noch ein Stück weiter von Moskau entfernen und einen noch engeren Schulterschluss mit seinen Nachbarn im Süden, Osten und Westen anstreben. »Noch haben die Europäer das, was uns widerfahren ist, nicht selbst erlebt«, sagt Georgiens Energieminister Nika Gelauri: »Aber mir scheint, Europa beginnt, die Wahrheit zu verstehen.«6

Der militärische Komplex

In der unbekannten Petersburger Fachzeitschrift Notizen der Bergbau-Hochschule erscheint im Januar 1999 ein sehr langer Artikel mit sehr vielen Hauptwörtern und Genitivkonstruktionen wie »Hauptreserve der Verwandlung Russlands« oder »Erhöhung des Lebensstandards der Mehrheit der Bevölkerung«. Der Beitrag findet keine große Resonanz. Zu Unrecht. Der Autor schreibt über Energiepolitik, über die Zukunft Russlands und seiner Wirtschaft. Langatmig und zuweilen etwas monoton finden sich hier viele Argumente dafür, dass Bodenschätze der Hebel sind, mit dem Russland zu alter Größe und neuem Wohlstand kommen kann. Das Potential des Landes an natürlichen Ressourcen wie Öl und Gas weise ihm einen besonderen Platz unter den Industriestaaten zu, heißt es in dem Artikel. Die Entwicklung der rohstoffverarbeitenden Industrie sei »die wichtigste Ressource, um Russland in relativ naher Zukunft zur führenden wirtschaftlichen Großmacht zu machen«.7 Der Autor des 1999 veröffentlichten Artikels ist zu dieser Zeit nur politisch Interessierten ein Begriff. Und so sorgt es kaum für Verwunderung, dass sich da jemand mit dem Thema Rohstoffe befasst, dessen Ausbildung und Beruf ihn nicht als Energiespezialisten qualifizieren. Der Verfasser ist Russlands oberster Geheimdienstler – der Vorsitzende des FSB. Wladimir Putin.

Heute liest sich der Artikel aus der kleinen Fachzeitschrift des Petersburger Bergbau-Instituts, als sei er die Handlungsanweisung für Putins Wirken im Kreml.8 Russland müsse »große, branchenübergreifende Finanz- und Industriekorporationen« schaffen, die in der Lage seien, »auf Augenhöhe mit den transnationalen Korporationen des Westens zu konkurrieren«. Russlands Rohstoffwirtschaft spiele eine wichtige Rolle in allen Lebensbereichen des Staates, heißt es weiter in dem Artikel aus dem Jahr 1999. Unter anderem »ist sie die Grundlage für die Verteidigungsmacht des Landes« sowie die »unbedingte Voraussetzung für die Vervollkommnung des militärisch-industriellen Komplexes« – die unfreiwillige Doppeldeutigkeit und Komik ist wohl nicht beabsichtigt – und schafft »die notwendigen strategischen Reserven und Potentiale«. Mit marktwirtschaftlichen Mechanismen könne man keine wichtigen strategischen Fragen lösen, schreibt Putin und verweist auf die Erfahrungen während der Reformen: Weil der Staat die Rohstoffsphäre »vorübergehend aus der Hand gegeben« habe, sei es in ganzen Wirtschaftszweigen zu Stagnation und Niedergang gekommen.

Auch Putins Doktorarbeit, die er 1997 im Jahr nach seinem Ausscheiden aus der Stadtverwaltung an der Petersburger Bergbau-Hochschule ablegte, liefert Erklärungen für die Entwicklung der russischen Wirtschaft. Warum sich der studierte Jurist und Geheimdienstler Putin, als Vizebürgermeister zuständig für den Außenhandel, plötzlich der Rohstoffproblematik zuwandte, ist nur zu erahnen. Offiziell hatte Putin erstmals durch die umstrittenen Rohstoff-für-Lebensmittel-Geschäfte zu Beginn seiner politischen Laufbahn mit dem Rohstoffsektor zu tun. Außerdem war er 1994 für die Privatisierung der Petersburger Ölgesellschaft PTK zuständig, deren Vorsitz später sein schon erwähnter Datschen-Nachbar Wladimir Smirnow übernahm.

In seiner Doktorarbeit ist viel von einer wichtigeren Rolle des Staates und der Notwendigkeit einer »grundlegenden Umgestaltung der Volkswirtschaft« die Rede.9 Putin, der von seinen Anhängern im Westen als Liberaler betrachtet wird, beschreibt hier, was er unter einer guten Wirtschaftspolitik, vor allem im Energiebereich, versteht: »Die Steuerung durch den Staat entspricht in großem Maße den Erfordernissen Russlands.« Ausländische Investitionen in den russischen Energiesektor sollten erst zugelassen werden, wenn »die Möglichkeit des Staates, die nationalen Interessen zu verteidigen, bestätigt ist«.10

Als Putin Präsident ist, beginnt er diese Positionen umzusetzen. Der Kreml kontrolliert 80 Prozent der Erdgasförderung im Land. Binnen weniger Monate erhöht der Staat seinen Anteil im Ölsektor von 6 auf 35 Prozent, er könnte noch auf 50 bis 60 Prozent steigen. 20 Jahre nach dem Beginn der Perestroika ist der Staat wieder zum wichtigsten Anteilseigner der Branche aufgestiegen – Tendenz steigend.11 Auch die privaten Ölfirmen treffen strategisch wichtige Entscheidungen nur noch nach Rücksprache mit dem Kreml. Fachleute sprechen von einer »Lukoilisierung«: Der Ölkonzern Lukoil ist in privater Hand, verfolgt aber staatliche Interessen.12

»Egal, in wessen Besitz sich Rohstoffe befinden, der Staat hat das Recht, den Prozess ihrer Förderung und Nutzung zu regulieren«, stand schon in Putins Doktorarbeit. Dass der spätere Präsident das sehr ernst meinte, bekam Yukos-Chef Michail Chodorkowski zu spüren, als er sich mehrfach gegen Anweisungen des Kreml stellte. Gegen den Willen Moskaus wollte er einen US-Konzern zum Miteigentümer von Yukos machen und in Eigenregie eine Pipeline nach China bauen. Heute sitzt er im Gefängnis.

Das Buch, in dem ich – leider – schon 2006 alles vorhersage, in aktualisierter und erweiterter Ausgabe von 2018.

Putin kann mit seiner Position auf die Unterstützung der meisten Russen rechnen. Die oft mit zwielichtigen Methoden betriebene Privatisierung der Jelzin-Zeit wird von den Menschen zu Recht als Raub der russischen Naturschätze verurteilt. Und sie haben allzu gut in Erinnerung, wie die neuen Eigentümer Russlands Reichtum für ihre persönlichen Zwecke ausbeuteten, wie sie sich kaum um soziale Belange kümmerten, mit dubiosen Steuersparmodellen den Staat um seinen Anteil brachten und oft kaum etwas von ihren gigantischen Gewinnen in die Produktion investierten, die zum großen Teil immer noch von der alten Substanz und den Erkundungen aus sowjetischen Zeiten zehrte.13 Weil der Übergang zur Markwirtschaft im Fiasko endete, sehnen sich die Russen – und mit ihnen Wladimir Putin – zurück nach den alten Rezepten aus der Sowjetzeit: Der Staat soll es richten.

Wie die meisten Vorwürfe an seine Adresse weist Putin auch die Kritik an seinem Verstaatlichungskurs mit dem Argument zurück, er tue nichts anderes als der Westen. Auch dort gäbe es Beispiele für staatliche Einmischung im Rohstoffsektor, sagt der Präsident und verweist etwa auf Norwegen, wo bei einem staatlichen Öl- und Gasmonopol effektives Wirtschaften möglich ist.14 Dass dort eine völlig andere Staatskultur herrscht, lässt Putin außen vor. In Norwegen ist Korruption eine Ausnahme, und es ist nichts über Staatsdiener bekannt, die sich am staatlichen Eigentum vergreifen. Tatsächlich schaffte der russische Ölsektor nach der Privatisierung ein kleines Wirtschaftswunder. Stand die Branche Anfang der neunziger Jahre noch vor dem Ruin und benötigte ständige Finanzspritzen, so erhöhte sich die Ölförderung, die zuvor rückläufig gewesen war, in den vergangenen zehn Jahren im Wesentlichen dank der privaten Konzerne um 50 Prozent. Im Jahr 2003 stieg sie um 9, im Jahr 2004 um 11 Prozent. Dann kehrte sich der Trend um: 2005 legte die Ölförderung nur noch um 2,4 Prozent zu und für 2006 erwarten Fachleute erstmals ein Sinken. Der Hintergrund: Bei den privaten Konzernen stieg die Ölförderung zwischen 2001 und 2004 dreimal so stark an wie bei der staatlichen Konkurrenz. Nahm 2004 die private TNK-BP pro Beschäftigtem 171000 Dollar ein, so war es bei der staatlichen Rosneft nur die Hälfte.15 Solche Zahlen belegen nach Ansicht von Fachleuten, dass private Konzerne weitaus effizienter sind als die staatliche Konkurrenz.

Russlands Regierung wirft derweil den privaten Firmen vor, sie seien nicht effektiv – und überlegt im Mai 2006 laut, westlichen Firmen die bereits unterzeichnete Mehrheitsbeteiligung an gigantischen Öl- und Gasfeldern auf der Insel Sachalin im Nordpazifik wieder zu entziehen: Die Ausländer trieben die Kosten und verzögerten das Projekt, kritisiert das Ministerium für Bodenschätze unter Berufung auf Forscher. Die schlagen vor, den Anteil russischer Firmen an dem Milliardenprojekt auf 51 Prozent zu erhöhen – dabei würde eine nachträgliche Änderung der Anteilsverhältnisse gegen das russische Gesetz verstoßen. Exxon Mobil hat bisher knapp 4 Milliarden Euro in das Projekt investiert, Royal Dutch Shell mit seinen Partnern mehr als 16 Milliarden Euro. Sollte Russland die Verträge tatsächlich revidieren, bedeute das »Krieg«, zitiert das Wall Street Journal den Manager eines Energiekonzerns. Die beiden Projekte, Sachalin-1 und -2, gelten im Kreml als strategisch wichtig, weil sie unweit von energiehungrigen Volkswirtschaften wie China, Indien und Japan liegen; Gasprom hat bereits Interesse an den Projekten bekundet.16 Im Juni 2006 werden Pläne bekannt für ein Gesetz, das Ausländern die Mehrheitsbeteiligung an wichtigen russischen Öl- und Gasfeldern generell verbieten soll.

Angesichts drohender Vertragsbrüche und Skandale wie der Zwangsversteigerung der Yukos-Tochter Yuganskneftegas überlegen sich westliche Ölkonzerne mehrmals, ob sie in ihre Produktion in Russland investieren wollen und bringen ihr Geld lieber im Ausland in Sicherheit.17 Die Arbeit im Ölgeschäft sei so gefährlich geworden wie das Dealen mit Drogen, schreibt Russki Newsweek im Hinblick auf die Yukos-Affäre.18 In Wirklichkeit gehe es dem Kreml gar nicht darum, ob eine Firma staatlich sei oder nicht, zitiert das Blatt einen hochrangigen Gesprächspartner: »Es geht darum, wie die Geldströme zu lenken sind, in Richtung Präsidentschaftswahl und ferne Zukunft.«19

Experten klagen, dass sich unlogische, undurchdachte Entscheidungen und Korruption häufen, seit aufgrund der Verstaatlichung nun Beamte statt Manager in den Konzernzentralen sitzen. So zahle die Yukos-Tochter Yuganskneftegas nach dem Wechsel zum staatlichen Rosneft-Konzern das Zehnfache für ihre Einkäufe, lässt der inhaftierte Michail Chodorkowski über seine Anwälte verkünden und deutet damit einen Korruptionsverdacht an. Fachleute warnen vor einer »Venezualisierung« Russlands: In dem ölreichen südamerikanischen Staat sank das Bruttoinlandsprodukt infolge der Verstaatlichungen von 1977 bis heute um 40 Prozent.

»Solange die Energiekonzerne vom Staat kontrolliert werden, werden Gas und Strom als politische Waffe genutzt«, warnt der frühere Präsidentenberater Andrej Illarionow.20 Der Präsident würde das sicher anders ausdrücken. Mit Öl und Gas sei es wie mit Süßigkeiten, sagte Putin am Rande des EU-Russland-Gipfels im Mai 2006, wo es um Energielieferungen nach Europa ging, vor russischen Journalisten: »Man kann das leicht verstehen, wenn man an die Kindheit zurückdenkt. Stell dir vor, du gehst in den Hof, hast ein Bonbon in der Hand, da sagt dir jemand: ›Gib das Bonbon her‹. Du hältst es ganz fest in der Hand und sagst: ›Was bekomme ich dafür?‹ Genauso wollen wir wissen [von Europa]: Was bekommen wir von euch?«21

Auf dem Hinterhof in Sankt Petersburg lernte der kleine Wolodja Putin, dass nur der Starke Recht hat. Jahre später, im Kreml angekommen, musste er feststellen, dass Russland nicht stark war. Nach der Geiseltragödie in Beslan trat Wladimir Putin 2004 schockiert vor die Fernsehkameras: »Wir haben Schwäche gezeigt. Und Schwache werden geschlagen.« Weder Russlands Armee noch seine Wissenschaft oder Wirtschaft können das Land auf absehbare Zeit stark genug machen, um zu einem bestimmenden Machtfaktor in der Weltpolitik zu werden. Wladimir Putin hat nur eine einzige Waffe im Kampf um Stärke und eine Weltmachtposition: die gewaltigen Energievorkommen Russlands.

Auszug aus dem Buch: „Putins Demokratur: Was sie für den Westen so gefährlich macht„, erweitertere und aktualisierte Neuauflage 2018, Ullstein Verlag Berlin, 12,99 Euro.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Quellen:

  1. Swobodnaja Grusia, 24.1.2006
  2. Nowye Iswestia, 10.4.2006
  3. www.newsru.com, 22.1.2006
  4. Webseite des russischen Außenministeriums, Erklärung 68–22–01–2006, www.mid.ru/brp_4.nsf/sps/639DBEB9537CBDD8C3 2570FF002A9904
  5. www.newsru.com, 24.1.2006
  6. Newsweek, 2.5.2006, »Partner, or Bully?«
  7. Zapisi gornogo instituta, 199, T. 144 (1)
  8. Der Beitrag weist in weiten Teilen Parallelen zu Wladimir Putins Doktorarbeit auf, mit der er 1997 an der Petersburger Bergbau-Hochschule promoviert wurde.
  9. Welt am Sonntag, 19.2.2006, »Kreml setzt auf Staatskapitalismus«
  10. Matra Olkott, »Wladimir Putin i neftjanaja politika Rossii«, Kommersant, 2.2.2006
  11. Wladimir Milow, Präsident der Hochschule für Energiepolitik und früherer Vizeenergieminister, Bolschaja Politika, Prognos 2006
  12. Der Tagesspiegel, 28.4.2006, Alexander Rahr, Interview, »Es gibt keinen Anlass, an Moskaus Loyalität zu zweifeln«
  13. Aus einem Interview des Autors mit Jewgeni Primakow, Ex-Ministerpräsident und Vorsitzender der Industrie- und Handelskammer
  14. Auf der Pressekonferenz im Kreml am 31.1.2006
  15. Welt am Sonntag, 7.8.2005
  16. The Moscow Times, 26.–28.5.2006, »State May Squeeze Sakhalin Majors« sowie Financial Times Deutschland, 26.5.200
  17.  Russki Newsweek, Nr.22/2005, 20.–26. Juni, »Gosudarstwennaja dobytscha«
  18. Ebd.
  19. Ebd.
  20. Im Gespräch mit dem Autor
  21. Westi, 25.5.2006

Bild: Shutterstock
Text: br

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